# taz.de -- Prag und Paris 1968: Zweierlei Frühling | |
> Das Jahr 1968 bewegte in unterschiedlichen Kontexten, zum Beispiel in | |
> Prag und Paris. Könnten die Unterschiede heute Gemeinsamkeiten werden? | |
> Ein Essay. | |
Bild: Revolution ist nicht Revolution: In Prag kamen Panzer zum Einsatz | |
Wenn nun, vierzig Jahre danach, in Kolloquien und Veröffentlichungen an die | |
Zeit der Frühlinge von Paris und Prag erinnert wird, ergibt sich ein | |
erstaunlicher Kontrast zwischen Ost und West. In Paris mischt sich bei den | |
Gedenkveranstaltungen zum "Psychodrama" des Mai 1968 die | |
Selbstzufriedenheit einer Generation mit dem Wunsch der nachfolgenden | |
Generation, sich das Erbe des Mai umso energischer anzueignen, als es vom | |
neuen Präsidenten denunziert wurde. In Prag ist man weniger geneigt, sich | |
zu erinnern. Nichtsdestoweniger hat die aus dem kollektiven Gedächtnis | |
verdrängte Debatte über 1968 in Prag begonnen, und zwar mit zwei | |
Referenztexten, die unmittelbar nach der Besetzung durch die "Bruderländer" | |
geschrieben und nun, vierzig Jahre später, in den Literární noviny | |
wiederabgedruckt wurden: Der eine stammt von Milan Kundera, der andere von | |
Václav Havel. Trotz seiner Niederlage, so Kundera, bleibe der Prager | |
Frühling als erster Versuch, Sozialismus und Demokratie miteinander zu | |
versöhnen, von universeller Bedeutung. Havel antwortete, dass die großen | |
Errungenschaften des Prager Frühlings nur wiederhergestellt hätten, was es | |
dreißig Jahre zuvor in der Tschechoslowakei bereits gegeben habe und was | |
die Grundlage der meisten demokratischen Länder bilde. | |
In diesem Sinne war 1989 ein Anti-1968: keine Reform innerhalb des | |
Sozialismus, sondern ein Versuch, sich so eng wie möglich wieder an den | |
Westen zu binden, ihn nachzuahmen. Weitere zwanzig Jahre später liest sich | |
die Debatte wieder anders: Im Kontext einer Globalisierung, deren perverse | |
Auswirkungen man gerade entdeckt, und einer Krise der demokratischen | |
Repräsentation gewinnen die Fragen, die der tschechoslowakische Frühling | |
des Jahres 1968 in Bezug auf Demokratie, Markt und den "dritten Weg" | |
aufwarf, neue Aktualität. | |
In dieser Perspektive sprengt der Prager Frühling den Rahmen der Geschichte | |
des kommunistischen Systems in Osteuropa und erhält wieder eine | |
transeuropäische Dimension. Diese wurde des Öfteren mit den Jugendrevolten | |
in Verbindung gebracht, die 1968 überall in der Welt zu beobachten waren. | |
Der Prager Frühling und der Mai 68 fanden zwar in unterschiedlichen | |
politischen Kontexten statt, stellten aber gleichwohl Revolten dar, die den | |
vom Kalten Krieg aufgezwungenen Status quo infrage stellten und nach | |
alternativen Gesellschaftsmodellen suchten. | |
Die Parallelen waren weitgehend der Gleichzeitigkeit der "Ereignisse" von | |
1968 zuzuschreiben. Die andere Parallele ist die Verbundenheit in der | |
Niederlage. Die 68er-Utopien haben sich zwar unterschieden, doch versuchten | |
sie jeweils eine innere und eine internationale Ordnung infrage zu stellen, | |
die Erbe des Zweiten Weltkriegs waren. | |
Gleichzeitigkeit heißt jedoch nicht Gleichheit. Um sich davon zu | |
überzeugen, braucht man nur einige Unterschiede zwischen den beiden | |
Frühlingen zu erwähnen, die über 1989 hinaus Auswirkungen haben. Heute sind | |
die ideologischen Diskrepanzen der Achtundsechziger im Westen und im Osten | |
noch deutlicher sichtbar. Während die französischen seit fast drei | |
Jahrzehnten größten Einfluss auf Kultur und Medien besitzen, gehören die | |
tschechischen einer geopferten Generation an, die erst 1989 ihre Freiheit | |
wiedererlangen und damit erst im Alter von fünfzig Jahren und mehr die | |
