# taz.de -- Porträt des Autors Giwi Margwelaschwili: Zaubern für den "Wunschl… | |
> In Romanen von Margwelaschwili geht es um die Literatur und ihr | |
> Verhältnis zum Leser. Sein Leben kreuzte die Verwerfungen zwischen | |
> Deutschland und Georgien oft - nicht immer freiwillig. | |
Bild: Texte sind Teil des Menschen, meint Giwi Margwelaschwili. | |
Mehr noch als aus Fleisch und Blut besteht der Mensch aus Text. Davon ist | |
Giwi Margwelaschwili überzeugt. Es sind die religiösen und | |
weltanschaulichen Texte, die das Schicksal des Einzelnen bestimmen. | |
"Ontotextuelle Verfassung des Bewusstseins" nennt er dies. "Der Mensch lebt | |
immer in der büchernen Bestimmung." Dies gelte für totalitäre | |
Gesellschaften ebenso wie für pluralistisch-säkulare. Aber der Mensch könne | |
sich dessen bewusst werden und sich von schädlichen Bestimmungen befreien. | |
In seiner Zweizimmerwohnung im Westberliner Arbeiterbezirk Wedding erzählt | |
Margwelaschwili von seiner "büchernen Bestimmung", nämlich "Mein Kampf" und | |
"Geschichte der KPdSU (B) - Kurzer Lehrgang", den Schriften Hitlers und | |
Stalins. Sein Wohnzimmer ist ärmlich eingerichtet: Ein Schreibtisch mit | |
einem Laptop, ein Flachbildfernseher, eine Schrankvitrine und ein Sofa | |
voller Bücher, zwei abgenutzte Ledersessel, zwei Fotos, die mit Abklebeband | |
an der Wand befestigt sind. Der Blick aus dem Fenster im vierten Stock des | |
Sozialbaus geht auf eine Grünanlage, bei offenem Fenster rauscht die S-Bahn | |
laut vorbei. Trotz des bescheidenen Interieurs wirkt Margwelaschwili | |
aristokratisch; ein ansehnlicher Mann, der mit seiner höflichen, bald | |
herzlichen und heiteren Art seine Gesprächspartner vereinnahmt. Und dem man | |
an seinem leichten Berlinerisch anmerkt, dass dies seine Geburtsstadt ist. | |
Sein Vater Titus Margwelaschwili entstammt dem georgischen Landadel, ist | |
Anhänger der menschewistischen Regierung und flieht nach der Besetzung | |
Georgiens durch die Rote Armee 1921 nach Berlin. Die Familie richtet sich | |
im gutbürgerlichen Wilmersdorf ein, wo Giwi 1927 geboren wird. Als er vier | |
Jahre alt ist, begeht seine Mutter Selbstmord. Sein Vater leitet die | |
Exilantenorganisation in Berlin, wird Professor für Philosophie und | |
Orientalistik und bleibt dies auch nach 1933. Während des Krieges | |
rekrutiert er Landsleute aus Kriegsgefangenenlagern für die "Georgische | |
Legion" der Wehrmacht. Ein faschistischer Kollaborateur? Margwelaschwili | |
weicht aus: "Damals haben viele Georgier kollaboriert, weil sie gehofft | |
haben, Deutschland könne Georgien zur Freiheit verhelfen." | |
Giwi tritt der Hitler-Jugend bei. Aber sie gefällt ihm nicht. Dann hört er | |
auf BBC Jazz: Glenn Miller, Louis Armstrong, Fats Waller. "Das war eine | |
richtige Offenbarung", sagt er. "Das war ein ganz anderer Rhythmus, | |
verstehen Sie, mein Herr? Befreiungsmusik." Er schließt sich der | |
Swing-Jugend an. "Aber verfolgt wurde ich in Nazideutschland nicht", sagt | |
er bestimmt. Weil er weiß, was Verfolgung bedeutet. Und weil er sich gerne | |
an seine Jugend erinnert. Wie sein Altersgenosse Martin Walser, der darauf | |
besteht, sich an seine glückliche Jugend zu erinnern, ohne sich mit dem | |
Furor des NS-Regimes plagen zu müssen? "Ich glaube nicht, dass dieser Herr | |
ein Liebhaber des Jazz ist", antwortet Margwelaschwili. | |
Nach dem Krieg werden Vater und Sohn vom sowjetischen Geheimdienst NKWD | |
nach Ostberlin gelockt und verhaftet. Der Vater wird nach Tiflis gebracht | |
