# taz.de -- Fußballtrainer Volker Finke: "Der alte Kauz ist gnadenlos" | |
> Er glaubt nicht nur an die Schönheit, sondern auch an die Überlegenheit | |
> des Kombinationsfußballs: Volker Finke, Excoach des SC Freiburg, erklärt | |
> warum Spanien die EM gewonnen hat. | |
Bild: Lokal verhaftet, international denkend: Volker Finke | |
Zehn Uhr früh. Der klassisch-sonnige Morgen in Freiburg. Volker Finke geht | |
die Straße herunter. Koffer in der Hand. Er kommt direkt vom Bahnhof. Die | |
Nacht hat er in Zürich verbracht. Abschlusstermin als EM-Experte des | |
Schweizer Fernsehens. Er sieht richtig gut aus. Viel besser als bei unserem | |
letzten Treffen. Das war vor einem Jahr bei seiner Abschiedsfeier als | |
Trainer des SC Freiburg. Wir gehen in sein Büro. Er schaltet die | |
Kaffeemaschine an. | |
taz.mag: Herr Finke, die Fußball-EM hat keinen Helden hervorgebracht. | |
Cristiano Ronaldo ist es nicht, Michael Ballack ist es auch nicht. Das ist | |
sicher eine gute Nachricht für Sie. | |
Volker Finke: Eine sehr gute Nachricht. Aber es gibt ja viele Helden. Und | |
zwar nicht im Sinne einer Gleichmacherei. | |
Sondern? | |
Es waren kleine Gruppen, die mit den Möglichkeiten des Fußballs etwas | |
Wunderbares hingekriegt haben. Die technisch und tempomäßig in einem | |
Kollektiv Spielsituationen aufgelöst haben, die dann zu Torchancen geführt | |
haben. Es war auffallend, dass es nicht den einen gab, der das ganz allein | |
kreiert hat. Das hat dann teilweise sehr gute Spiele gebracht, da waren | |
sich alle Fachleute dann doch einig. Und das fand ich persönlich auch. Es | |
war eine gute EM. Kombinationsfußball, Rhythmuswechsel, Tempowechsel, | |
Zielorientierung: Das haben die Russen und die Holländer teilweise | |
vorgeführt. Und die Spanier während des ganzen Turniers. Fast jede | |
Mannschaft, die nach Hause fahren musste, sagte am Ende: Die beste | |
Mannschaft hat gewonnen. Das finde ich erfreulich.Weil es ganz selten so | |
ist. | |
Ballbesitzfußball hat One-Touch-Fußball abgehängt? | |
Es ist nie so, dass nur eine Sache gut ist. Bei der WM 2006 war zum | |
Beispiel die Spielweise der Deutschen ein Schlüsselerlebnis: | |
Offensivpressing spielen, wenn der Gegner den Ball hat, sind wir stark, | |
weil wir das suuuuper können, den Gegner jagen. Und wenn wir ihn haben - | |
dann gehts ab, hohes Tempo, zwei, drei Stationen zum gegnerischen | |
Sechzehner, möglichst mit ein, zwei Kontakten. Diese Spielweise galt | |
plötzlich als die modernste Entwicklung. Und bei dieser EM hat sich nun | |
wieder die andere Fußballphilosophie durchgesetzt. Die sagt: An jeder | |
Stelle des Platzes ist auch für uns der Ballbesitz die beste Defensive. An | |
jeder Stelle des Platzes können wir uns frei kombinieren. | |
Die Spanier hatten seit 1964 nichts gewonnen. | |
Im K.-o.-System ab Viertelfinale bist du mit dieser Spielweise immer | |
anfällig. Ein Beispiel: Spanien führt 1:0 im EM-Finale, und der | |
Innenverteidiger Puyol ist sich zu schade, den Ball ins Aus zu kloppen. Er | |
geht das Risiko ein, die Linie runterzuspielen, um den Ballbesitz zu | |
wahren. Dadurch kommt die einzige Torchance in der zweiten Halbzeit für | |
Deutschland zustande, durch Ballack. Mit dieser Einstellung zum Fußball | |
kannst du jederzeit ausscheiden. Aber auf der Strecke sind die Spanier | |
immer gut: weil sie ein Konzept haben, eine Spielidee, und etwas | |
