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# taz.de -- Kolumne Das Schlagloch: Korruption ist der einzige Kitt
> Wer innovative, radikale und engagierte Filmkunst sucht, findet sie in
> US-Fernsehserien.
Bild: Kuschlige Stimmung im Kreise der Lieben
Jeder, der gelegentlich einen transkontinentalen Flug auf sich nehmen muss,
kennt das frustrierende Gefühl: eingepfercht zwischen Passagieren und
Sitzen, flüchtet man sich in den ersten Spielfilm, der auf fernsehgroßen
Monitoren gezeigt wird, lässt den zweiten über sich ergehen und landet
schließlich im dritten, während der Flieger durch die Nacht gleitet. Die
Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass alle drei Filme sich durch infantilen
Humor, karamellisierte Emotionalität sowie soziale und politische
Irrelevanz auszeichnen. Dabei handelt es sich keineswegs um obskure
Produktionen aus den Hinterhöfen der Kinokunst, sondern um die neuesten
Blockbuster aus Hollywood. Auf zwölfstündigen Flügen wird schmerzhaft der
Beweis erbracht, dass Hollywoods Verhältnis zu Kunst, Inhalt oder Sinn
zerrüttet ist. Relevante Filme muss man anderswo suchen.
Gesegnet auch in dieser Hinsicht sind die Business-Class-Passagiere, denen
üblicherweise eine Auswahl von Folgen aktueller und älterer Serien
angeboten wird. Da lohnt sich ein langer Flug bei Tage, denn der Vergleich
zwischen dem, was einst wöchentlich über die Mattscheibe flimmerte, und den
neuesten Serien könnte kaum gravierender ausfallen. Früher galten Serien
als der Inbegriff spießiger Langeweile - "Dallas" und "Denver" boten
Hausmannskost, serviert auf versilberten Tabletts, dekoriert mit Blattgold.
Sie unterschieden sich kaum von den - weltweit ebenfalls populären -
Telenovelas aus Mexiko, Kolumbien und Brasilien. Noch vor zwanzig Jahren
wäre niemand auf die Idee gekommen, in US-Fernsehware mehr zu suchen als
geistlosen Eskapismus. Heute hingegen findet sich das Innovative, Radikale,
Gewitzte und Engagierte gerade dort, ob die Serien nun "The Sopranos", "Six
Feet Under", "The Wire" oder "The Shield" heißen. Und ihr Vorbild leuchtet
so hell, dass selbst das traditionell schwerfällige deutsche Fernsehen mit
KDD (Kriminaldauerdienst) eine eigene, hervorragend besetzte Serie
produziert hat, die mit gutem Beispiel hinterherzieht, nun schon über zwei
beeindruckende Staffeln hinweg.
Zunächst müsste man sich noch einmal, mit zwiespältiger Nostalgie, eine
Folge von "Kojak", "Die Straßen von San Francisco" oder "Law and Order"
ansehen, um die Umwälzung der künstlerischen Verhältnisse nachzuvollziehen.
Brav wurde früher in jeder Folge ein Fall ausgebreitet und bewältigt, die
Dialoge waren abgestanden und hölzern, die Kamera stand meist
uninteressiert herum, kurz: Alles sah nach liebloser Massenproduktion aus.
Vor allem aber waren die Figuren kaum komplexer als in einem
Scherenschnitt: die Cops meist rau, aber herzlich und ewig auf der lichten
Seite des Guten, zuverlässige Hüter der Ordnung in einer überschaubaren
Welt. Die Moral der Geschichten war so klar und ungetrübt wie der Himmel
über Nevada.
In den zeitgenössischen Serien ist alles ganz anders. Zum einen werden die
Handlungsstränge über die Folgen, ja gar über die Staffeln hinweggesponnen
und die von ihrer Anlage her schon widersprüchlichen, vielschichtigen
Figuren dabei weiterentwickelt. Gerade "The Wire" und "The Shield", zwei
vermeintliche Krimiserien, haben die narrative Dichte von Romanen, so groß
angelegt und detailliert ausgeleuchtet ist in ihnen das Panorama der
amerikanischen Gesellschaft. Im grandiosen zweiten Jahr von "The Wire"
(vielleicht die beste Staffel in der Geschichte des Fernsehens) werden
unter anderem der Verfall der Gewerkschaften, der Frauenhandel, die
Verschiebung ethnischer Identitäten sowie die Verfilzung von
Stadtverwaltung, Polizei, Mafia und Unternehmer thematisiert. Und in jeder
Folge und jeder Staffel wird die allumfassende Korruption der Gesellschaft
dargestellt anhand der bestechenden Wirkung von Macht - und sei es auch nur
die Macht kleiner Polizisten und noch kleinerer Drogendealer. Korruption
ist der Kitt, der alles zusammenhält.
