# taz.de -- Ortsbesichtigung Lehrter Straße: Nähe Hauptbahnhof | |
> Rund um den Hauptbahnhof brummt es. Neue Quartiere entstehen, die | |
> Heidestraße ist ein Kunststandort. Doch im Schatten des Booms hat die | |
> Lehrter Straße ihren Kiezcharakter bewahrt. Noch. Eine Ortsbesichtigung | |
Bild: Es brummt rund um den Hauptbahnhof. Noch geht es entspannt zu, im umliege… | |
Oben auf der Dachterrasse ist es ruhig. Der Blick schweift über Bäume, die | |
Blätter bunt. Herbst. Über die Wiese nebenan verläuft ein Trampelpfad. | |
Kinderparadies. Auf dem Dach der Lehrter Straße 11 fällt es schwer zu | |
glauben, dass hier die Mitte einer Millionenstadt liegt. Der Hauptbahnhof | |
ist zwar nur einen Steinwurf entfernt, Zugansagen oder Verkehrslärm aber | |
dringen nicht herüber. "Wir sind ein gallisches Dorf", sagt Marion Mayr, | |
"eine kleine Welt, die funktioniert." Seit fast zwanzig Jahren ist die | |
Heidestraße 11 Marion Mayrs kleine Welt. | |
Anfang der 90er Jahre fing es an. Mit einigen Freunden hat Mayr das Haus | |
besetzt, später wurde es renoviert. Verträge kamen und zwei Töchter. Heute | |
ist die Lehrter Straße 11 ein Hausprojekt mit 32 Bewohnern - Katze Jaschi | |
ist auch dabei. Die Türen sind immer offen, beim Plenum auf der Terrasse | |
koordiniert die Gemeinschaft die Arbeitseinsätze in Haus und Hof. | |
Ganz in der Nähe des Hauptbahnhofs ist die Lehrter Straße 11 ein Symbol für | |
eine Straße, die ihr Gesicht bewahrt hat. Eine erstaunliche Vielfalt auf | |
1.200 Meter Länge - Berliner Mikrokosmos. Wer vom Hauptbahnhof in die | |
Straße biegt, beginnt mit dem "Lehrter Snack". Dahinter liegt die Diakonie. | |
Neben der Wiese, die an die Lehrter Straße 11 anschließt, schauen die | |
Angestellten der indonesischen Botschaft aufs Gefängnis. Deren Insassen | |
wiederum können mit etwas Glück auf die "Kulturfabrik" samt Kino und Disko | |
blicken. Daneben ist eine kleine Moschee in einen Mietswohnungsblock | |
eingepasst. Das Nordende der Lehrter ist fest in türkischer Hand, Bäcker | |
und Dönerbude inklusive. | |
Das überrascht auch Ephraim Gothe. Es sei schon "etwas überraschend", dass | |
sich die Straße so lange so wenig verändert habe, sagt der Baustadtrat von | |
Mitte. In seiner Stimme liegt Erstaunen. Schließlich sind Heidestraße und | |
Humboldthafen die Hoffnungsgebiete der Stadtentwickler. Dort sollen in den | |
nächsten Jahren Kunst, Wohnen, Gewerbe kommen - geklotzt natürlich, nicht | |
gekleckert. | |
Die Lehrter Straße steckt in der Klemme. Mit der Ansiedlung des | |
Innenministeriums hat sich auch in Moabit etwas getan. Das Spreeufer ist | |
herausgeputzt. Am Hauptbahnhof selbst wurde gerade der Startschuss für neue | |
Hotels gegeben. Auch städtebaulich soll aus dem ehemaligen "Lehrter | |
Stadtbahnhof" nun endlich ein "Hauptbahnhof" werden, mit einem schicken | |
Hauptbahnhofsviertel drum herum. | |
In der Lehrter Straße, der der Provinzbahnhof einmal den Namen gab, | |
beobachten sie das Ganze mit einer Mischung aus Furcht und Desinteresse. | |
"Wir sind wie eine langgezogene Insel", sagt Marion Mayr. "Irgendwie hatten | |
wir immer eine hervorragende Kiezkultur, es war ein festes Gefüge." Wenn | |
Mayr, die als Tänzerin arbeitet, über die Straße spricht, fällt sie in die | |
Vergangenheitsform. | |
Aber sie spricht auch noch im Präsens. Über die acht Kinder im Haus, über | |
die Wiese, auf der sie spielen, über die Bäume des Nachbargrundstücks. "Für | |
die Kinder ist das ein Traum - und für uns auch", sagt die 45-Jährige. Ein | |
