# taz.de -- 68er-Museum in Mexiko: Mehr als eine linke Geschichte | |
> Das Memorial del 68 in Mexiko zeigt die Hintergründe der damaligen | |
> Studentenrevolte. Das Museum präsentiert das Jahr 1968 als "nationales | |
> Kulturerbe". | |
Bild: Ein ausgebrannter Bus auf dem Platz von Tlatelolco in Mexiko-Stadt 1968. | |
Eines der Bilder, die im Jubiläumsjahr in keiner globalen 68er-Galerie | |
fehlten, ist das spektakuläre Olympiade-Foto vom Oktober 1968, als zwei | |
schwarze Athleten auf dem Siegerpodium ihre behandschuhte Faust zum | |
Black-Power-Gruß reckten. Dass die Szene in Mexiko-Stadt spielte, wo kurz | |
zuvor Soldaten eine friedliche Protestkundgebung einkesselten und | |
zusammenschossen - neben Prag die blutigste Niederschlagung einer | |
68er-Bewegung -, blieb hingegen nahezu unerwähnt. | |
Dabei steht in der mexikanischen Hauptstadt heute das weltweit wohl erste | |
und einzige 68er-Museum - nicht als temporärer Event, sondern als | |
Dauerausstellung. Das Memorial del 68 ist im Erdgeschoss des ehemaligen | |
Außenministeriums direkt am Platz von Tlatelolco, dem Schauplatz des | |
Massakers, untergebracht. War die Erinnerung an Revolte und Massenmord | |
lange Jahre ein Thema privater Aktivisten, Publizisten und politischer | |
Sonntagsredner, so übernahm hier erstmals eine staatliche Einrichtung - die | |
Nationaluniversität Unam - institutionelle Verantwortung. 1968 sei mehr als | |
linke Geschichte, sagt der Leiter der Stätte, Sergio Raúl Arroyo, sondern | |
etwas wie "patrimonio cultural", nationales Kulturerbe. Dabei wolle man weg | |
von den "nekrologischen Konnotationen" einer Gedenkstätte. Denn bislang | |
schnurrt im mexikanischen Gedächtnisspeicher die Chiffre "68" meist auf | |
jenen 2. Oktober zusammen, an dem der Studentenbewegung ein jähes Ende | |
gesetzt wurde. | |
An diesem Nachmittag hatten sich um die zehntausend Studierende und | |
Sympathisanten auf dem Platz nördlich der Altstadt zusammengefunden. Soeben | |
war beschlossen worden, die Versammlung aufzulösen, um "Provokationen zu | |
vermeiden". Kreisende Hubschrauber feuerten bengalische Lichter ab, danach | |
kamen die Schüsse. Der Platz war von Panzern umstellt, die Menschen | |
rannten, suchten Zuflucht in Hauseingängen. Noch bis in die Nacht | |
durchkämmten Soldaten die umliegenden Wohnblocks auf der Suche nach den | |
Studentenführern. An die zweitausend wurden festgenommen, viele | |
misshandelt, Unzählige bei der Flucht verletzt, die Zahl der Toten ist bis | |
heute ein Rätsel. Anfangs war von tausend oder fünfhundert Opfern die Rede, | |
bis vor kurzem noch von 250. Doch bislang konnten nur 40 Ermordete | |
namentlich ermittelt werden. Für den Schießbefehl von Tlatelolco ist bis | |
heute keiner, kein Politiker und kein General, hinter Gittern gelandet. | |
Alle Prozesse gegen Luis Echeverría, als damaliger Innenminister und | |
späterer Präsident einer der Hauptverantwortlichen, sind juristisch ins | |
Leere gelaufen. | |
Das Trauma von Tlatelolco hat sich in Mexiko wie ein schwarzer Schleier | |
über das kulturelle Gedächtnis an 68 gelegt. Angesichts der absoluten | |
Straflosigkeit droht die Erinnerung der vorangegangenen Bewegung und vor | |
allem der kulturellen Dimensionen der Revolte immer wieder zu verschütten. | |
Ebendiese wird nun im Memorial rekonstruiert: Gleich zu Beginn nimmt es die | |
mexikanischen Sixties als Kreuzungspunkt grenzüberschreitender | |
Kulturbewegungen in den Blick - Fidel und Janis Joplin, Angela Davis, Andy | |
Warhol, Mao und die mexikanische Schamanin María Sabina, Slogans wie | |
"Prohibido prohibir" oder "Imaginación al poder". | |
Mexikos Wirtschaft boomte, die Gesellschaft kam in Bewegung, Rockmusik und | |
Jugendkultur schwappten ins Land. Politisch aber blieb die seit 1917 | |
"institutionalisierte" Revolution wie versteinert. Eine zunehmend | |
autistische Regierung glaubte das Land von kommunistischen Verschwörern und | |
ausländischen Hippies bedroht - und schlug entsprechend um sich. Die | |
Olympischen Spiele standen vor der Tür, jede Unruhe auf den Straßen war ein | |
Störfaktor und die Demonstrierenden wurden mit bis dahin nie gesehener | |
Härte attackiert. Die Universitäten wurden bestreikt, kleine studentische | |
Gruppen schwollen angesichts der blindwütigen Repression binnen weniger | |
Wochen zu einer Massenbewegung an. Dabei ging es nicht um gewaltsamen | |
Umsturz, sondern um die Freilassung der Inhaftierten und "einen | |
öffentlichen Dialog" mit dem Staatschef. In ihrem - primär politischen - | |
Antiautoritarismus hatte die mexikanische Revolte womöglich mehr | |
Ähnlichkeiten mit Prag als mit Paris. | |
Das Herzstück der multimedialen Museografie aus Fotografien und | |
