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# taz.de -- Straßenmagazin wird 15: Der Traum von der geheizten Wohnung
> Das Hamburger Straßenmagazin "Hinz&Kunzt" ist das auflagenstärkste in
> Norddeutschland. Die Zeitung ist gerade 15 Jahre alt geworden, gibt sich
> aber immer noch so kämpferisch wie in den Anfängen.
Bild: Will das Heft zu einer Stimme der Armen machen: Birgit Müller, Chefredak…
Was das Ganze soll, steht gleich auf den ersten Seiten der
Geburtstagsausgabe: Sieben Verkäufer der Hamburger Obdachlosenzeitung
Hinz&Kunzt zeigen, wo sie jetzt leben - im vierten Stock eines Altbaus in
Eimsbüttel, in einer Erdgeschosswohnung in Wandsbek, in Langenfelde, in
Wilhelmsburg, in Barmbek. Daneben prangt, seitengroß, jeweils ein Foto
ihrer bisherigen Schlafplätze: vor dem Notausgang eines Kaufhauses, auf
einer Bank im Alsterpark, im Rohbau eines Hauses oder - der Klassiker -
unter der Brücke. Die Überschrift: "Ich hol mir so schnell ne Erkältung."
Die gar nicht zu sehr versteckte Botschaft: Manchmal geht es auch wieder
aufwärts.
Die Regel sind solche Erfolgsmeldungen nicht - und das liegt nicht daran,
dass in der auflagenstärksten Straßenzeitung des Nordens für gute
Nachrichten kein Platz wäre. Hinz&Kunzt will alles sein, nur kein
Jammerblatt, sagt Chefredakteurin Birgit Müller. Nur, für einen nicht
unerheblichen Teil der rund 400 Hinz&Kunzt-Verkäufer führt der Weg nach
getaner Arbeit nicht in eine geheizte Wohnung, sondern unter Brücken und in
Hauseingänge.
Einverstanden waren die Macher von Hinz&Kunzt damit nie: Zwei Jahre
vielleicht, lautete das Credo, dann würde die Angelegenheit erledigt sein.
"Wir dachten, wir könnten alle Obdachlosen in Hamburg" - 500 nach
offizieller Schätzung - "über unser Projekt in Wohnungen vermitteln und das
Problem dann ad acta legen", sagt Müller. Sie seien damals "sehr
euphorisch" gewesen, "echte Idealisten". Das sei sehr, sehr naiv gewesen -
in den 15 Jahren, die seither vergangen sind, hat sich die Zahl der
Obdachlosen in Hamburg verdreifacht.
In dieser Zeit ist die Auflage von Hinz&Kunzt gestiegen und wieder
gefallen. Erst waren es 30.000, dann sehr schnell 120.000 und kurzfristig
sogar 180.000 Exemplare. Heute sind es rund 60.000 Magazine, die die
Hinz&Kunzt-Verkäufer an ihre Kunden bringen - an U- und S-Bahnhöfen, in
Ladenstraßen und vor Supermärkten. "Ich stelle aber fest: Wir werden
ernster genommen, auch wenn die Auflage gesunken ist", sagt Müller.
Dennoch ist diese Zahl nicht nur für Werbekunden wichtig. 60.000 Exemplare
heißt auch: 60.000 Mal bleibt ein Kunde stehen, 60.000 Mal verdient ein
Verkäufer daran 90 Cent, zuzüglich Trinkgeld. Und 60.000 Mal entsteht ein
kurzes Gespräch - besonders dann, wenn der Kunde regelmäßig kauft.
Damit aus Kunden Stammkunden werden, habe jeder Verkäufer einen fixen
Platz, sagt Müller. Dabei sei man "auch im Speckgürtel präsent". Etwa mit
Gustav, der mit Handwagen und Schild mitten in einer Lüneburger
Einkaufsstraße steht. "Immer in der ersten Woche im Monat, Sommer wie
Winter", sagt er - im Winter mit drei Sockenpaaren in den Stiefeln. "Geht
aber nicht anders", sagt Gustav. Seine Kunden wüssten, dass er da sei.