durchsetzen können. Die sind jetzt seit 22 Spielen ungeschlagen. Die haben | |
mit dem 1:0 im EM-Finale gegen Deutschland das zwölfte Länderspiele | |
hintereinander gewonnen. Würde die EM in einer Liga mit den acht besten | |
Mannschaften ausgetragen, würde Spanien auch mal ein Spiel verlieren, aber | |
in der Summe wären sie immer vorn dabei und oft ganz vorn. | |
Für den Kapital- und Emotionsmarkt könnte eine gerechte Euroliga | |
verheerende Folgen haben, etwa wenn die Deutschen früh abgeschlagen nur um | |
Platz fünf oder sechs spielten. | |
Ja, finde ich auch. Deswegen bin ich kein Anhänger dessen, was ich gesagt | |
habe. Die sollen das Turnier so lassen. Mit diesem Rhythmus alle zwei Jahre | |
EM und WM - irgendwie hat sich das bewährt. | |
Das heißt aber, dass selbst mit Spanien nicht die Gerechtigkeit oder Moral | |
gesiegt hat, sondern letztlich auch eine Turnierlaune. | |
Es ist keine Frage der Moral. Es ist eine nüchterne Sache. Es gibt einfach | |
Unterschiede in den Spielkulturen zwischen Nordeuropa und dem | |
Mittelmeerraum. Wir Deutsche liegen ja im Norden, finde ich, und wir haben | |
dann diese Tugenden zum Mythos erklärt. Es gab immer wieder Versuche, das | |
aufzubrechen, und zwar dann, wenn es eine bestimmte Generation von Spielern | |
gab. | |
Die Europameistermannschaft von 1972? | |
Die war das meiner Meinung nach Innovativste, was aus dem deutschen Fußball | |
gekommen ist. Wie Beckenbauer sich vor den Manndeckern positionierte, | |
durchs Mittelfeld marschierte und dann ab und zu sogar Rambazamba mit | |
Günter Netzer und Gerd Müller spielte - ja! | |
Rambazamba - ist das nicht übertrieben? | |
Nein, es war gegenüber anderen Spielauffassungen ein echter Systemvorteil. | |
Damals passierte das Gegenteil von dem, was mit den deutsche Tugenden | |
beschrieben wird. Netzer, Beckenbauer, auch Overath: Das waren ja | |
Kombinationstore - das war super. Das war ein Fußball, mit dem Deutschland | |
plötzlich führend war. In einer bestimmten Phase bist du mit der Art, als | |
Mannschaft ein Spiel anzupacken, tatsächlich anderen überlegen. | |
Sie haben mit dem Fußball des SC Freiburg in den Neunzigerjahren den FC | |
Bayern München mehrfach deklassiert. Das heißt, vereinfacht gesagt: mit | |
Ballbesitz und Überzahl in Ballnähe. | |
Der damalige Bayern-Spieler Alain Sutter sagte nach so einem Spiel, er habe | |
neunzig Minuten lang das Gefühl gehabt, der Gegner sei ein Mann mehr auf | |
dem Platz gewesen. Das sind diese Dokumente von etwas, von dem du sagen | |
kannst: Ey, die spielen anders. Ich finde, dass die Spanier schon immer von | |
der Idee her so gespielt haben, wie sie jetzt spielen. Den Unterschied hat | |
der Trainer gemacht. Das ist doch ein Phänomen gewesen, wie diese Topstars | |
sich haben ein- und auswechseln lassen. Das ist denen nicht leichtgefallen. | |
Was war die Hauptleistung von Trainer Luis Aragonés? | |
Der alte Kauz ist in bestimmten Sachen gnadenlos. Im Ergebnis steht, dass | |
die Spieler ganz viele Freiheiten haben, dass sie befreit sind von Zwängen, | |
die teilweise auch aus den Vereinen kamen. Die spielten nur die Viererkette | |
als feste Position. Und er hat seine Aufgabe als Nationaltrainer nicht | |
darin gesehen, die elf besten Spieler von Spanien aufzustellen, sondern die | |
elf, die am besten zusammenspielen. Das führt dazu, dass ganz gute Spieler | |
entweder mal warten mussten, gar nicht mitgenommen wurden oder zu einem | |