Möglichkeit bekommen sollten, an eine unterbrochene Geschichte anzuknüpfen. | |
Was die ideologischen Unterschiede angeht, so ist der wichtigste | |
politischer Natur: Für Menschen, die zwanzig Jahre sozialistischer | |
Mangelwirtschaft hinter sich lassen wollten, besaß die von der Pariser | |
Bewegung kritisierte "Konsumgesellschaft" keinerlei pejorativen | |
Beigeschmack. Und die Freiheiten und Wahlen, die angeblich nur eine "Falle" | |
der Bourgeoisie seien, hatten nichts Verachtenswertes an sich für Menschen, | |
die angesichts der Erfahrung des Totalitarismus bestrebt waren, als | |
Voraussetzung für den Neuaufbau der politischen Ordnung die Bürgerrechte | |
und elementare Prinzipien wie Meinungs- und Versammlungsfreiheit | |
wiedereinzuführen. Die französische Linke lehnte sowohl den Markt als auch | |
den Kapitalismus ab, während Ota Sik in Prag einen "dritten Weg" zwischen | |
dem Staatssozialismus des Ostens und dem Kapitalismus des Westens | |
vorschlug. Der Versuch, diese ideologische und ökonomische Kluft zu | |
überwinden, war nur eine andere Art, die Teilung Europas zu überwinden. Die | |
"Rückkehr nach Europa", der Slogan der Samtenen Revolution von 1989, war | |
bereits in den tschechoslowakischen Bestrebungen von 1968 angelegt. | |
Die treibende Kraft des Prager Frühlings war das Streben nach Freiheit, | |
während in Paris das freiheitliche Moment hinter dem Mythos der Revolution | |
zurücktrat. Milan Kundera hat diese Dimension völlig zu Recht | |
hervorgehoben: "Der Pariser Mai war ein Ausbruch des revolutionären | |
Lyrismus. Der Prager Frühling war der Ausbruch des postrevolutionären | |
Skeptizismus. Daher blickte der Pariser Student voller Misstrauen nach | |
Prag, während der Prager für die Pariser Illusionen, die er für | |
diskreditiert, komisch und gefährlich hielt, nur ein müdes Lächeln | |
übrighatte." | |
Die veraltete politische Sprache, deren man sich in Paris bediente, machte | |
die Kommunikation zwischen den beiden Kapitalen nicht einfacher. Obwohl man | |
sich in beiden Fällen auf einen Sozialismus bezog, der mit dem sowjetischen | |
Modell gebrochen hatte, erinnerte die marxistische Vulgata der westlichen | |
Linken allzu sehr an die im Osten Europas herrschende Macht. Sichtbar wurde | |
dies beim Besuch Rudi Dutschkes, der Galionsfigur der Berliner | |
Studentenbewegung, im April 1968 in Prag. Der junge Historiker Milan Hauner | |
gab davon folgenden Bericht: "Dutschke verfügt über ein durchdachtes und | |
ausgefeiltes politisch-ökonomisches Vokabular. Ohne Unterlass bombardiert | |
er sein Publikum mit Ausdrücken wie: Produktion, Reproduktion, | |
Manipulation, Repression, Transformation, Obstruktion, Zirkulation, | |
Integration, Konterrevolution. […] Rudi ist unbestreitbar ein | |
unübertrefflicher Redner, aber es war gerade diese zur Utopie erhobene | |
Rationalität, die einen beängstigenden Eindruck hinterließ. In seiner | |
perfekt ausgeführten Rede gab es keinen Platz für einen Scherz oder eine | |
menschliche Schwäche; wäre da nicht diese kritische Rationalität, würde man | |
spontan sagen, dass es sich um einen fundamentalistischen Demagogen | |
handelt, noch dazu um einen Deutschen, im Grunde um ein Déjà-vu. Doch wäre | |
dies ungerecht, denn er ist unglaublich ehrlich und aufrichtig." | |
Während die "neue Linke" im Westen den Marxismus wiederbeleben wollte, | |
indem sie ihn von Stalinismus befreite, bemühten sich die Tschechen, ihn so | |
weit wie möglich zu verwässern und aufzulösen. | |
Der Pariser Mai wollte Kultur und Universität in den Dienst eines | |
politischen Projekts stellen. In der Tschechoslowakei standen die | |
Sechzigerjahre dagegen für einen Prozess der Emanzipation der Kultur von | |
den Zwängen der herrschenden staatlichen Strukturen und wurden so zum | |
