# taz.de -- Gespräch über Deutsch-Türken in Berlin: "Ich bin immer noch eine… | |
> Eingesperrte Mädchen und ausgegrenzte Jungen. Die Journalistin Güner | |
> Balci erzählt von Berlin-Neukölln, den Härten des Lebens und wie man | |
> ihnen entrinnt. | |
Bild: Der Kiez, in dem die Rütli-Schule steht, ist mittlerweile hip. Die Schul… | |
taz.mag: Frau Balci, Sie wohnen nicht mehr in Ihrem Berliner Heimatviertel, | |
dem berüchtigten Neukölln, sondern in der hippen Mitte. Nervt es Sie nicht, | |
dass das hier eigentlich auch eine sogenannte Parallelgesellschaft, eine | |
abgeschottete Gesellschaft, ist? | |
Güner Balci: Doch, extrem. Ist ganz schön anstrengend, manchmal. Es ist ja | |
nie gut, wenn es keine gemischte Gesellschaft ist, egal wo. | |
Bürgerliche Mittelschicht, die in "Kreativberufen" tätig ist - Ihr neuer | |
Kiez fällt schon auf. | |
Total. Vor zwanzig Jahren war das in Berlin noch anders. Klar, es gab immer | |
soziale Randgruppen, aber dass sich das so abspaltet, das gabs früher | |
nicht. Hier in Mitte, das ist ja auch so ein spezielles Völkchen. Leute, | |
die ihre Kinder schon im Alter von drei Jahren drei- bis viersprachig | |
erziehen. Und auf der anderen Seite hast du dann in Neukölln wirklich nur | |
noch Migrantenfamilien ohne Aussicht auf Bildung für ihre Kinder. | |
Und "Kreuzkölln" an der Grenze zwischen Kreuzberg und Neukölln? Sieht man | |
dort nicht dies: "Durchmischung ist lebbar"? | |
Das sind kleine Inseln. Wenn man zum Beispiel in die Kneipe "Freies | |
Neukölln" geht oder in eines dieser anderen hippen Cafés, da mischt sich | |
gar nicht nichts. Kleine Straßenzüge, die sich Künstler und Intellektuelle | |
abgesteckt haben. Aber wie viel Kontakt haben die denn zu den anderen | |
Menschen? Null! | |
Es gibt Shisha-Lounges für Deutsche und solche für Araber. Wie wirken denn | |
diese Deutschen auf die Araber? | |
Das sind dann so Studenten, Alternative. Die sind ganz nett und harmlos, | |
aber die sollen dann eben ihr Ding machen. Man findet das zwar befremdlich, | |
dass die jetzt hier in der Nachbarschaft sind. Aber man hat nichts mit | |
ihnen zu tun. Aber wenigstens sieht man sich überhaupt mal gegenseitig - | |
beim Bäcker zum Beispiel. | |
Man kommt ja auch als ureingeborener Deutscher ziemlich schwer in Kontakt | |
mit diesen Nachbarn - selbst, wenn man guten Willens ist. | |
Man gehört einfach nicht zu ihrer Lebenswelt. Wenn Sie in ein Shisha-Café | |
gehen, dann wird man schon nett und gastfreundlich zu Ihnen sein, aber was | |
gibt es denn wirklich Verbindendes? Redet man halt mal über das Wetter oder | |
vielleicht über Angela Merkel. | |
Smalltalk als Einstieg, warum nicht? | |
Nein, kein Problem. Aber man kommt nie wirklich in Kontakt. Die heute | |
typischen Neuköllner haben Kontakt meist mit ihrer Familie und ihren | |
Verwandten. Es gibt da nicht die Idee, dass man über die Familie hinaus | |
einen Freundeskreis unterhält. Wenn da mal ein netter Deutscher reinkommt, | |
dann redet man mal mit dem und stellt sich ein bisschen dar - die meisten | |
von denen suchen ja ohnehin nur ein Stück Folklore. Die Leute im "Freies | |
Neukölln" machen sich nicht wirklich Gedanken, wie es wohl in den | |
türkischen und arabischen Familien zugeht. Die fragen sich auch nie, warum | |
man deren Töchter nie auf der Straße oder in den Cafés sieht. Die Sonne | |
geht unter, die Frauen verschwinden. | |