Verkauft habe er schon 1994, erzählt er. Zwischendurch hatte er dann einen
Job bei der Stadt Hamburg, dann einen Dienstunfall - "und dann", sagt er,
"ging es weiter". Zum Glück habe er jetzt einen Wohnheimplatz in Lüneburg -
aber jetzt müsse er sich entschuldigen, er müsse nach Hamburg, neue Hefte
holen.
Mit der Zeit, sagt Hinz&Kunzt-Chefredakteurin Müller, sei ihnen immer
klarer geworden, dass manche Menschen, die rausfliegen, nicht so einfach
wieder zurückfinden. Vielleicht hatten sie eine schlimme Kindheit,
vielleicht sind sie krank oder haben ein Problem mit Drogen oder Alkohol.
Dass die Schuld nicht nur bei den Betroffenen liegt, sondern auch an der
politischen und gesellschaftliche Gesamtsituation, habe sie erst allmählich
verstanden, sagt Müller.
Die durchschnittliche Lebenserwartung auf der Straße liegt nach Angaben des
Hamburger Instituts für Rechtsmedizin bei knapp 47 Jahren. "Das", sagt
Müller, "war für mich ein Schock." Angesichts dieser Tatsache will die
Redaktion "eine Stimme sein, eine soziale Stimme in dieser Stadt" - eine
Lobby für Obdachlose und alle, die von Armut betroffen sind.
Die Idee, das Obdachlosenmagazin zu gründen, hatte der damalige
Diakonie-Chef Stephan Reimers. Der habe eine Gruppe aus engagierten
Interessierten zusammen getrommelt, erinnert sich Müller - sechs,
vielleicht sieben Leute, zur Hälfte mit festem Wohnsitz, zur Hälfte ohne.
"Wir hatten den Eindruck, die Idee liegt in der Luft." Nicht, weil sich in
Hamburg jeder plötzlich mit Obdachlosigkeit befasst hätte. Sondern weil
viele Menschen das Gefühl hatten, dass die Gesellschaft dabei sei, spürbar
kälter zu werden.
Tatsächlich erschien drei Wochen vor der Erstausgabe von Hinz&Kunzt die
erste Ausgabe des Straßenmagazins BISS - in München. Auch in Braunschweig
wurde mit Parkbank eine Straßenzeitung gegründet. Es folgten Abseits in
Osnabrück, Asphalt in Hannover und schließlich Hempels in Kiel.
Den ursprünglichen Plan, die Zeitung größtenteils ehrenamtlich zu
erstellen, musste die Redaktion schnell aufgeben: "Das ging gar nicht",
sagt Müller. Vor dem Erscheinungstag der ersten Ausgabe seien sie da
gesessen, hätten auf leere Blätter geguckt und nicht gewusst, wie sie die
Zeitung füllen sollten. "Es gab zwar viele tolle Journalisten, die
ehrenamtlich helfen wollten", sagt Müller. "Aber wie das bei Journalisten
so ist: Die tollen haben viel zu tun."
Wie viel Geld ins Magazin fließen soll, wird heiß diskutiert. Einerseits
muss sich die Redaktion selbst tragen, andererseits soll noch Geld für die
Sozial- und Lobbyarbeit bleiben. Das Geld, sagt Müller, komme
ausschließlich aus Spenden und dem Verkauf.
Ins Heft kommen nicht nur Lebensgeschichten, sondern auch das, was
sozialpolitisch und gesellschaftlich von Belang ist. Und natürlich: Kunst
und Kultur. "Manchmal würde ich gerne richtig vom Leder ziehen", sagt
Müller. "Aber das tun wir nicht. Wir wollen nicht platt und reißerisch
sein." Was in Hinz&Kunzt veröffentlicht werde, sei immer auch ein
Kompromiss "zwischen den Obdachlosen und uns".
Gestern, sagt Müller dann noch, habe ihr ein Verkäufer einen Brief
gebracht. Darin schrieb er, Hinz&Kunzt sei weniger politisch geworden. "So
etwas", sagt Müller, "nehme ich sehr ernst."
5 Nov 2008
## AUTOREN
Florian Zinnecker
## TAGS
Obdachlosigkeit
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