# taz.de -- Gerüchte um unveröffentlichte Songs: Die Spitze des Eisbergs Dylan | |
> Um Bob Dylans Studio-Sessions ranken sich die irrsten Gerüchte: Gibt es | |
> noch ein unveröffentlichtes Werk? Die neue CD-Box "Tell Tale Signs" hebt | |
> Schätze aus den Jahren 1989-2006. | |
Bild: Kennen wir nur einer Bruchteil der Songs von His Bobness? | |
Ein "tell-tale sign" bezeichnet im Amerikanischen einen Wink mit dem | |
Zaunpfahl, ein Indiz, etwas, das auf etwas anderes verweist. So gesehen, | |
sind die 39 Songs, welche die 3-CD-Kopplung "Tell Tale Signs - Rare and | |
Unreleased, 1989-2006" versammelt, Erinnerungen daran, dass Bob Dylan in | |
den letzten 20 Jahren nicht untätig war. | |
Dylan ist in dieser Zeit eines der bemerkenswertesten Comebacks der | |
Rockgeschichte gelungen. Aus einem orientierungslosen Dasein als Has-been | |
der Achtzigerjahre erzwang der Sänger mit großer Beharrlichkeit die eigene | |
Wiederauferstehung. Die Songs wirken in ihrer Zusammenstellung wie ein | |
Mahnmal: späte Dokumentation einer Verwandlung. "Bootleg Series" heißen | |
sie, weil viele der Aufnahmen in Sammlerkreisen bereits kursieren. | |
Dylan war nicht nur der erste Rockstar, von dem überhaupt je ein Bootleg | |
erschien - er dürfte heute auch der am besten kartografierte Musiker | |
unserer Zeit sein. Mit Ausnahme einer Handvoll obskurer Konzerte, die Dylan | |
auf dem Mond, im Kindergarten seiner Enkel und bei den Weltjugendspielen im | |
Andropow-Moskau gegeben haben soll, gibt es Aufnahmen aller Konzerte des | |
Sängers. Um unveröffentlichte Studioaufnahmen hingegen ranken sich die | |
wildesten Gerüchte. Der Sänger selbst hat den Forschungsdrang der | |
Dylan-Hermeneutiker ins Absurde gesteigert, als er - aus Dämlichkeit oder | |
aus Genialität - seinen meisterhaften Song "Blind Willie McTell" von 1984 | |
einfach nicht auf seinem bis heute höchst zerfahren wirkenden Album | |
"Infidels" veröffentlichte. Aber natürlich bahnte sich der Song, ebenso wie | |
ungezählte andere vorher und danach, als Bootleg seinen Weg. Mehr noch: Der | |
Mythos, dass Dylan gleich einem Eisberg den Großteil seiner Masse unter der | |
eigenen Meeresoberfläche unsichtbar hält, führt seitdem zu den | |
irrwitzigsten Spekulationen. | |
Das liegt unter anderem an der Qualität der Aufnahmen, aber auch an dem | |
äußerst zeitgemäßen Kunstbegriff, der Dylans Arbeit am Liedwerk durchzieht | |
- das ganz Alte, also die Tradition der Folk- und Bluesmusik, verbindet er | |
mit dem ganz Neuen, dem Aneignen, dem Zitieren, dem Collagieren. "Dylan war | |
der erste postmoderne Musiker, er war stets anders zu sich selbst und | |
anders zu den anderen", erklärte unlängst Alexander Kluge des Sängers Modus | |
Operandi. Zudem wurden aus dem erweiterten Bekanntenkreis des Künstlers | |
seit jeher Spekulationen genähert, dass Dylan nicht nur von jedem Song | |
etliche Varianten aufzunehmen pflegt, ergo ganze virtuelle Alben an | |
Alternativmaterial irgendwo existieren müssen, sondern darüber hinaus auf | |
jede veröffentlichte Platte ungezählte unveröffentlichte Songs fallen. | |
So erwähnte Larry Charles, der Regisseur des glücklosen Dylan-Films "Masked | |
and Anonymous", dass man während der Dreharbeiten im Jahr 2002 rund "26 | |
Stunden Musikaufnahmen eingespielt habe". Dylan habe auf der studioeigenen | |
Sound-Stage in den Drehpausen kurzerhand seinen gesamten Backkatalog | |
akustisch katalogisiert. Im Film selbst tauchen gerade einmal sechs Songs | |