In den allerersten Folgen von "The Shield" bringen die Bullen einen der
ihren kaltblütig um, weil sie zu Recht vermuten, dass er ihre
Machenschaften, die von Schutzgelderpressung bis hin zum Vertuschen von
Beweisen reichen, ausspionieren soll. Dieser Mord ist wie ein Paukenschlag,
der den operettenhaften Sound althergebrachter Serien zerschmettert. Nichts
ist in "The Shield" so, wie es scheint - ein jeder verfolgt eigene,
undurchsichtige Interessen auf Kosten der Gemeinschaft, ein jeder
verwickelt sich in unauflösbare Widersprüche, mitten in einem Stadtteil von
Los Angeles, der von Aggression und Brutalität gebeutelt wird.
Die visuelle Sprache übersetzt diesen illusionslosen Blick auf die
Gegenwart in wacklige Bilder, körnige Aufnahmen, ungeschönte Sets und einen
Hyperrealismus, der sich eher an der improvisierten Ästhetik der lokalen
Nachrichtensender in den USA orientiert als an Michael Ballhaus. Wer
zufällig einschaltet, könnte glauben, er sehe gerade eine Verfolgungsjagd
der LAPD, aufgenommen aus einem Helikopter, unterlegt mit sehr viel
Stadtlärm. Und wie auch bei dem deutschen Nachbild KDD ist die Polizei
untergebracht in halben Ruinen - in "The Shield" etwa in einer Bruchbude
namens "The Barn", wo es nicht nur reinregnet, sondern auch die Toiletten
regelmäßig verstopft sind. Die Scheiße in LA quillt im schmutzigsten Sinne
des Wortes über.
Wenn man einst zurückblicken wird auf die kreative Explosion in
amerikanischen Serien, kann man den Anfang dieser Entwicklung vielleicht
auf das Jahr 1999 datieren, als die erste Folge von "The Sopranos" auf HBO
lief. Diese inzwischen abgeschlossene Serie über einen Mafiaclan in New
Jersey begann unauffällig und verdichtete sich im Laufe der Jahre zu einem
Psycho- und Soziogramm der amerikanischen Gesellschaft. Die guten Jahre
sind vorbei - ein sentimentaler Blick auf das Leben der Elterngeneration
bestimmt die Wahrnehmung der Hauptfigur Tony Soprano -, die großen
Hoffnungen sind auch auf krimineller Ebene ausgeträumt. Die Mafia werkelt
und wurschtelt vor sich hin, durch und durch normal, völlig amerikanisch.
Wirkte Don Corleone noch wie ein Meteorit, hat Tony Soprano fast das Zeug
zu einem neuen All American Hero. Nur oberflächlich unterscheidet sich das
Geschäftsgebaren der Sopranos von jenem etwa der Lehman Brothers - die
Macher der Serie ließen keine Gelegenheit aus, aktuelle Entwicklungen im
Leben dieser halbprovinziellen Mafia zu spiegeln - meist durch brillante
Dialoge, die jedem Autor die Neidesröte ins Gesicht treiben. "The Sopranos"
ist ein würdiger Nachfolger der Buddenbrooks.
In den USA geht "The Shield" im Herbst dieses Jahres in die siebte und
leider letzte Staffel. ProSieben hatte nur die erste Staffel ausgestrahlt
und wegen zu geringer Einschaltquoten wieder abgesetzt (auch kabeleins hat
einen vergeblichen Versuch gestartet).Offensichtlich ist unser
Fernsehprogramm so hochwertig, dass wir auf einige der besten
künstlerischen Werke des letzten Jahrzehnts verzichten können.
"The Wire" ist noch nicht im deutschsprachigen Fernsehen gezeigt worden.
Aber - die Serie soll bald auf einem neuen Kanal ausgestrahlt werden.
16 Sep 2008
## AUTOREN
Ilija Trojanow
## TAGS
Familie
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