und erschossen. Giwi kommt ins Speziallager in Sachsenhausen, wo er | |
anderthalb Jahre inhaftiert bleibt. Dann wird er nach Georgien abgeschoben | |
- in ein Land, das er nicht kennt und in dem er sich stets fremd fühlen | |
wird. Aber er hat keine Wahl. Er lernt Georgisch und Russisch und studiert | |
in Tiflis Germanistik. Die akademische Karriere bleibt ihm verwehrt. | |
Immerhin kann er Deutsch und Englisch unterrichten. Wieder hört er in | |
amerikanischen Sendern "ideologisch unzuverlässige Musik", Jazz und Rock n | |
Roll. Aus Moskau besorgt er sich Literatur von DDR-Verlagen, allen voran | |
von Thomas Mann. Und er entdeckt Martin Heidegger, an dem er sich bis heute | |
abarbeitet. | |
"In Georgien haben mir viele misstraut. Ich spreche zwar Georgisch, aber | |
mit Akzent und schlecht. Das ist für einen Georgier unannehmbar", erzählt | |
er. Dass er Georgisch tatsächlich radebrecht, mag man ihm, der sich bei BBC | |
und CNN informiert und auf dessen Sofa sich Jacques Derrida und Edgar Morin | |
im französischen Original stapeln, nicht glauben. Unzweifelhaft aber ist | |
seine "Sprachheimat" das Deutsche. | |
1961 beginnt er zu schreiben: Romane, Erzählungen, Stücke. Ohne die | |
geringste Aussicht auf Veröffentlichung. "Ich musste mir selbst zeigen, | |
dass all das, was ich erlebt habe, kein Traum war." So entsteht ein | |
umfangreiches Werk, darunter ein sechsbändiger, autobiografisch gefärbter | |
Romanzyklus, der "Kapitän Wakusch". Dessen erster Band heißt "In | |
Deuxiland", der zweite "Sachsenhäuschen". | |
Stets geht es in seinen Romanen um die Literatur selbst. Und um ihr | |
Verhältnis zum Leser. In "Officer Pembry" erhält der Titelheld einen Tipp | |
von der "Prospektiven Kriminalpolizei" und muss sich davor retten, von | |
Hannibal Lecter getötet zu werden, indem er einen hundert Jahre alten Roman | |
- Thomas Harris "Das Schweigen der Lämmer" - gegen den Strich liest. In | |
einem gerade fertig gestellten Roman, aus dem der Autor, die Zeilen mit | |
zittrigem Finger auf dem Bildschirm verfolgend, vorliest, tauchen seine | |
eigenen Figuren wieder auf. Wie andere Buchpersonen, die an Lesermangel | |
leiden, treffen sie sich in der Kommandantur der "Lese-Lebenshilfe", wo | |
ihnen kein Geringerer als Harry Potter einen "Wunschleser" herbeizaubert. | |
Und "Wakusch junior", Margwelaschwilis literarisches Alter Ego, lässt | |
seinen Schöpfer "Wakusch senior" herbeizitieren. | |
Ende der Sechzigerjahre bekommt Margwelaschwili in Tiflis Besuch von | |
Heinrich Böll, der das Manuskript des "Wakusch" mitnehmen will. | |
Margwelaschwili lehnt aus Angst ab - eine vertane Chance, um in der | |
Bundesrepublik das zu werden, was Alexander Solschenizyn in Frankreich oder | |
Boris Pasternak in Italien wurden, glaubt heute mancher in seinem Umfeld. | |
1969 darf er in die DDR reisen, wo er Wolf Biermann trifft und prompt ein | |
Ausreiseverbot bekommt. Dennoch wird er an die Akademie der Wissenschaften | |
berufen, zudem erscheinen einige seiner auf Russisch verfassten | |
philosophischen Arbeiten. 1970 heiratet er die Germanistin und Übersetzerin | |
Naira Gelaschwili, zu der er immer noch engen Kontakt hält. Doch die Ehe, | |
aus der eine Tochter hervorgeht, wird nach zehn Jahren geschieden. Im Zuge | |
der Perestroika darf Margwelaschwili wieder die DDR besuchen. 1990 | |
beschließt er, in Deutschland zu bleiben. "Ich konnte meine Buchpersonen | |
doch nicht in der Einsamkeit belassen" sagt er, "ich bin doch für sie | |
verantwortlich." | |