in vitalen Versionen auf - was mit den restlichen Stunden geschah, ist | |
Stoff für Spekulationen. Wendet Dylan doch live und in Situationen wie der | |
von Charles genannten eine Methode an, die naheliegend für alternde | |
Künstler ist: das eigene Werk zu durchschreiten und Fußnoten hinzuzufügen. | |
Picasso hat es so in seinem Spätwerk getan, und Dylan tut es, indem er sein | |
Songbook Jahr für Jahr Revisionen unterzieht, Songs nie gleich klingen | |
lässt. | |
Ein gerüchteumrankter Songzyklus, der nie das Licht der Welt erblickte, | |
sind die 30 Songs aus den sogenannten "Bromberg Sessions", die Dylan 1992 | |
mit der Band des Gitarristen David Bromberg in Chicago aufgenommen hat. | |
Vier wundervoll gesungene Songs fanden zwischenzeitlich in erbärmlicher | |
Klangqualität den Weg ins Freie und befeuern seitdem die Gerüchteküche. Wie | |
wohl die restlichen Aufnahmen geklungen haben mögen? Warum überhaupt wurde | |
das Album zurückgezogen? Angeblich hat Dylan gar darauf gedrungen, die | |
Bänder löschen zu lassen. Offenbar scheint dies nicht geschehen zu sein. | |
Denn auf "Tell Tale Signs" findet sich mit "Duncan And Brady" und "Miss The | |
Mississippi" jetzt tatsächlich zwei Bromberg-Titel - Ersteres ein | |
Traditional, dessen Zeile "I shoot somebody just to watch him die" wie | |
keine zweite die Kehrseite des amerikanischen Freiheitsverständnisses | |
formuliert, Letzteres eine herzerweichende Ballade von Jimmie Rodgers. | |
Herausragend sind auch die zwei Outtakes aus Dylans intimen "Good as I Been | |
to You"-Sessions von 1992, als sich der Sänger mit hörbar gealterter Stimme | |
in die amerikanische Tradition begab: Robert Johnsons "32-20 Blues" und das | |
Traditional "Mary and the Soldier" gehören zu den Kraftzentren der | |
Compilation, allerdings erinnert das Fehlen des zärtlichen, einst auf dem | |
Soundtrack zu "Natural Born Killers" veröffentlichten "You Belong to Me" | |
daran, dass hier vermutlich noch ganz andere bemerkenswerte Aufnahmen | |
hätten ausgegraben werden können. | |
Die zentrale Personalie der Veröffentlichung und somit gewissermaßen der | |
rote Faden von "Tell Tale Signs" ist jedoch der kanadische Produzent und | |
Musiker Daniel Lanois. Der einstige Tonassistent von Brian Eno und | |
verantwortlicher Gestalter des Sounds teilweise grenzwertiger Alben von U2, | |
Peter Gabriel und Willie Nelson, ist an erster Stelle zu nennen, wenn es | |
darum geht, wie Dylan sein in jeder Hinsicht bemerkenswertes Comeback Ende | |
der Achtziger einleitete. Lanois war der Produzent der Dylan-Alben "Oh | |
Mercy" von 1989 sowie "Time Out of Mind" von 1997. | |
Auf "Tell Tale Signs" wird zunächst die von Kluge als "postmodern" | |
bezeichnete Arbeitsmethode Dylans vorgeführt - beispielhaft anhand | |
verschiedener Aggregatzustände von Songs, die in Zusammenarbeit mit Lanois | |
entstanden. Hier und jetzt klingen diese neuen alten Lieder, teilweise gar | |
in unterschiedlichen Versionen festgehalten, mitreißend, leidenschaftlich, | |
entkernt, kraftvoll. Alleine sieben Outtakes in zehn Versionen stammen aus | |
den "Oh Mercy"-Sessions, und es wird angesichts dieser Fülle deutlich, dass | |
Dylan 1989 ohne Mühe ein ganz und gar anderes Album hätte veröffentlichen | |
können: ein rein akustisches in der Manier seines "Another Side of Bob | |
Dylan"-Albums von 1964, ein Album im Rockabilly-Stil, eine soulvolle | |
Gospelplatte. | |
In ihrer aktuellen Titelgeschichte befragte die englische Musikzeitschrift | |
