| # taz.de -- Alles in einer Straße: Wenn die Kruste kracht | |
| > Im Nieheimer Culinarium: Auf der westfälisch-kulinarischen Erlebnismeile | |
| > gibts neben Käse, Korn, Bier, Pumpernickel und Schinken grunzende | |
| > Schweine per Endlosschleife vom Band | |
| Bild: Nieheimer Käse | |
| Wie schmeckt Westfalen? Nach Pumpernickel! Pumpernickel ist das | |
| westfälische Brot schlechthin. Ein herzhaftes Vollkornbrot aus | |
| Roggenschrot, Wasser und Salz. Für den Poeten Voltaire war es jedoch nur | |
| "ein harter schwarzer und klebriger Stein". | |
| Vor uns liegt ein übergroßes Ausstellungsbrot aus Holz - mit schwarzen | |
| Scheiben, die man mit einem Griff herausziehen kann. Auf einer dieser | |
| Brotscheiben lesen wir, dass "pumpern" von mittelhochdeutsch furzen kommt | |
| und "Nickel" ein Kobold war. Mit seinen Blähungen trieb Nickel viel | |
| Schabernack unter den Menschen. | |
| Ein paar Brotscheiben weiter ist eine andere interessante | |
| Pumpernickel-Entstehungstheorie zu lesen: Französische Soldaten sollen das | |
| Schwarzbrot ihren Pferden zum Fraß vorgeworfen haben. Nickel hieß das Pferd | |
| Napoleons. Aber Westfalen schmeckt nach mehr als nur nach Pumpernickel. | |
| Davon können sich Besucher leibhaftig in der "WestfälischKulinarische | |
| Museums- und Erlebnismeile GmbH", kurz Westfalen Culinarium, überzeugen. | |
| Lange Straße in Nieheim. Links und rechts reihen sich vier Museen mit fünf | |
| "Erlebniswelten" zum Riechen und Fühlen, Sehen und Hören. Und natürlich zum | |
| Schmecken. Die geballte Vielfalt westfälischer Bauern- und Hausmannskost | |
| auf insgesamt 3.000 Quadratmetern Ausstellungsfläche. Jedes Museum widmet | |
| sich einer anderen Spezialität: eines dem Brot (Lange Straße 22-24) und | |
| eines dem Käse (Nr. 11), das dritte dem Schinken (Nr. 12) und das vierte | |
| schließlich dem Bier und dem Schnaps (Nr. 5). "Wir bieten ihnen in Nieheim | |
| ein Zuhause", sagt Theo Reineke, der Motor des touristischen Großprojekts. | |
| Im Atrium des Schinkenmuseums, in dem die Kasse untergebracht ist, hängt | |
| der westfälische Himmel voller Schinken. An einer Wand prangt das | |
| großformatige Foto von Luise, dem berühmten Polizeispürschwein, mit seinem | |
| Herrchen, dem 1. Hauptkommissar Werner Franke. Auf einer Infotafel lesen | |
| wir bisher Unbekanntes: "Schweine sind mit 7 Monaten geschlechtsreif. Bis | |
| zu 20 Minuten Sex ist keine Besonderheit." In Audioschleifen lauschen die | |
| Besucher dem Grunzen der Schweine, auf Monitoren gucken sie die | |
| multimediale "Schweinevision". | |
| In der Erlebniswelt Käse recken die Milchspender Ziege, Kuh und Schaf den | |
| Besuchern ihre Hinterteile entgegen. Dreikäsehochs können auf dem | |
| Melkschemel ihr Zapftalent am künstlichen Kuheuter ausprobieren. Ilse | |
| Niehörster, die Wirtin im Käsemuseum, kocht "nur mit Zutaten der alten | |
| westfälischen Küche", mit Biogemüse, handgemachter Butter und Wurst vom | |
| Düppeler Weideschwein. In acht Käse-Separées können die Gäste "Westfälisc… | |
| Handgreiflichkeiten" und "Westfälischen Schweinkram" kosten. | |
| Im Brotmuseum mit angeschlossener Schaubäckerei steht die alte, frisch | |
| gestrichene Teigknetmaschine. Mit Buchenholzscheiten heizt Bäckermeister | |
| Ansgar Westerwelle den neu gebauten, riesigen Königswinterofen. Bei 350 bis | |
| 400 Grad kracht die Kruste so richtig. Zuerst backt der Schaubäcker | |
| Kleingebäck und Brezeln, dann westfälischen Streusel- und Zuckerkuchen, im | |
| dritten Schritt Brote, vor allem das klassische runde Steinofenbrot - und | |
| schließlich bei abgekühlten 210 Grad Hartgebäck wie Mandel- und Nussecken. | |
| Bier ist global. "Prost" steht einladend in 60 Sprachen im Entrée des | |
| Biermuseums. Eine Etage höher lernen wir, dass früher die einfachen Leute | |
| in Westfalen von Brot und Bier lebten. Die Zubereitung von beidem war | |
| Frauensache, und ein Sudkessel gehörte selbstverständlich zur Mitgift. Eine | |
| Schwarzbrennerei und ein Hopfengarten, ein künstliches Hopfenfeld auf | |