bestimmten Zeitpunkt ausgewechselt werden, sodass ein Außenstehender sagt: | |
Was macht der denn? | |
Der Druck auf ihn war groß, sich zu erklären und sich zu ändern. | |
Aragonés Leistung war es, schweigen zu können, ein Geheimnis zu bewahren. | |
Ich glaube, Transparenz hätte alles kaputt gemacht. Durchhalten kann man so | |
etwas nur, wenn die Spieler merken, dass der Trainer sie auch schützt. Die | |
haben Frust, die sind enttäuscht, die haben Auseinandersetzungen - das | |
Entscheidende ist: Es darf nicht nach draußen. Und diese berühmte | |
traditionelle Tabuzone, die im Fußball überlebenswichtig ist, um eine | |
Philosophie durchzusetzen, die darfst du nicht verletzen. Das ist meine | |
innerste Überzeugung. | |
Sie schimpften ihn beratungsresistent. | |
Das Gegenmodell ist dort, wo alles weichgespült ist, wo alles beraten ist, | |
wo alles aufbereitet wird. Da gibt es kein "Ich nehme das auf meine Kappe". | |
Das ist immer eine Gruppenentscheidung. Bis hin zur Sekretärin ist jeder | |
beteiligt. | |
Sie selbst machen als Trainer bestimmte Dinge zum Ärger anderer auch nicht. | |
Wenn Sie auf meine Medienarbeit anspielen: Ich bin ja in meinem Leben nicht | |
nur unfreundlich gewesen gegenüber Journalisten. Aber ich weiß, woher unser | |
Erfolg kam. Dass es einen geschützten Bereich gibt, von dem die Spieler | |
ganz genau wissen: Da kommt nie etwas nach draußen. | |
Nie? | |
Nein. Nie. Das führt dazu, dass du eine Einheit auf dem Platz wirklich | |
hinkriegst. Das ist etwas anderes als inszeniertes Teamwork, das nach | |
draußen mit Positivmeldungen verkauft wird. Da hab ich manchmal das Gefühl, | |
je mehr darüber transportiert wird, desto größer ist die | |
Wahrscheinlichkeit, dass manche Leute sich morgens nicht mal grüßen, wenn | |
sie sich sehen. | |
Reden Sie von Oliver Bierhoff? | |
Ich schwärme von Aragonés. | |
Warum ist es denn besser, wenn die Spanier mit sieben wieselig | |
kombinierenden Leuten ein Tor schießen, als wenn ein omnipotenter Michael | |
Ballack das Ding einfach in den Winkel hämmert? | |
Weil mehr Spieler für das Tor verantwortlich sind. Das Ziel ist es, mit | |
diesen Spielern immer und an jeder Stelle des Platzes am Ball zu bleiben. | |
Deswegen habe ich nur technisch gut ausgebildete Spieler auf allen | |
Positionen. Nicht jeder Manndecker muss heutzutage 1,93 Meter groß sein. | |
Spielen Sie mal schön. Der Gegner ist sortiert. | |
Nicht mehr lange. Wenn man auf der Seite den Mut hat, zwei, drei, vier | |
Stationen zu spielen, und eine Überzahl sucht, zieht man automatisch ein | |
oder zwei Spieler des Gegners aus der Mitte nach außen, sonst spielen wir | |
die Überzahl bis zur Grundlinie. Also wird der Gegner versuchen, uns zu | |
stören, und das sind dann die Momente, wo plötzlich Löcher aufgehen. Und | |
wenn wir dann mit ein oder zwei Pässen auf die andere Seite kommen, ist da | |
der Raum für zwei gegen zwei oder eins gegen eins. Und das nutzt ein guter | |
Dribbler. Sagen wir: Cristiano Ronaldo kommt auf dich zu, eins gegen eins - | |
was willst du tun? | |
Eine Kerze anzünden? | |
Zu spät. Du musst dich ihm stellen, du versuchst, ihn nach draußen | |
wegzuschieben und nach innen zuzumachen, du versuchst, das Spiel zu | |
verlangsamen, in der Hoffnung, dass Mitspieler kommen und dir helfen. Das | |
ist dann schöner Fußball, das fasziniert die Spieler, die finden das super. | |