Dafür sind die Straßen dann voller Jungs. Weil sie rausdürfen oder weil sie | |
-müssen? | |
Sie dürfen, aber zu Hause haben sie ja auch keinen Raum, kein eigenes | |
Zimmer - dort regieren die Frauen. Zudem haben die Jungs zu Hause ja auch | |
keine ernsthafte Beschäftigung - Hausaufgabenmachen zum Beispiel. Diese | |
bürgerliche Vorstellung existiert dort nicht: dass man nach Hause kommt, | |
dort mal zur Ruhe findet und sich besinnt. Was zählt, ist das Draußen. Das | |
Abenteuer! Und die Geschichten über sie will man nicht auch noch nach Hause | |
schleppen. | |
Gibt es nicht neutrale Begegnungszonen, zum Beispiel McDonalds am | |
Hermannplatz? | |
(lacht laut) Ja! | |
Na ja, da sitzen dann alle zusammen und essen. | |
Da beäugt man sich mal, stimmt. Ist eben für viele auch ungewöhnlich, wenn | |
da eine Gruppe schwarzhaariger Jungs an einem Tisch sitzt und lärmt. Das | |
wirkt für viele bedrohlich. Manchmal glotzen sie einen auch sehr | |
eindringlich an, neugierig. Es gibt dann ja schon ein gegenseitiges | |
Interesse. | |
Wenn man Ihr Buch liest, fühlt man sich nicht gerade ermutigt, in Kontakt | |
zu treten. Menschen, die von Gewalt geprägt sind und bereit sind, Gewalt | |
auszuüben - da würde man sich dann schon Sorgen machen, wenn die eigene | |
Tochter mit einem Araber zusammenkommt. | |
Na ja, da gibts durchaus ein Problem. Besonders, weil die deutschen Eltern | |
so überhaupt nicht mit den Denkstrukturen arabischer oder türkischer | |
Familien vertraut sind. Den Begriff der Ehre zum Beispiel gibt es in diesem | |
Sinne in der deutschen Gesellschaft ja gar nicht. Jedenfalls nicht mehr in | |
dieser Form. Deutsche Eltern sind meistens überfordert, wenn ihre Tochter | |
mit einem muslimischen Jungen kommt. | |
Vielleicht wollen sie nur vorurteilslos sein? | |
Bedenkenlos sollten sie jedenfalls nicht sein. Sie müssen sofort den Jungen | |
kennen lernen und dann die Eltern. In dem Moment, in dem der Junge sagt: | |
"Das geht auf keinen Fall", müssen die Eltern handeln, wenn sie nicht | |
wollen, dass ihre Tochter unglücklich wird. | |
Was sollen sie denn machen? | |
Einfordern, dass ihre Tochter mit Respekt behandelt wird. Das muss man bei | |
dem jungen Mann auch einfordern - und sich eben darüber informieren, | |
welches Frauenbild in dem jeweiligen Kulturkreis vorherrscht. Auch wenn man | |
am Ende vielleicht Gefahr läuft … | |
… einen total aufgeschlossenen, liberalen Jungen … | |
… vor sich zu haben und sich in ihm, gut gemeint, zu irren. Eigentlich | |
macht man das ja auch mit jedem Schwiegersohn, auch wenn Religion da in der | |
Regel kein Diskussionsthema ist. | |
In den Achtzigern ja schon noch, da konnte es durchaus zum Problem werden, | |
wenn ein protestantischer Mann eine katholische Frau auf dem Lande | |
ehelichen wollte. | |
Klar. Und je nach Milieu gibt es natürlich auch ureingeborene Deutsche, die | |
mit Mädchen respektlos umgehen. | |
Junge Deutsche in den Großstädten ahmen nicht nur den Kleidungsstil junger | |
MigrantInnen nach - Picaldi, Ed Hardy -, sondern übernehmen auch deren | |
Jargon. Können Sie uns dieses Phänomen deuten? | |
Mit dem Jargon kommt man auch nah an die Jugendlichen ran, wenn man so | |
spricht. Mittlerweile bin ich ja auch schon etwas älter und habe ein paar | |
graue Haare - da erwarten die das nicht mehr von mir, da sind die dann | |
überrascht, wenn ich ihren Slang spreche. | |