Stück Landleben im Herzen der Stadt. Wer Glück hat und ein bisschen Geduld, | |
kann in der Dämmerung einen streunenden Fuchs erspähen. | |
Vielleicht ist das Idyll bald Vergangenheit. Auf der Brache zwischen der | |
Lehrter 11 und der indonesischen Botschaft soll ein Hostel entstehen. | |
Sieben Stockwerke, Dachbar, mehr als 800 Betten. Wer auf der Terrasse der | |
Lehrter 11 sitzt, blickt dann in die Hostelzimmer statt auf die Bäume im | |
Park. Die Partygäste in der Bar wiederum können der Hausgemeinschaft beim | |
Abendessen aufs Brot schauen. | |
Deren Bewohner sind über die bisherigen Pläne entsetzt. "Das kannste dann | |
total vergessen hier, da musst du wegziehen", sagt Sibylle Heck, eine | |
weitere Bewohnerin des Hausprojekts. Nicht gegen die Bebauung an sich | |
wehren sich die Anwohner - dass sich die Straße verändern wird, haben sie | |
verstanden. Sie wollen es nur eine Nummer kleiner. "Eine Pension oder so, | |
etwas, das sich einfügt", sagt Mayr. | |
Doch es soll ein Mega-Hostel sein. Nach der bisherigen Planung muss auch | |
die Kastanie vor dem Grundstück weichen. Ihr Stamm hat einen Umfang von | |
zwei Metern, zweimal die Spannbreite von Kinderarmen. Wo der Baum steht, | |
sollen die Reisebusse zum Hostel fahren, an den Kinderzimmern von Nummer 11 | |
vorbei. Die Einfahrt müsse auf die andere Grundstücksseite gelegt werden, | |
fordert Mayr deshalb. Ein vorstellbarer Kompromiss sei auch, die | |
Geschosszahl zu verringern, damit den Nachbarn die Sicht bleibt. | |
Mayr und ihre Mitbewohner haben inzwischen einen Anwalt eingeschaltet. Und | |
sie haben sich an den Bezirk gewandt, an das Stadtplanungsamt und an Gothe | |
von der SPD. Der musste sich erst mal mit der Situation vertraut machen. | |
Zunächst erklärte er, das Hostel sei sowieso schon genehmigt. Später hieß | |
es: Grundsätzlich begrüße der Bezirk ein Hostel auf dem Gelände. Doch die | |
derzeitigen Pläne seien problematisch. | |
In der vergangenen Woche sprach Baustadtrat Gothe deshalb mit den | |
Investoren. "Ich habe gesagt, sie müssen tiefer werden." Der Stadtrat sagt, | |
er finde es wichtig, die Wohnqualität in der Straße zu halten. Die | |
Hostel-Investoren wollen nun prüfen. Sollten sie nicht einlenken, hat Gothe | |
noch ein Druckmittel in der Hand: Die Baugenehmigung ist noch nicht | |
erteilt. | |
300 Meter straßenaufwärts sitzt Martin Pohlmann in seinem Café. Er ist | |
allein. Gäste verirren sich um die Mittagszeit selten ins "Moab". Pohlmann | |
hat die Musik lauter aufgedreht als sonst, deutscher Hiphop. Er bietet | |
Sandwiches an, Gouda und Salami für zwei Euro, Kirschkuchen, Kaffee. "Ein | |
paar mehr Gäste wären schon schön", sagt der 35-Jährige. "Seit Jahren | |
schlägt man sich so durch hier." Ein Hostel fände er nicht schlecht, dann | |
käme Leben in die Straße, frische Luft. "Ohne Input von außen wird es hier | |
immer mehr zum Kosmos, der unter sich funktioniert." Das sei wenig | |
inspirierend, findet er. Pohlmann wünscht Veränderung, und zwar zügig. | |
Er weiß aber auch, dass andere sich davor fürchten. Pohlmanns Tochter geht | |
gleich gegenüber zum Ballettunterricht - bei Marion Mayr. Pohlmann versteht | |
die Ängste in der Lehrter Straße 11. Auch seine Tochter spielt mit den | |
Kindern aus dem Hausprojekt an der dicken alten Kastanie. "Vielleicht | |
findet sich ein Kompromiss", sagt er. | |
Ein Gast gesellt sich zu Pohlmann. Uwe Stuppek, er kommt oft mittags auf | |
Kaffee und Kuchen vorbei. Gleich nebenan arbeitet Stuppek - als Betreuer | |