Vorspiel für die Umwälzungen des Jahres 1989. Diese Distanzierung der | |
Kultur von der Ideologie der Macht besaß auch eine politische Bedeutung. | |
Die politische Krise des Regimes beginnt nicht mit der Wahl Dubceks an die | |
Spitze der Partei am 5. Januar 1968, sondern bereits mit den Reden Ludvík | |
Vaculíks und Milan Kunderas auf dem Schriftstellerkongress im Juni 1967, in | |
denen der Bruch zum Ausdruck kam. Die emblematische Zeitung des Pariser Mai | |
68 hieß Action, im Prager Frühling waren es die Literární noviny. Die | |
Sechzigerjahre werden ein "goldenes Zeitalter" der tschechischen Kultur | |
bleiben. Diese Kultur bietet eine weitere Parallele zu dem, was damals in | |
Frankreich geschah. Der außerordentliche Reichtum des kulturellen Lebens | |
wurde ermöglicht durch außergewöhnliche Umstände, in denen sich die | |
schöpferische Arbeit von den Zwängen der Zensur emanzipierte, ohne denen | |
des Markts zu erliegen. Dieser Reichtum steht in deutlichem Kontrast zur | |
relativen kulturellen Sterilität der beiden Jahrzehnte nach 1989 - in Prag | |
wie in Paris. | |
Jenem kulturellen Erbe, das sich mit dem Jahr 1968 verbindet, war nach der | |
Niederlage der beiden Frühlinge ein unterschiedliches Schicksal beschieden: | |
In Prag wurde es vom "Normalisierungs"-Regime systematisch zerstört, | |
während seine wichtigsten Repräsentanten verfolgt, verboten oder ins Exil | |
getrieben wurden. In Frankreich hingegen fand dieses Erbe weit über die | |
Niederlage der radikalen Utopie des Mai 68 hinaus Fortsetzungen: Die | |
ökologische Politik, der Feminismus, der Multikulturalismus, aber auch die | |
Infragestellung des traditionellen Familienmodells oder die neue | |
antiautoritäre Pädagogik in der Schule sind Indizien für den Einfluss | |
dieses Erbes im Laufe einer Generation, die schließlich die wichtigsten | |
Institutionen des Landes im Kultur- wie im Medienbereich besetzte. Die | |
tschechischen Achtundsechziger hingegen sind eine verlorene Generation. Als | |
sich die Dinge nach zwanzig Jahren änderten, nahmen sie einen neuen Anlauf, | |
mit wenig Erfolg. Ihre französischen Pendants hatten es hingegen | |
verstanden, die politische Niederlage des Mai 68 in einen kulturellen Sieg | |
umzumünzen, dessen Labels bobo (bourgeois-bohême) und liblib | |
(libéral-libertaire) Chiffren für die Wandlungen einer Generation | |
darstellen. | |
Was vom Scheitern der Prager 1968er-Bewegung übrig blieb, war "der | |
klinische Tod des Marxismus in Europa" sowie die Perestroika Gorbatschows. | |
Es blieb auch jener andere 68er-Frühling, der im Wiederaufbau der | |
Zivilgesellschaft und im "wiedergefundenen staatsbürgerlichen Engagement" | |
bestand, wie Václav Havel in Erinnerung rief. Genau dieses Erbe, das den | |
Rahmen des offiziellen Marxismus sprengte, sollte zehn Jahre später seine | |
Fortsetzung in der Dissidentenbewegung finden. | |
Der Antitotalitarismus, die Menschenrechte sowie die Wiederentdeckung der | |
Bürgergesellschaft und der europäischen Idee haben dazu beigetragen, dass | |
die Achtundsechziger aus Paris und aus Prag mit einiger Verspätung wieder | |
zusammenfanden. Paradoxerweise hat dies den Zusammenbruch des | |
kommunistischen Blocks und den Beitritt der postkommunistischen Länder zur | |
Europäischen Union nicht überlebt. Und zwar genau deshalb, weil dieser | |
Beitritt als "Osterweiterung" der bestehenden Union und nicht als | |
Wiedervereinigung Europas verstanden wird. | |
JACQUES RUPNIK wurde 1950 in Prag geboren. Dies ist ein von der Redaktion | |
gekürzter Vorabdruck aus "Transit. Europäische Revue" Nr. 35 (Verlag Neue | |
Kritik, Frankfurt a.M.), der im August 2008 erscheinen wird | |
18 Jul 2008 | |
## AUTOREN | |
Jacques Rupnik | |
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