Sie sind ja jetzt auch nicht mehr Sozialarbeiterin im Neuköllner | |
Mädchentreff, sondern ZDF-Journalistin und Buchautorin - wie geht Ihr | |
Umfeld damit um? Mit Stolz? | |
Ja, sehr. Blöd fanden sie allerdings meist meine islamkritischen Beiträge, | |
meine Kritik an der Migrationsgesellschaft. Da haben sie mich immer wieder | |
angesprochen, dass ich sie schlechtmachen würde. Trotzdem war es zwischen | |
denen und mir immer ein vernünftiges Gespräch. Denn ich bin immer noch eine | |
von uns. Das ist ja jetzt nicht so, dass ich sage: "Jetzt habe ich den | |
Absprung geschafft, bin weg von euch und will mit euch nichts mehr zu tun | |
haben." Mit den Menschen, mit denen ich aufgewachsen bin, verbindet mich ja | |
etwas, ein anderer Humor, eine andere Sprache - ein anderes Leben auch. Das | |
ist für mich kostbar. | |
Ein Teil Ihrer Identität? | |
Ja, eine andere Sprache, ein anderer Humor, eine andere Verbundenheit. Das | |
ist ganz anders, als wenn ich jetzt mit meinen Kollegen vom ZDF abends mal | |
in Mitte unterwegs bin. Eine Kommunikation zum Teil ohne Worte. | |
Was ist das für ein Humor? | |
Der muss eben nicht immer tiefsinnig sein, sondern ganz banal oder auch mal | |
derb. In akademischen Kreisen würde man sich nicht die Blöße geben, über so | |
was zu lachen - es sei denn, man ist betrunken oder so. | |
Ist das dann nicht so ähnlich, als ob jemand von einem Bauernhof in | |
Ostwestfalen kommt und dann in Berlin-Mitte lebt und mehr so | |
Caffè-latte-Gespräche führt? | |
So ist das. Genau so. Aber diese Leute sind dann eben zum Teil türkisch- | |
oder arabischstämmig oder kommen ursprünglich aus Afrika. Wenn man in den | |
Vierteln, wo diese Menschen vor allem leben, gemeinsam groß geworden ist, | |
verbindet einen eben ein ähnliches Heimatgefühl. | |
Sogenannte Abiturtürken finden, dass Frauen wie Necla Kelek oder Seyran | |
Ates "alles kaputtmachen". | |
Was machen die denn kaputt? Die machen auf Dinge aufmerksam, auf die man | |
eben zeigen muss. Den sogenannten Abiturtürken geht es offenbar nur darum, | |
dass niemand nestbeschmutzt. Die schicke Fassade soll aufrechterhalten | |
werden. Ich nenne die auch Hollywoodtürken. | |
Oder ZDF-Türken. | |
(lacht) Da gibt es ja nicht so viele, zwei vielleicht. | |
Geht es insgeheim womöglich darum, dass es bestimmte Dinge gibt, die bitte | |
in der Familie bleiben sollen - über die man "draußen" in der | |
Mehrheitsgesellschaft nichts erfahren soll? | |
Ein Image soll aufrechterhalten werden. Wir sind die ordentlichen, | |
fleißigen Gastarbeitertürken. Da gibt es vielleicht mal einen Ehrenmord | |
oder eine Zwangsehe, aber eigentlich sind wir doch vernünftige Menschen, | |
durch die Bank. Und jetzt kommen da zwei Hexen und machen alles kaputt. In | |
der Türkei ist das mittlerweile ein viel größeres Thema als hier, auch | |
Prominente äußern sich, das Thema wird in Vormittagstalkshows behandelt. | |
Warum ist das so ein Problem für "Abiturtürken"? | |
Die, die es geschafft haben, haben meist ein Identitätsproblem. Es kommt | |
eben immer darauf an, aus welchem Milieu sie kommen, was sie für Eltern | |
hatten, als sie herkamen oder hier geboren wurden. Manche erfolgreiche | |
türkischstämmige Geschäftsleute verleugnen diese Wurzeln dann - das ist | |
auch verlogen. | |
Und woher die krasse Abneigung gegen Seyran Ates und Necla Kelek? | |
Die Probleme, über die beide sprechen, sind für viele Probleme einer | |