| echter Nieheimer Erde, runden die Erlebniswelt Bier ab. | |
| Das Westfälische Abendmahl mit Schinken, Bier und Pumpernickel ist die | |
| Abbildung eines Kirchenfensters der Kirche St. Maria zur Wiese in Soest aus | |
| dem 16. Jahrhundert. Es dient den vier Museen als optische Klammer. Der | |
| Besucher solle nicht mit Informationen gefüttert, "sondern emotional im | |
| Bauch berührt werden", sagt Peter Neudert, dessen Erlanger Planungsfirma | |
| Impuls die Erlebniswelten gestaltet hat. | |
| Ohne die geplante Giftmülldeponie wäre das Westfalen-Culinarium vielleicht | |
| gar nicht entstanden. In die Tongrube einer ehemaligen Ziegelei, direkt | |
| gegenüber einem Naturschutzgebiet, wollte die nordrhein-westfälische | |
| Landesregierung unter Johannes Rau vor 25 Jahren ihren Sondermüll | |
| deponieren. Nicht bei uns, meinten die Nieheimer, gründeten eine Initiative | |
| und prozessierten bis zum Bundesverwaltungsgericht. Mit Erfolg. Als die | |
| Deponie endgültig vom Tisch war, fragten sich die pfiffigen Köpfe der | |
| Bürgerinitiative: Was nun? Wie können wir unsere Energie zum Wohl Nieheims | |
| einsetzen? Im Tourismus, hieß die Antwort. Nieheim wurde Luftkurort - und | |
| ist inzwischen sogar heilklimatischer Kurort. Aber von der guten Luft | |
| allein konnte Nieheim nicht leben. "Wir wollten keine Bali-Therme in unsere | |
| westfälische Landschaft bauen, sondern etwas Authentisches für die Gegend | |
| und die Menschen hier machen", sagt Theo Reineke. "Doch wir hatten keine | |
| Seen, keine hohen Berge, einfach nichts." "Wir haben doch den Nieheimer | |
| Käse", warf plötzlich jemand ein. "Das ist es!", rief enthusiastisch der | |
| damalige Geschäftsführer einer Münchner touristischen Consultingagentur, | |
| "dann bauen wir in Nieheim ne Fressmeile." "Der kleine Nieheimer", rund und | |
| goldig, ist ein Sauermilchkäse mit Kümmel. Lange fristete er ein tristes | |
| Dasein, nun sollte er als "Nieheimer Gold" zum Markenzeichen des Städtchens | |
| werden. Die Heimatforscher kramten heraus, dass es um 1900 einen regionalen | |
| Käsemarkt gab und 80 Hauskäsereien. | |
| Flugs besannen sich die Nieheimer ihrer verschütteten Tradition - und | |
| schufen "in einem Anfall von Hybris", wie Theo Reinecke rückblickend sagt, | |
| im Jahr 1998 den ersten Deutschen Käsemarkt. In Nieheim war Land unter, an | |
| drei tollen Tagen strömten über 50.000 Besucher herbei, erstmals tauchte | |
| das ehemalige Ackerbürgerstädtchen im Verkehrsfunk auf, "die | |
| Ostwestfalenstraße B 252 im Bereich Nieheim bitte großräumig umfahren". | |
| Seitdem findet der Nieheimer Käsemarkt mit 70 bis 80 handwerklich | |
| produzierenden Käsern aus ganz Europa alle zwei Jahre statt - im Wechsel | |
| mit den Nieheimer Holztagen. | |
| Die Käse-Idee war schon gut, die Käse-Tage sind einmalig, aber die | |
| Nieheimer gingen noch weiter in sich: Was hat denn Westfalen außer Käse | |
| noch zu bieten? Pumpernickel, na klar, Korn sowieso, Bier ist | |
| urwestfälisch, und der westfälische Knochenschinken, natürlich. Um diese | |
| fünf Eckpfeiler westfälischer Lebensart wurde die kulinarische Meile | |
| errichtet. | |
| Mit zusätzlichen Leckerlis versuchen die Museumsmacher jetzt, neue Besucher | |
| nach Nieheim zu locken. Zum Beispiel durch den alten Brauch "Westfälischer | |
| Schinkentag". Wenn im Mai der Kuckuck ruft, wird der luftgetrocknete | |
| Knochenschinken aus dem vergangenen Herbst angeschnitten. | |
| Andere Aktionen sind Genusswerkstätten mit bekannten Köchen, allerlei | |
| Literaturgenüsse ("Zu Tisch bei Annette von Droste-Hülshoff") und | |
| Kochevents für Manager als Teambuilding-Maßnahmen. | |
| 30 Aug 2008 | |
| ## AUTOREN | |
| Günter Ermlich | |
| ## TAGS | |
| Tradition | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Kolumne Ich meld mich: Ein Herz für Seelen | |
| Echte Seelen gibt es nicht mehr nur im Allgäu und in Schwaben. Aber die | |
| Seele hält sich gut gegen die industrielle Gleichmacherei. |