# taz.de -- Debatte "Fälle" wie Kundera: Der Fluch der späten Geburt | |
> Der "Fall" Milan Kundera zeigt: Für die Bewertung solcher Biografien gibt | |
> es kein Maß. Hinter der Abrechnung mit berühmten Autoren steht oftmals | |
> das Motiv des Vatermords. | |
Bild: Vera Kundera (m) mit ihrem Mann Milan Kundera (r) und Nicole Garcia (l) | |
Tontaubenschießen: Diesen Begriff prägte Günter Grass einst für die mediale | |
Jagd auf berühmte Autoren, als er sich über den unerhört inszenierten | |
Verriss seines Wenderomans "Das weite Feld" empörte. Er passt aber auf | |
viele Fälle - auf Kundera, Wolf, Kapuzcinski … Schützenkönig wird, wer die | |
am höchsten fliegenden Alphatiere abschießt - Nobelpreisträger, | |
verdächtigte internationale Berühmtheiten oder nationale Autoritäten. Nun | |
mag man sagen, wer sich in die Öffentlichkeit begibt, der kann auch von ihr | |
hingerichtet, verhöhnt oder schmählich ignoriert werden. Doch das heutige | |
Wühlen in den Biografien berühmter Autoren gleicht mehr einem Wettlauf von | |
Spürhunden. | |
Die Ideologie ist ehern: Die Öffentlichkeit habe ein Recht darauf, die | |
Wahrheit über das reale Leben berühmter Autoren zu kennen, über ihre | |
Winkelzüge, Frontwechsel und in den Schränken versteckten Leichen. Die | |
Wirklichkeit sieht grauer aus. Kurz nach Ryszard Kapuscinskis Tod brachte | |
die polnische Ausgabe von Newsweek ein Titelbild, auf dem der Reporter des | |
Jahrhunderts in Jeans und Sportjacke in der Badewanne saß. Die | |
Balkenlettern schrien: DIE AKTE EINES SCHRIFTSTELLERS. Darunter in | |
kleinerer Schrift: Konnte Ryszard Kapuscinski die Zusammenarbeit mit der | |
volkspolnischen Auslandsaufklärung ablehnen? Und schließlich unten, ganz | |
klein: "Aus dem Bericht des Funktionärs: Liefert keine wesentlichen | |
Nachrichten, die für uns von Interesse wären". | |
Der redaktionelle Text entsprach allen Erfordernissen der Denunziation: Es | |
wurden Decknamen genannt sowie Verwicklungen mit bekannten Personen | |
angedeutet. Für einen Anschein von Redlichkeit sorgte ein Interview mit | |
einem älteren Journalisten, der die Bedingungen gut kannte, unter denen | |
Auslandskorrespondenten wie Ryszard Kapuscinski damals arbeiteten. Doch | |
nicht das Argument, sondern die Inszenierung der Story wirkte: Seht an, er | |
auch! | |
Das komplizierte Spiel, das der Reporter mit der Stasi trieb, um eben nicht | |
mitzumachen und sich dennoch nicht die Reisemöglichkeiten zu verbauen, | |
haben Beata Nowacka und Zygmunt Zietek in ihrer soeben veröffentlichten | |
Biografie Kapuscinskis dargestellt. Dieser hatte bei seinem | |
Sichherauswinden auch die Rückendeckung seiner Chefredakteure, die ihn eben | |
als einen wildernden Reporter und nicht als ferngesteuerten Agenten haben | |
wollten. | |
Die europäischen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts stehen seit langem am | |
Pranger. Wegen ihrer Verstrickung in den Faschismus, Nazismus oder | |
Kommunismus. Wegen ihrer Kriegsbegeisterung und Mordpropaganda. Wegen der | |
Beteiligung an üblen Kampagnen gegen politische Gegner. Und eben auch wegen | |
ihrer Zusammenarbeit mit den Sonderdiensten totalitärer Staaten. Die Liste | |
ist lang. Frei nach Jaspers, schuldig waren sie fast alle - wenn nicht im | |
kriminellen oder politischen, dann doch im moralischen oder metaphysischen | |
Sinne, weil nicht imstande, das menschliche Inferno dieses totalitären | |
Jahrhunderts zu verhindern. | |
Sie stehen aber nicht nur deshalb am Pranger, weil sie vor Jahrzehnten | |
Jungnazis oder Jungkommunisten waren, sondern weil sie sich von ihrer | |
Jugendsünde entfremdeten und zu streitbaren Sozialdemokraten oder | |
Liberalkonservativen wurden. Den einen ist ihre Verwandlung nicht radikal | |
genug oder verdächtig, weil ein weltweit angesehener Autor - wie Günter | |
Grass - eine beschämende Episode aus seinem Leben erst nach sechzig Jahren | |
preisgab. Den anderen ist sie suspekt, weil er - wie Milan Kundera - die | |
Glaubwürdigkeit ihn belastender Stasi-Vermerke verneint. | |
Auch wenn beide Fälle anders gelagert sind, bekamen beide Schriftsteller | |
starke Rückendeckung. Günter Grass 2006 von den polnischen Danzigern, Milan | |
Kundera jetzt von namhaften Schriftstellern, darunter vier | |
Nobelpreisträgern. In den medialen Schaustücken dieser Art geht es zumeist | |
weniger um biografische Fakten als um die Glaubwürdigkeit von Polizeiakten. | |
In einer Strafsache aber würde es im "Fall" Kundera höchstens zu einem | |
Indizienprozess reichen. | |
Das 20. Jahrhundert war eine Epoche totalitärer Ideologien und Staaten, die | |