Ein Spieler fühlt sich immer wohler, wenn die eigene Mannschaft den Ball | |
hat. Und dann läuft er auch gern und viel. | |
Die Russen wurden wegen großer Laufarbeit umgehend des Dopings verdächtigt. | |
Quatsch, die feinmotorischen, spieltechnischen und -taktischen | |
Anforderungen kann man erfreulicherweise nicht durch erhöhte | |
Hämatokritwerte verbessern. Eher im Gegenteil. Wie Russland Fußball | |
gespielt hat, das bringt automatisch solche Laufleistungen mit sich. Das | |
ist Spielfreude. Wenn man an allen Stellen des Platzes in der Nähe des | |
Balls Überzahl schaffen will, müssen sich alle bewegen. Da kommen hohe | |
Kilometerzahlen zusammen, vor allem auch für die Außenbahnspieler. | |
Herr Finke, waren Sie für Deutschland bei dieser EM? | |
Das ist für mich nicht zu beantworten. | |
Ist das die historische Unentspanntheit eines Achtundsechzigers? | |
Es ist der Blickwinkel eines Trainers. Ich frage nicht so sehr nach der | |
Nationalität, sondern ich schaue: Was passiert mit bestimmten Leuten in | |
einer bestimmten Konstellation? | |
Sie weichen dem Heimatthema aus, oder? | |
Ja, ich weiche aus. Aber mein Blick ist eben auch nicht deutsch-patriotisch | |
bei so einem Turnier. Ich freue mich, wenn Deutschland gut spielt. Ich | |
freue mich, wenn Deutschland gewinnt. Und wenn Deutschland dreimal schlecht | |
spielt und weiterkommt, freue ich mich immer noch. | |
Wann freuen Sie sich nicht mehr? | |
Wenn der Fortschritt der WM dieses Mal auf dem Platz nicht eingelöst werden | |
kann und dann so getan wird, als sei der Rückschritt ein weiterer | |
Fortschritt, als sei es eine besondere Stärke, schlecht zu spielen - | |
womöglich einen ganz klaren Chancennachteil zu haben und trotzdem zu | |
gewinnen. | |
Das alte "Scheiße spielen und gewinnen" wird als moderne "Effizienz" | |
verkauft? | |
Ich freu mich über jeden Erfolg, weil das für den deutschen Fußball gut | |
ist, weil die Vereinsmannschaften es dann leichter haben im internationalen | |
Spielertransferbereich, aber meine Freude wird auch bestimmt durch den | |
Fußball, den das Team spielt. Und ich finde es etwas respektlos gegenüber | |
einem Gegner, der gut Fußball gespielt hat, zu sagen, wir Deutschen hätten | |
halt das Siegergen. Das sei eben was ganz Besonderes oder gar etwas | |
besonders Deutsches. | |
Vor zehn Jahren hieß es im Zuge des ökonomischen und sportlichen Aufstiegs | |
der Champions League, dass Nationalmannschaften verschwänden. Wie deuten | |
Sie die allgemeine Anteilnahme am DFB-Team? | |
Ich glaube, dass dieser Hype um die Nationalmannschaften vor allem damit zu | |
tun hat, dass sich mit der Globalisierung und der EU die Grenzen eigentlich | |
aufgelöst haben. In der Schweiz ist mir das aufgefallen, dass die | |
Autokorsos und die meisten Straßengeschichten von denen gemacht werden, die | |
in der zweiten und dritten Generation in dem Land leben. Das sind die, die | |
offenbar das Gefühl brauchen: Jetzt kommt etwas, was uns von allen anderen | |
Menschen unterscheidet. Der Dialekt sprechende und in der Schweiz geborene | |
Oberberner mit türkischem Hemd - völlig aufgesetzt. Aber es gibt dieses | |
Bedürfnis. | |
Das Einbürgerungsrecht spielt mittlerweile eine wichtige Rolle für die | |
Qualität eines Nationalteams. | |
Richtig. Im Kader der Schweizer waren dreizehn Secondos … | |
… Einwandererkinder … | |
… was für die Schweiz eine Revolution ist, auf dem Platz waren von denen in | |