"bäuerlichen" Gesellschaft. Sie brüsten sich und sagen: "Wir, die | |
gebildeten Kemalisten aus Istanbul, bei uns gibts das nicht!" | |
Könnte doch sein, oder? | |
Das ist aber eine Lüge, alle von Kelek und Ates benannten Probleme findet | |
man in allen Gesellschaftsschichten der Türkei. Es stimmt eben auch nicht, | |
dass die Frauenrechte seit Atatürk immer hochgehalten wurden. Wenn man da | |
mal dran kratzt, sieht man schnell, dass es da noch Nachholbedürfnisse | |
gibt, sowohl was die Frauen- als auch was die Menschenrechte angeht. | |
Letztlich ist die Türkei eine männerbestimmte Gesellschaft, in der Frauen | |
auch mal Führungsaufgaben übernehmen dürfen. | |
In der Debatte wird das aber immer gegengeschnitten: auf der einen Seite | |
das moderne, westliche Istanbul, auf der anderen Seite die Bauern | |
Anatoliens, viele von ihnen nach Deutschland eingewandert. | |
Totaler Quatsch! In Istanbul gibt es eine schicke Einkaufsstraße und Reiche | |
in ihren Nobelvierteln. Aber man muss eben nur um die Ecke gehen, und schon | |
sieht man sie wieder: die Frauen, die hinter den Männern herlaufen und | |
nachts nicht alleine auf die Straße dürfen. Auf die asiatische Seite | |
Istanbuls geht ja sowieso niemand, und wenn, dann nur zu dieser einen | |
großen Shoppingmeile dort. Das moderne Istanbul ist dann eher | |
Intellektuellen vorbehalten - eine lautstarke Minderheit. | |
Trifft zu, dass die meisten türkischstämmigen Menschen hier in Deutschland | |
aus Anatolien stammen? | |
Ja, da gibt es ja ganz konkrete Zahlen, das stimmt. Es gibt eben auch kaum | |
türkische Akademiker, die nach Deutschland einwandern, weil sie hier | |
bessere Jobchancen hätten. Da geht man eher nach Amerika. Bäuerliche | |
Strukturen, das heißt aber ja auch: Sie sind hierher gekommen, damit es | |
ihnen mal besser geht. Das ist ja erst mal ein guter Ansatz - wenn er dann | |
auch noch mit einem Bildungsanspruch verbunden wäre. | |
Wenn man Ihr Buch liest, hat man das Gefühl, dass es gar keine | |
Möglichkeiten gibt, der Traum von erfolgreicher Einwanderung könne wahr | |
werden. Wie kann man den Menschen helfen? | |
Bei den Älteren geht es jetzt, glaube ich, nur noch darum, dass sie | |
einigermaßen gut versorgt sind im Alter. Aber ansonsten ist diese | |
Generation eher der Meinung, dass sie nun ihre Pflicht getan hat. Zum Teil | |
leben sie auch schon halb in der Türkei - die sieht man ja auch kaum im | |
öffentlichen Leben Deutschlands. Häufig sind sie auch krank, weil sie immer | |
viel gearbeitet haben und wenig Geld hatten. Es ist wichtig, dass man die | |
Menschen erreicht, die hier in Deutschland zur Welt gekommen sind. | |
Und wie geht das? | |
Ebendiese Menschen gehören noch immer nicht zur deutschen Gesellschaft. Sie | |
betrachten sich auch selbst nicht so. Man muss deutlicher machen, dass all | |
diese Aishes und Tareks - und wie sie alle heißen - Teil dieser deutschen | |
Gesellschaft sind. Was sollen sie denn auch sonst sein: Sie sind hier | |
geboren und aufgewachsen! Statt immer nur ihre besonderen kulturellen | |
Eigenheiten zu betonen, sollte man sie genauso in die Verantwortung nehmen | |
wie alle anderen auch. | |
War das bei Ihnen auch so? | |
Nicht von Seiten meiner Eltern. In der Schule wurde mir klargemacht, dass | |
ich Türkin bin, von deutscher Seite. Aber auch von der türkischen Community | |
wurde Druck ausgeübt - da wird dann sehr genau hingeschaut, wie türkisch | |