Einzelbiografien bis tief ins Private geprägt haben. Die Verstrickung war | |
so engmaschig, dass nur sehr wenige eine unbefleckte Weste davontragen | |
konnten. So hat jedes Land, das mit einem totalitären Regime - gleich ob | |
einem faschistischen oder stalinistischen - in Berührung kam, seine eigene | |
"hausgemachte Schande". | |
In Russland ist es der stalinistische Terror nach innen und außen, der von | |
Millionen eifriger Mittäter und Mitläufer mitgetragen wurde und nie zu | |
einem kollektiven - und ganz selten zu einem individuellen - | |
Schuldbekenntnis führte. In Italien war es die Verzauberung der besten | |
Intellektuellen durch Mussolini. In Frankreich die willige Kollaboration | |
mit Vichy und Hitler, bis hin zum Debüt des späteren Stalin-Verehrers | |
Sartre unter dem wohlwollenden Auge des nazideutschen Zensors. | |
In Deutschland war es die Verherrlichung des Krieges 1914, später des | |
revolutionären Gemetzels - des roten wie des braunen - und die | |
Akkommodation in zwei totalitären Systemen. In Polen die Selbstverleugnung | |
der Intellektuellen durch die Zusammenarbeit mit den beiden Besatzern von | |
1939, den Sowjets in Lemberg oder Wilna und den Nazis in Warschau oder | |
Krakau. Und nach dem Krieg - die Mitwirkung an der stalinistischen | |
Geschichtslüge und der Sowjetisierung des Landes. Doch wenn man das Kind | |
nicht mit dem Bade ausschütten will, sollte man voreilige Urteile vermeiden | |
- auch weil es in vielen Fällen nicht allein eine Geschichte von Schuld und | |
Sühne, sondern auch von Buße ist. Denn viele, die anfänglich der | |
totalitären Verheißung erlagen, erwachten früher oder später und trugen | |
dazu bei, dass die niederen Dämonen überwältigt wurden. | |
Kein Leben lässt sich auf eine Apothekerwaage legen, lässt sich wiegen und | |
messen wie ein Mineral. Wie soll man den Werdegang der "Renegaten" des | |
Kommunismus, wie Arthur Koestler oder Ignazio Silone, Leszek Kolakowski | |
oder eben Milan Kundera bewerten, die - wie Adam Wazyk über sich selbst | |
sagte - "verrückt wurden" und siegestrunken das Gerüst des Kommunismus mit | |
aufbauten, es dann aber als Reformer und Dissidenten niederreißen halfen? | |
Man kann die geistige Situation der Zeit rekonstruieren, die psychischen, | |
moralischen und politischen Bedingungen des Jahres 1933 oder 1950, als ein | |
Zwanzig- oder Vierzigjähriger die existenzielle Entscheidung traf, zu den | |
siegreichen Nazis oder Kommunisten zu stoßen, und nachverfolgen, wie sich | |
seine Haltung wandelte. | |
Doch Lebenswege lassen sich nur interpretieren und nicht messen. Ein | |
Nachweis der Parteimitgliedschaft reicht dazu ebenso wenig wie der der | |
Zugehörigkeit zur Waffen-SS in den letzten Kriegswochen - zumal wenn man | |
weiß, dass er zu der Zeit nicht mehr freiwillig war. Auch der Kontakt mit | |
den Sonderdiensten - wie im Falle Kapuscinskis - ist ohne genaue Prüfung | |
der Haltung des "Verstrickten", ob und wie er sich den Fängern entwand, | |
irrelevant. | |
Aber in diesem medialen Tontaubenschießen steckt noch etwas. Siegmund Freud | |
meinte, dass ein pubertierender Junge, um erwachsen werden zu können, mit | |
seinem Vater abrechnen muss. Dieser Vatermord wird auch im kulturellen | |
Leben permanent inszeniert. Die Jungen schließen sich in Gruppen und | |
Freundeskreisen zusammen, um ihre Durchsetzungskraft zu bündeln, und rufen | |
neue Kunstrichtungen aus, um sich von den "Alten" abzusetzen. | |
In der willkürlichen Postmoderne zerrinnen aber nicht nur ganzheitliche | |
Versuchungen, sondern auch reale Biografien junger Menschen. Was ist schon | |
ein Mobbing am Arbeitsplatz angesichts einer Denunziation beim NKWD oder | |
der Gestapo? Wie mickrig ist die Beschämung wegen der eigenen Hoffnungen, | |
die man in die Kaczynski-Brüder setzte, im Vergleich zum Verlust des | |
Glaubens an den Kommunismus oder dem Schock eines Jungnazis, der 1945 vom | |
Völkermord erfuhr? Das ist der Fluch unserer späten Geburt! So jammern in | |
Polen manche Jungkonservative. Es gebricht uns an prägnanten Biografien. | |
Uns fehlt eine Generationserfahrung und damit der Stoff für durchschlagende | |
Werke. Vielleicht rührt daher der Drang, die Denkmäler der Alten | |
umzustürzen. Weg mit diesen schwankenden Gestalten! | |
Und wenn einige von ihnen tatsächlich stürzen, dann bekommt man Platz auf | |
den leeren Sockeln für eigene Kollegen. Aber mit welchen Titeln? | |
20 Nov 2008 | |
## AUTOREN | |
Adam Krzemiñski | |
## TAGS | |
Literatur | |
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