Tatsächlich erscheinen nun einige seiner Bücher. Eine drohende Abschiebung | |
können Freunde verhindern. Margwelaschwili erhält ein kleines | |
Ehrenstipendium des Bundespräsidenten, dann die deutsche | |
Staatsbürgerschaft, schließlich die Goethe-Medaille und andere Ehrungen. | |
Aber verlegen will ihn bald niemand mehr. Jetzt sind es nicht mehr die | |
Sprache und die Zensur, die seine Bücher verbannen, sondern der Markt. | |
Fühlt er sich in seiner "Sprachheimat" heimisch? "Ich fühle mich einsam", | |
antwortet er - um gleich, als wolle er sich jedes Mitleid verbitten, | |
anzufügen: "Ich muss ja viel arbeiten." | |
Seit vergangenem Jahr tut er dies wieder für ein Publikum. Der Berliner | |
Verbrecher Verlag hat sich seiner angenommen und will das Gesamtwerk | |
verlegen. "Warum bloß ist Giwi Margwelaschwili kein berühmter | |
Schriftsteller?", hat vor einiger Zeit Jörg Magenau im Tagesspiegel | |
gefragt. "Im Zeitalter von Migrationshintergründen und Parallelwelten wäre | |
er doch der ideale Autor." Der weiß eine einfache Antwort: "Hier | |
interessiert sich niemand für Georgien." Plötzlich ändert sich sein | |
Tonfall: "Wenn man den Russen diesen Kolonialismus durchgehen lässt, werden | |
sie auch in der Ukraine oder im Baltikum einfallen", sagt er. Oder: | |
"Abchasien und das, was sie Südossetien nennen, ist georgisches | |
Territorium, das die Russen besetzt halten - genauso wie die Türken | |
georgisches Gebiet annektiert haben. Sehen Sie dieses Kirchenportal?" Er | |
zeigt auf eines der Fotos an der Wand. "Das steht heute in der Türkei." | |
Mal auf international anerkannte Grenzen verweisen, mal diese selbst | |
infrage stellen - so reden sonst nur beinharte Revanchisten und bornierte | |
Nationalisten. Ob Giwi Margwelaschwili so einer ist? Dass Präsident Michail | |
Saakaschwili mit der Offensive in Südossetien unüberlegt gehandelt habe | |
oder dass unter seinem Regime Oppositionelle verfolgt würden, lässt sich | |
Margwelaschwili nur mühsam entlocken. Viel lieber tritt der Schriftsteller | |
als Botschafter Georgiens auf: "Ich hätte mir gewünscht, dass auch die | |
Europäer so deutliche Worte gefunden hätten wie die Amerikaner." | |
Margwelaschwilis letzte Veröffentlichung, das Drama "Zuschauerräume", ist | |
ein surrealistisches Stück und handelt vom Versuch eines Königs, die | |
"Zuschauerräume" und damit die Geschichte abzuschaffen: "Es geht hier | |
darum, eine Geschichte zu beenden, in der wir alle uns nur zum Zeitvertreib | |
fremdweltlicher Zuschauer umherbewegen, in der wir alle möglichst | |
interessant sein müssen, möglichst gefährlich, möglichst tödlich | |
füreinander und auch immer möglichst unterschiedlich." Bedeutet das | |
Insistieren auf die Gebietsansprüche Georgiens nicht die Fortsetzung der | |
tödlichen Geschichte? "Leider", flüstert er. "Aber solange die | |
Weltgeschichte verlangt, dass Blut fließt, muss man das in Kauf nehmen." | |
Es ist tragisch, wenn ein Schriftsteller - zumindest in einer politischen | |
Ausnahmesituation - weniger klug erscheint als seine literarische Figur. | |
Doch Margwelaschwili dürfte dies kaum schrecken. Auch er entkommt der | |
"ontotextuellen Verfassung" nicht. Vielleicht lässt er einmal den | |
Margwelaschwili, der in der Zeitung steht, auf eine seiner | |
literarisch-fiktiven Figur treffen. Und zwar in einer klugen, | |
mehrschichtigen und vergnüglichen Erzählung. | |
26 Aug 2008 | |
## AUTOREN | |
Deniz Yücel | |
## TAGS | |
Literatur | |
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