man denn nun eigentlich ist. Da wurde ich immer diskriminiert, weil meine | |
Türkischkenntnisse schlecht sind. Als Kind habe ich dann auch einen | |
türkischen Pass bekommen - das fand ich dann schon seltsam, weil ich ja zu | |
diesem Zeitpunkt noch nie in der Türkei gewesen war. | |
Sie sind hier geboren. | |
Ja. Ich bin eine Zaza, das ist wiederum eine Minderheit, eine eigene | |
Sprache, eine eigene Kultur innerhalb der Türkei. Was das bedeutet, wurde | |
mir aber auch erst nach und nach von meinen Eltern vermittelt. | |
Hätte Ihr Buch auch "Türkboy" statt "Arabboy" heißen können? | |
Klar, unbedingt. Es heißt bloß "Arabboy", weil ich in meiner Zeit als | |
Sozialarbeiterin im Neuköllner MaDonna-Mädchentreff eben viel mit | |
arabischen Jugendlichen gearbeitet habe, aber bei den türkischen Jungs | |
passiert genau das Gleiche. In jeder Randgruppe differenziert sich das eben | |
aus, die einen tragen Kopftuch, die anderen nicht. Bei der arabischen | |
Community der Unterschicht gibt es eigentlich gar keine emanzipierten | |
Frauen, bei den Türken gibt es dann schon mal welche, die noch arbeiten | |
dürfen. Da gibt es so kleine Differenzen, aber sonst - die Restriktionen | |
sind die gleichen. | |
Wenn wir von den jungen Menschen ausgehen, die Sie in Ihrem Buch | |
beschreiben: Geht es nicht auch darum, dass diese riskieren müssten, auf | |
sich gestellt zu sein, wenn sie ihr eigenes Leben leben wollen - zur Not | |
ohne die Familie? | |
Das ist tatsächlich das größte Problem. Sie haben wahnsinnige Angst, | |
alleine zu sein. Sie haben auch nicht gelernt, ein eigenes Leben zu haben, | |
eines zu entwickeln. Das deutsche Modell, das ist ihnen zu fremd. | |
"Die haben alle keine Familie", heißt es. | |
Keine Bindung, alle sind Einzelgänger. Die einsamen Deutschen, die keine | |
Kinder bekommen - ja, so lauten die Klischees. | |
Klingt jedenfalls nicht attraktiv. | |
Freiheit ist immer gefährlich. Man könnte falsche Entscheidungen treffen, | |
zum Beispiel vorehelichen Geschlechtsverkehr haben … | |
… riskant! | |
Besonders für die Mädchen, weil das dann nicht mehr rückgängig zu machen | |
ist. Die gelten dann als dreckig. Die Jungs dürften das schon eher, sollten | |
aber auch eine ernsthafte Beziehung eingehen wollen. | |
In Ihrem Buch beschreiben Sie, wie Rashid, der Protagonist, erst nach | |
seiner Abschiebung in die Türkei merkt, welche Freiheiten er in Deutschland | |
hatte. | |
Ja, die Idee der Freiheit in Deutschland wird ja auch immer nur auf | |
Sexualität reduziert und nicht zum Beispiel auf individuelle | |
Bewegungsspielräume, auf ein Leben unabhängig von Familie und Verwandten, | |
mit Privatheit. Es fehlen eigentlich die Ideen, wie man Freiheit umsetzen | |
könnte: Kunst, Musik, seinen Geist trainieren und einsetzen. | |
Diese Option der Freiheit gibt es also gar nicht? | |
Bei meinem Protagonisten, Rashid, vermissen viele Leute eine tiefere Ebene, | |
eine Selbstreflexion. Und genau so ist es, diese Ebene fehlt völlig. Diese | |
Jungs haben auch ein ganz merkwürdiges Körpergefühl. | |
Inwiefern? | |
Wenn man mit Gewalt aufwächst, verändert sich die Schmerzgrenze. Man tut | |
sich dann mal gegenseitig weh und findet das witzig - weil Schmerz nicht | |
relevant ist. Wenn da jemand eine blutende Nase hat, wird er nicht ernst | |
genommen. Einmal hat mir jemand aus Versehen einen Eimer auf die Nase | |