für Demenzkranke. Auch er fände ein bisschen Schwung im Kiez nicht | |
schlecht. Gerade im Norden der Straße, dort, wo es eher ärmlich zugeht. | |
"Die Leute würden gern zwei Bier trinken, aber sie haben nur Geld für | |
eins." Stuppek glaubt, dass es vor allem der Migrantenanteil in diesem Teil | |
der Straße sei, der eine Aufwertung wie in Mitte oder Prenzlauer Berg | |
bisher verhinderte. "Diese Leute lassen sich nicht vertreiben, das mit dem | |
Verdrängen funktioniert hier nicht." | |
Ortswechsel. In die Disko der Kulturfabrik kommen vor allem die jungen | |
Leute aus dem Kiez. Auch das Kino mit seinem einen wöchentlichen Film hat | |
ein begrenztes Einzugsgebiet. Als sich neben der ehemaligen | |
Heeresschneiderei unweit des Gefängnisses die Künstlerin Katharina Grosse | |
ein Atelier und ein Büro einrichtete, war das wie ein Paukenschlag. | |
Über die erste Künstlerin in der Straße schrieb auch Susanne Thorka vom | |
Betroffenenladen Lehrter Straße im Internetforum "Moabit online": "Von Zeit | |
zu Zeit sind Studenten an der Ecke zu entdecken, Fotoapparate klicken, ich | |
kenne allerdings keine Anwohner, die das Ganze für eine Augenweide halten." | |
Grosse hatte sich nicht für einen Altbau entschieden, sondern für einen | |
grauen Betonklotz mit unregelmäßig eingelassenen Fenstern. Wie ein Bunker | |
sieht er aus, kalt. Er gehört nicht dazu - wie die Künstlerin. | |
Cafébesitzer Pohlmann - er ist in der Szene der benachbarten Kulturfabrik | |
verankert - hat den Einzug Grosses mit Interesse beobachtet. Er hält sie | |
für eine Vorreiterin. Immer mehr Künstler aus Prenzlauer Berg fragten in | |
der Straße an, sagt er. "Das schwappt langsam rüber, es wird denen zu teuer | |
in den Szenenkiezen." Er hofft dadurch auf ein Beleben der Szene, Impulse | |
für die Künstler in der Kulturfabrik. Auch Baustadtrat Gothe sieht Grosse | |
als Zeichen dafür, dass die Kunstszene einsickert. | |
Stimmt, bestätigt Michael Schmidt vom "MS-Immobilienservice". "Ich gehe | |
davon aus, dass wir in drei bis vier Jahren eine ähnliche Bewohnerstruktur | |
wie in Prenzlauer Berg haben." Die Zahl der Anfragen, die ihn in seinem | |
kargen, funktionalen Büro gegenüber dem "Moab" erreichen, ist in letzter | |
Zeit deutlich gestiegen. "Wir haben schon jetzt nahezu hundert Prozent | |
Vermietung." | |
Baustadtrat Gothe gibt sich optimistisch:"Ich glaube nicht, dass es hier zu | |
einer Verdrängung kommt." Allerdings: Wie sich die Straße so lange den | |
Einflüssen von außen verschließen konnte, während Mitte und Prenzlauer Berg | |
Charakter und Gesicht komplett veränderten, das weiß er auch nicht. | |
Vielleicht hätte er auch gar nicht so viel dagegen. Das gemächliche | |
Erwachen der Lehrter Straße aus dem Dornröschenschlaf gefällt ihm. | |
Möglicherweise könnte ganz Moabit davon profitieren. | |
Auf dem Dach der Lehrter Straße 11 hofft Marion Mayr noch immer, dass sie | |
glimpflich davonkommt. Nachdenklich schaut sie auf die Kastanie und den | |
Trampelpfad. Und fällt immer schneller in die Vergangenheitsform: "Ich | |
dachte immer, wir werden hier alt, wir ziehen hier nie mehr weg", sagt | |
sie.Wenn das Hostel steht, können die Gäste den Nachbarn beim Abendbrot | |
zuschauen | |
Baustadtrat Gothe gefällt das Erwachen der Straße, Moabit könnte | |
profitieren | |
18 Oct 2008 | |
## AUTOREN | |
Kristina Pezzei | |
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Verdrängung | |
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