der Regel sieben. Für Deutschland ist das auch relevant, zumindest wenn man | |
die polnischen Spätaussiedler auch zu den Secondos rechnet. | |
Der Umgang auf dem Platz war auffallend freundschaftlich … | |
Das sind fast alles internationalisierte Spieler. Ganz viele kennen sich | |
aus den Vereinen oder ihrer Liga. Es gab so gut wie keine bösen Fouls. Das | |
ist ein Zeichen, dass die Spieler nicht den dreckigen Sieg suchen. Die | |
respektieren sich. Es passiert also etwas Seltsames: Internationalisierung | |
im gesamten Profifußball und gleichzeitig die neue Sehnsucht nach einer | |
Nationalmannschaft. Es ist ja unglaublich, wer alles sich, völlig | |
unabhängig von Alter, Beruf und Schicht, etwas auf die Backe malt und durch | |
die Stadt rennt. Public Viewing befriedigt offensichtlich auch Defizite | |
oder Bedürfnisse. Natürlich ist das positiv - irgendwo. Aber nur ein Teil | |
nimmt wahr, dass der große Unterschied vor allem darin liegt, dass da | |
unterschiedliche Fußballphilosophien aufeinandertreffen. | |
Kapiert: Sie identifizieren sich nicht mit einem Land oder Team, sondern | |
mit einem bestimmten Fußball. Wird Spaniens Erfolg Einfluss auf deutsche | |
Trainer und Klubs haben? | |
Es werden sich wieder mehr Vereinstrainer darum kümmern, wie Spanien | |
spielt. Da bin ich ganz sicher. Grundsätzlich finde ich, dass wir in | |
Deutschland einen richtigen Weg gehen, seit es zur Auflage gemacht wurde, | |
dass die Profifußballvereine ein Nachwuchsleistungszentrum einrichten und | |
einen Teil des Geldes in eine möglichst gute Ausbildung stecken. Vieles ist | |
im Detail strittig, aber diese Nachwuchsarbeit ist ein Schritt nach vorn | |
gewesen, das hat die WM 2006 schon gezeigt und danach eine sehr gute | |
EM-Qualifikation mit dem Höhepunkt des 2:1 in Tschechien. Klinsmann und Löw | |
hatten den Mut, die Jungen wie Podolski, Schweinsteiger, Lahm, Mertesacker | |
und so weiter zu bringen - das hat dem deutschen Fußball gutgetan. | |
Was halten Sie von Lukas Podolski? | |
Podolski ist ein glänzender Spieler, um bei eigenem Ballbesitz von der | |
Halbposition das Tempo zu wechseln. Er hat einen Instinkt dafür, wann der | |
Gegner verletzlich ist, wann er im Stellungsspiel einen kleinen Fehler | |
macht, wann sich ein kleiner Raum auftut, sodass die Laufwege in der Mitte | |
möglich sind, um die gegnerische Mannschaft auszumanövrieren. Das hat ihm | |
nie ein Trainer beigebracht. Da dürfen wir uns auch mal nicht überschätzen | |
als Trainer. Dafür kann ich kein Programm entwickeln. Podolski hat die ganz | |
große Begabung, räumlich zu antizipieren | |
… einen Blick für das gesamte Spielfeld zu haben, nicht nur für den | |
unmittelbaren Raum um sich herum … | |
… ja, doch vor allen Dingen ist da seine herausragende Schusstechnik mit | |
dem linken Fuß. Er ist eine besonders positive Qualität der | |
Nationalmannschaft. | |
Kleine Stürmer, die kaum Tore schießen, gelten seit der EM einer | |
interessierten Öffentlichkeit etwas. Sie wurden stets dafür kritisiert, | |
dass Sie diesen Spielertyp einem langen, kopfballstarken Keilstürmer | |
vorzogen. | |
Es gab eine Angst vor kleinen Spielern, das war so. Wenn ich diese Spieler | |
vom Typ Alexander Iashvili … | |
1,69 m, knapp dreihundert Erst- und Zweitligaspiele, 54 Tore … | |
… bestimmten Leuten im Verein vorgestellt hab, konnten die nicht an sich | |
halten vor Enttäuschung. | |
