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# taz.de -- Leben wie im 17. Jahrhundert: Hummer und Knödel
> Im kanadischen New Brunswick an der Atlantikküste pflegen die Akadier
> ihre Kultur. Im historischen Akadier-Dorf mit seinen 30 Original-Gebäuden
> erwacht die Vergangenheit anrührend und skurril
Bild: Holzschuhe - getragen von einer Akadierin in Kanada
Endlich Mittag! Erleichtert legt Witwer Marten das Messer beiseite, mit dem
er lange Streifen von einem Birkenstämmchen geschnitten hat, um einen Besen
"indianischer Art" daraus zu binden. Dann schlurft in seinen schweren
Holzschuhen hinüber zum gemauerten Ofen. Freundlich blinzelt der alte Mann
durch seine randlose Brille den Besuchern zu. "Für den Wald habe ich mir
bei meinen indianischen Nachbarn ein paar Mokassins eingetauscht. Wir
Akadier kommen mit den Mik’maq ja bestens zurecht." Die Pfanne mit Lachs
und Kartoffeln duftet, draußen knirscht ein Pferdefuhrwerk vorbei und dann
kommt auch noch der Schmied auf einen kurzen Schwatz herüber.
Ganz so gemütlich wie im "Village Historique Acadien" bei Caraquet in New
Brunswick ging es Ende des 18. Jh. nicht immer zu in L’Acadie. Es sind
bewegte Zeiten in jenem Gebiet an der kanadischen Atlantikküste, das heute
zu den Provinzen New Brunswick, Nova Scotia und Prince Edward Island
gehört. Ist ja noch nicht lange her, dass die Briten sie, die französischen
Siedler, 1755 bis 1762 in Schiffe gepfercht und verschickt haben nach
Massachusetts und in die Sümpfe von Louisiana, weil sie keinen Treueeid auf
die britische Krone leisten wollten. Erst seit kurzem hat man ihnen
erlaubt, zurückzukehren. Die schönen Farmen freilich, die sie ein
Jahrhundert lang aufgebaut haben, sind jetzt in britischer Hand, ebenso das
Land, das sie mit Deichen dem Meer abgerungen haben. Ein harter Verlust –
hatte doch der Küstenstrich ihre Vorfahren an das gelobte Land, das
mystische Arkadien Griechenlands, erinnert, als sie Mitte des 17.
Jahrhunderts aus der Bretagne und der Normandie herübergekommen waren. Neu
anfangen heißt es jetzt. In kleinen Dörfern, wo niemand sich an ihrer
französischen Sprache und ihrem katholischen Glauben stört.
Heute betrachten sich eineinhalb Millionen Menschen weltweit als Nachkommen
der Akadier. 300 000 davon leben an der Ostküste von New Brunswick. Auf der
sogenannten Akadischen Halbinsel im Nordwesten erstrecken sich lange
Strände, Blaubeerbüsche setzen im Herbst die Moore in Farbenfeuer. Hunderte
von Robben aalen sich auf den Sandbänken vor den Naturschutzgebieten. In
den Wäldern tummeln sich Schwarzbären. In Dörfern wie Caraquet und Grand
Anse säumen weiße Holzhäuser mit penibelst geschnittenem Rasen
kilometerlang die Straßen – sehr gesittet und ein wenig provinziell. Die
Vergangenheit aber, von 1770 bis 1920, erwacht im historischen Akadierdorf
mit seinen 30 Originalgebäuden zum Leben. Beim Schindelmacher fliegen die
Späne, der Bettler pöbelt auf der Straße, und im Restaurant "La table des
ancêtres" serviert man "poutine rapées avec cochon", Kartoffelknödel,
gefüllt mit gepökeltem Schweinefleisch – nur echt mit Zucker darüber.
Solches Arme-Leute-Essen findet sich in den Restaurants an der Küste heute
nur noch selten. Dort stehen auch frische Austern auf der Karte – und
Hummer. Alain Champoux macht die Krustentiere zum Mittelpunkt einer
kompletten Show. Während der zweistündigen Bootsfahrt in die Bucht von
Shediac holt er Hummerfallen aus dem Wasser, in denen sich "zufällig" ein
Weibchen und ein Männchen gefangen haben. Er erklärt, wie man mit einer
Zange Gummiringe über die fingerknackenden Scheren schiebt, beschreibt, wie
die Tiere sich mit bis zu 30 km/h im Wasser fortbewegen, und erzählt vom
blauen Hummer im Aquarium von Shippagan, einer Laune der Natur, die einmal
unter 25 Millionen vorkommt. Am Ende geht es in die Praxis: Die Besucher
lernen, die Krustentiere fachgerecht zu knacken. Erst wenn der Saft
spritzt, die Schalen krachen und der ganze Mensch sich einsaut, ist der
Genuss vollkommen. Hummer vom Silbertablett? Was für ein Stilbruch, lacht
der blonde Strahlemann.
1960 wurde mit Louis J. Robichaud ein Akadier zum Präsident von New
Brunswick gewählt. Er führte Französisch offiziell als zweite Landessprache
ein und eröffnete den Akadiern gleiche Bildungs- und Karrierechancen.
Seitdem ist ihr Selbstbewusstsein enorm gewachsen. Über Tankstellen,
Stadien und Fischerbooten weht die blau-weiß-rote Flagge, selbst
Gartenzäune, Telegrafenstangen und ganze Leuchttürme streicht man in den
akadischen Farben und setzt den gelben Stern dazu, der für die
Schutzpatronin Maria steht. Ihre leidvolle Geschichte als Abkömmlinge der
ersten französischen Siedler an der Atlantikküste, die Sprache und der
katholische Glaube verbinden die Akadier eng und unterscheiden sie in ihrem
Selbstverständnis von den anderen Frankokanadiern, etwa in Québec.
Der Höhepunkt im kulturellen Leben der Volksgruppe war das Jahr 1979, als
mit Antonine Maillet erstmalig eine akadische Autorin den französischen
Prix Goncourt gewann. "La Pays de la Sagouine", ein 1992 nachgebautes
akadisches Dorf in einem See bei Bouctouche, erweckt das Personal ihrer
Romane zum Leben. In den Häusern regieren bigotte Witwen, fröhliche Säufer
stehen an den Ecken und die Töchter des Friseurs rennen streitend durch die
Straßen – es ist das anrührende wie skurrile Ensemble einer nicht ganz
untergegangenen dörflichen Welt: Akadien lebt.
20 Nov 2008
## AUTOREN
Franz Lerchenmüller
## TAGS
Reiseland Kanada
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