gehauen, und ich habe unglaublich stark geblutet. Alle haben gelacht, aber | |
niemand kam auf die Idee, mir ein Taschentuch zu geben. Es gibt kein | |
Mitgefühl. Bei den Mädchen ist das genauso: Die geben sich in einem Keller | |
hin. Ihnen ist es völlig egal, wer sie anfasst. Es ist eine andere | |
Körperlichkeit. | |
Und Zärtlichkeit? | |
Zärtlichkeit ist "schwul". Man kann nicht einfach jemanden in den Arm | |
nehmen, nur bestimmte Menschen. | |
Im Straßenbild sieht man immer Jungs Arm in Arm gehen oder | |
aneinandergekuschelt in der U-Bahn. | |
Das ist abgefahren, ja. Das wird dann unter Freundschaft verhandelt, | |
"Kumpels". Aber natürlich ist das eine Form von Erotik, die sie niemals | |
zugeben würden. Sie haben ja auch das Problem, dass sie mit Mädchen nicht | |
befreundet sein dürfen. Es gibt ja nur Schlampen oder die, die zu Hause | |
sind und nicht auf die Straße dürfen. | |
Also man hilft sich dann eben untereinander? | |
Homoerotik ist weit verbreitet im muslimischen Kulturkreis. Man ist eben | |
immer mit Männern zusammen. | |
Weshalb dann Homosexualität ein Problem ist - und offen schwule Männer | |
malträtiert werden. | |
Sie sagen es. Wenn man sich das näher anschaut, dann begreift man die | |
Zusammenhänge. Sie dürfen jedoch niemals offen zum Thema gemacht werden. | |
Necla Kelek sagt ja sogar, die Liebe gibt es gar nicht. | |
So weit würde ich nicht gehen. Wie fast alle Mädchen haben auch muslimische | |
die große Liebe vor Augen. Allerdings hat Liebe wenig Platz, wenn die | |
Eltern entscheiden, wen man heiratet. | |
Was dann bedeutet, dass man besser daran tut, sich nicht zu verlieben - | |
denn dann wird man ja zwangsläufig unglücklich, oder? | |
Wenn ein arabisches Mädchen sich entschließen würde, einen deutschen Jungen | |
zu lieben, hätte sie wirklich ein Problem. Aber deutsche Männer gibt es für | |
sie ja gar nicht, sie sind programmiert auf Männer aus ihrem Kulturkreis. | |
Jemand anderes ist nicht denkbar? | |
Das Deutsche ist fremd. Und selbst wenn nicht: Wenn sie dann zu einem | |
Deutschen ginge und sagte: "Du, ich habe mich in dich verliebt, aber du | |
müsstest mich bitte entführen wegen meiner Familie", dann ist der Deutsche | |
natürlich auch überfordert. | |
Klingt wahnsinnig anstrengend. | |
Wir hatten einen solchen Fall einmal, am Ende hat der Mann einen Rückzieher | |
gemacht. Wäre dann eh nicht der Richtige gewesen, weil er ja nicht stark | |
genug für eine Entführung gewesen wäre. In dieser Logik geht das in etwa. | |
Kommen Sie eigentlich, was all diese Logiken angeht, auch manchmal ins | |
Durcheinander zwischen "Herkunftskultur" und der eigenen, deutschen? | |
Überhaupt nicht, weil meine Geschwister so denken wie ich und wir unsere | |
Mutter gut bearbeitet haben im Laufe der Jahre. Meine Mutter hatte da schon | |
gewisse Vorstellungen, aber zu einem Zwang wurde das nie. Mein erster | |
Freund war ein Deutscher, mit dem musste sie klarkommen. | |
Und Ihre Verwandtschaft? | |
Mit der habe ich relativ wenig Kontakt - die leben eben schon so in ihrer | |
kleinen Welt. Ich hatte auch noch nie einen rein türkischen Freundeskreis. | |
Meine Mutter hat überhaupt erst von uns gelernt, was das ist: ein | |
Freundeskreis! Doch auch die Jungen müssten lernen, was das überhaupt | |
heißt: individuell zu sein. | |
INTERVIEW: MARTIN REICHERT | |
24 Nov 2008 | |
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