Schon wieder so ein Zwerg? | |
Ich musste tatsächlich auch die Erfahrung machen, dass wir bei Ecken und | |
Freistößen nicht genügend Spieler hatten, um die Länge des Gegners | |
kompensieren zu können. Wir hatten immer die kleinste Mannschaft in der | |
Bundesliga. Die ganze Kritik, das knappe Budget: Manchmal hat man nicht die | |
Ausdauer, die dazugehört, damit jeder sieht: Dieses Spielkonzept, diese | |
Philosophie bringt auf die Dauer Erfolg. | |
Die Frankfurter Allgemeine Zeitung hat mal über Ihre Personalpolitik | |
geschrieben, es werde ein ewiges Geheimnis bleiben, warum dieser | |
beratungsresistente Trainer nie einen Torjäger verpflichtet. | |
Mit dieser Philosophie, die auch die Spanier haben, ist es uninteressant, | |
ob der Stürmer in der Ballstafette, die zum Torerfolg führt, an zweiter, | |
elfter oder vierzehnter Stelle steht. Diese Spielauffassung ist losgelöst | |
von dem Heroenfußball der Einzelnen. Die Verteilung der Tore auf viele | |
verschiedene Spieler aus allen Mannschaftsteilen ist eigentlich ein Hinweis | |
auf eine bestimmte Spielweise. Interessant ist, dass defensive | |
Mittelfeldspieler wie Bajramovic, Kobiashvili, Todt oder Kehl - alle sind | |
Nationalspieler geworden - bei ihren späteren Vereinen nie wieder so viele | |
Tore geschossen haben. Zudem führt die Spielweise zu ganz schönem Fußball. | |
Schöner Fußball wird schnell zu sogenannter brotloser Kunst erklärt. | |
Stimmt: Angesichts vieler Ballstafetten und Kombinationen kommt sofort | |
einer und klagt die Zielorientierung ein. Wenn beim Kombinationsfußball | |
alle an allen Stellen auf dem Platz in Ballbesitz sind - das ist | |
zielgerichtet! Aber diese Umwertung in Deutschland ist interessant. In | |
anderen Fußballkulturen, wie in Spanien, wie in Portugal, wird das ganz | |
anders gesehen. Das ist fast eine Charakterfrage. Man sucht den schönen | |
Fußball. Es ist die Frage, ob wir in Deutschland den schönen Fußball immer | |
suchen. | |
Es gibt auch Bundesligatrainer, die sagen: Meine Spieler freuen sich, wenn | |
der Gegner den Ball hat. | |
Da antworte ich: Stimmt. Dazu habt ihr sie erzogen. Dass die sich freuen, | |
wenn der Gegner den Ball hat. Dass sie durch unglaubliche Kraft- und | |
Willensleistung Jäger sind. | |
Das nennt man seit Jürgen Klopp Leidenschaftsfußball. | |
Es gibt Mannschaften, die trainieren neunzig Prozent gegen den Ball. Der | |
eigene Ballbesitz wird ganz oft stark vernachlässigt. | |
Das wird auch als demokratisches Moment im Fußball verstanden, weils dem | |
fußballerisch und ökonomisch Ärmeren gestattet, mitzuhalten. | |
Mhm. Na ja … so habe ich das bisher noch nie betrachtet. | |
Herr Finke, was haben Sie als Schweizer TV-Kommentator beim EM-Turnier | |
gelernt? | |
Dass in der Schweiz auf perfekte Organisation ähnlich viel Wert gelegt wird | |
wie in Deutschland. Dass sie sehr gute Gastgeber sind, es sie aber stört, | |
wenn ihre Gäste, vor allem Deutsche, zu selbstbewusst und angeberisch | |
auftreten. Ich habe sehr darauf geachtet, dass ich nie über fünfundzwanzig | |
bis dreißig Prozent Redeanteil hatte, und nur dann geredet, wenn ich das | |
Gefühl hatte, ich kann mich in meiner Funktion als Experte einbringen. | |
Das haben Sie durchgehalten? | |
Selbstverständlich. | |
12 Jul 2008 | |
## AUTOREN | |
Peter Unfried | |
Peter Unfried | |
## TAGS | |
Fußball | |
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