Uncut eine Reihe von Musikern und auch Daniel Lanois selbst nach dem | |
enigmatischen Dylan und seiner Arbeitsweise und montierte die Aussagen zu | |
einer Oral History. In dem Flow der Erinnerungen und Aussagen schält sich | |
vor allem eines heraus: Der Mann ist ein Eigenbrötler, unberechenbar, mit | |
eigenem Tagesrhythmus, ungreifbar, vom Wandertrieb geleitet, wortkarg, | |
unsichtbar, plötzlich da, schon wieder weg, der sein Hauptquartier auf | |
einem Stuhl bei der Kaffeemaschine bezieht und, während die Musiker im | |
Studio stundenlang auf ihn warten, unentwegt neue Cut-ups aus mitgebrachten | |
Textnotizen zusammensetzt. Bis wieder ein Song fertig ist. Oder auch nicht. | |
Denn das ist es, was diese Arbeitsweise ausmacht: Material aus | |
unterschiedlichsten Quellen so zusammenzufügen, dass etwas Neues entsteht. | |
Der Song "Dreamin of You" beispielsweise hat es seinerzeit nicht in die | |
finale Songauswahl des "Time Out Of Mind"-Albums geschafft. Einige Zeilen | |
in ihm kommen dem Dylanhörer indes bekannt vor. Kein Wunder: Wissend, dass | |
der Song unveröffentlicht bleiben soll, räuberte der Sänger einfach bei | |
sich selbst und zitierte besonders passende Zeilen in späteren Songs. Man | |
kann "Tell Tale Signs" in diesem Sinne als Offenlegung eines work in | |
progress, als Transparentmachung von Arbeitsprozessen lesen, als Blick in | |
die Werkstatt des Songschmieds. Allein von dem Song "Mississippi", | |
ebenfalls so eine Lanois-Produktion, gibt es drei musikalisch und textlich | |
völlig unterschiedliche Versionen; der Song "Cant Wait" kommt in zwei | |
Zwischenständen daher. Gemeinsam haben die Songs nur, dass sie kaum | |
Ähnlichkeit zu ihren Versionen auf den schlussendlich veröffentlichten | |
Studioalben aufweisen. | |
Angesichts dieses faszinierenden Einblicks in die Arbeit im Studio (und | |
Dutzenden weiterer verfügbarer Songs) ist es nicht leicht nachzuvollziehen, | |
warum man sich bei den an Höhepunkten reichen "Tell Tale Signs" nicht auf | |
Outtakes und Versionen beschränken wollte. Bisweilen willkürlich wirkende | |
Hinzufügungen von Liveaufnahmen aus den Nullerjahren zerren unbarmherzig an | |
der Geschlossenheit. So gibt "Tell Tale Signs" nicht nur Antworten. Die | |
Frage, weshalb es bis heute kein offizielles Livealbum gibt, das die | |
situativen Konzertimprovisationen von Dylans mittlerweile ins 21. Jahr | |
gehenden, sogenannten "Never Ending Tour" nachvollzieht, bleibt offen. | |
Dabei beschreibt gerade die situative Improvisation, die Dylan Nacht für | |
Nacht seinen Musikern abverlangt, wenn er Songs von einem Tag auf den | |
anderen neu arrangiert, wenn er ungeprobte Stücke in die Setlists einfügt, | |
wenn er Songs anders instrumentiert. Tausende von Konzerten hat Dylan in | |
den letzten 20 Jahren gegeben, mit vielen Tiefen und stellaren Höhepunkten. | |
Eine kluge Zusammenstellung eines idealisiert-fiktiven, aus lauter besten | |
Versionen zusammengeschnittenen Livealbums würde angesichts der Komplexität | |
des Unterfangens neue Maßstäbe in dem totgeglaubten Genre des Livekonzerts | |
als Albumveröffentlichung setzen. | |
So ist "Tell Tale Signs" zweierlei: Erstens eine Sammlung von so vielen | |
fantastischen Songs, dass es schier unglaublich ist, dass die meisten Songs | |
zuvor nie offiziell veröffentlicht wurden. Zweitens ist es auch eine | |
vergebene Chance, dieser Kopplung eine enorme Gravität zu verleihen. | |
26 Oct 2008 | |
## AUTOREN | |
Max Dax | |
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