Bildschirmen bilden editierte Fragmente aus 57 Filminterviews mit | |
Zeitzeugen und Protagonisten der Revolte. Deren Lebenswege sind hier nicht | |
minder verschlungen verlaufen als anderswo: Sie sind heute Filmemacher oder | |
Funktionäre, arbeiten im Kultur- oder Medienbetrieb oder an den | |
Universitäten. Zu den Achtundsechzigern zu gehören, sei im politischen | |
Establishment Mexikos heute längst "eine Auszeichnung", sagt die | |
Schriftstellerin Elisa Ramírez, die damals der libertären Fraktion | |
angehörte. Viele der einstigen Opfer der Repression sind heute Abgeordnete | |
der mexikanischen Linkspartei PRD oder Mitglieder der linken Regierung von | |
Mexiko-Stadt. | |
Ehemalige Aktivisten, die seit fast zwanzig Jahren im Comité 68 organisiert | |
sind, hatten nach der Eröffnung des Memorial del 68 im Oktober 2007 | |
öffentlich kritisiert, dass die Frage der rechtlichen Aufarbeitung in der | |
Ausstellung nicht weiter verfolgt wird. Für den Schriftseller Paco Ignacio | |
Taibo II, einer der Interviewten, hingegen hat die juristische Ebene an | |
Bedeutung verloren. "Die Gesellschaft und die Geschichte haben ihr Urteil | |
gefällt." Wichtig bleibe allerdings, jene "juristische Barbarei" zu | |
rekonstruieren, die hunderte von Menschen für Jahre ins Gefängnis geschickt | |
hat. Dies sei heute aktueller denn je: Nach Schätzungen der 2007 gegründete | |
Nationalen Front gegen die Repression gibt es heute ebenso viele oder sogar | |
mehr politische Gefangene wie 1969. Damals saßen vierhundert Menschen aus | |
politischen Gründen im Gefängnis. | |
Diese Aktualität kam auch im offiziellen Gedenken zur Sprache. In der | |
Konzeptionsphase des Museums hatte die Universitätsleitung den | |
Konzeptkünster Santiago Sierra eingeladen, eine Installation über die Toten | |
vom 2. Oktober zu machen. Dieser fragte stattdessen die Veranstalter, ob es | |
denn heute noch Opfer politischer Gewalt in Mexiko gäbe. In einer | |
akribischen Archivrecherche trug man die Daten von insgesamt 1.548 Toten | |
zusammen, die seit 1968 bis zum Tag der Eröffnung Opfer politischer Gewalt | |
geworden waren. 72 Stunden lang verlasen Schauspieler ihre Namen. Es gehe | |
also nicht um Reinwaschung und auch nicht um die "Wahl zwischen Erinnerung | |
und Gerechtigkeit", sagt der Kurator des Memorials, Alvaro Vázquez | |
Mantecón. Vielmehr wolle man einem jungen Publikum erkären, "was die | |
mexikanische Demokratie gekostet habe: die Kämpfe, die Kopfschmerzen, das | |
Blut". | |
Für Vázquez Mantecón ist klar, dass 68 die Geburtsstunde der | |
Demokratisierung war - und somit, trotz der blutigen Niederschlagung, eine | |
Erfolgsgeschichte. Auch für Sergio Raúl Arroyo war das Aufbegehren gegen | |
den Autoritarismus ein Sieg der "Pluralität über die Homogenität". Davon | |
zeugten heute Gay-Gruppen wie unabhängige Gewerkschaften, Bauern- wie | |
Bürgerbewegungen, eine breit gefächerte Kunstszene jenseits des einstigen | |
"nationalkulturellen" Pathos. Für andere, die in den Interviews gleichfalls | |
zu Wort kommen, war 68 eher ein letztes Aufbäumen der Utopie, "ein | |
revolutionärer Schwanengesang", wie der ehemalige Aktivist Marcelino | |
Perelló meint. | |
Während das Museum auf Vielstimmigkeit und Pädagogik setzt, wird draußen, | |
auf der Plaza von Tlatelolco, das Gedenken jedes Jahr aufs Neue | |
aktualisiert. Seit den Siebzigerjahren schon wird der Jahrestag des | |
Massakers zum Anlass für ein Demonstrationsritual, das mit politischen | |
Forderungen der jeweiligen Gegenwart bestückt ist. Wer die "marcha" über | |
die Jahre verfolgt, sieht, dass dabei offenbar immer neue Generationen | |
nachwachsen: Die Gesichter scheinen nicht älter zu werden, nur das kleine | |
Trüppchen vom Comité 68 wird immer grauer. Alle anderen sind jung, sehr | |
schwarz oder sehr bunt gewandet. | |
Im Oktober letzten Jahres trugen sie einen wilden Mix an Ikonografie am | |
Leib und auf Transparenten: von Gandhi bis Bob Marley, von Lenin über Frida | |
Kahlo bis zur Jungfrau der Guadalupe. Der Che war allgegenwärtig, wenig | |
Bilder gab es vom Subcomandante Marcos und noch weniger vom linken | |
Oppositionsführer López Obrador. | |
Dieses Jahr, zum vierzigsten Jahrestag, werden mehrere zehntausend | |
erwartet. Auf der Agenda stehen der Widerstand gegen Privatisierungspläne | |
im Erdölsektor und im Bildungswesen, die Beschneidung von Arbeitsrecht und | |
sozialer Sicherung. Protestiert werden soll zudem gegen polizeiliche | |
Übergriffe und den Angriff der kolumbianischen Armee auf ein Farc-Lager in | |
Ecuador, bei dem auch mexikanische Studierende ums Leben kamen. | |
30 Sep 2008 | |
## AUTOREN | |
Anne Huffschmid | |
## TAGS | |
Paco Ignacio Taibo II | |
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