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# taz.de -- Nach Tötung von 15-Jährigem: Krawallbilder schockieren Griechenla…
> Nach dem Tod des 15-jährigen Alexis Grigoropoulos sprechen die
> griechischen Medien von einer \"Ermordung\". In den Protesten artikuliert
> sich Wut auf die Regierung.
Bild: Rund 40 Menschen waren seit Samstagabend bei den Straßenkämpfen verletz…
THESSALONIKI taz "Bullen, Schweine, Mörder!" Die Parole wird seit Jahren
bei fast jeder Demonstration in Griechenland gebrüllt. Doch dieses Mal
klingt sie anders. Und: Sie klingt ernst. Auf den Straßen von Athen,
Thessaloniki, Patras, Ioannina und anderen griechischen Städten herrscht
seit den frühen Stunden des Sonntags Wut. Jugendliche der autonomen Szene,
aber auch tausende "normale" Schüler und Studenten gehen auf die Straße,
zünden Autos an, werfen Steine und Molotowcocktails, und zertrümmern -
bevorzugt, aber nicht ausschließlich - Schaufenster von Banken.
Die nicht sehr gezielte Wut reagiert auf den Tod eines 15-jährigen Schülers
in Athen; auf seine "Ermordung", wie die Jugendlichen, aber auch die
Mehrheit der griechischen Medien meinen. Alexis Grigoropoulos wurde am
Samstagabend von einem Polizisten der Spezialeinheiten im Viertel Exarchia
mitten auf der Straße erschossen. Aus "Versehen", sagt der Polizist;
"gezielt", berichten Augenzeugen.
Noch in der Nacht wurden in mehreren Städten per Internet und SMS
Demonstrationen organisiert, die bald in Krawalle umschlugen. 24 Stunden
lang brannte es im Zentrum von Athen. Die Polizei war nach dem Tod des
Schülers gelähmt. Die Beamten schauten zu, als Pflastersteine flogen und
Geschäfte brannten. Ganz Griechenland ist schockiert - wegen des Jungen,
der zum Opfer der Polizei wurde, aber auch angesichts der Krawallbilder.
"Schlag doch, ich bin auch unbewaffnet!", brüllen die Jugendlichen in
Thessaloniki der Polizei entgegen. Es sind nicht nur die "bekannten
Unbekannten", wie es auf Griechisch heißt. Der Kern der anarchistischen
Szene ist hier nicht besonders zahlreich, jetzt demonstrieren viele
Hunderte mit ihr. Und so ist es in ganz Griechenland. Ständig neue,
spontane Proteste haben am Montag ein halbes Dutzend Städte in den
Ausnahmezustand versetzt.
Wenn Alexis am Dienstag beerdigt wird, werden alle Schulen und
Universitäten geschlossen bleiben. Seit Wochenbeginn sind mehrere Schulen
besetzt; viele Lehrer solidarisieren sich mit ihren verbitterten Schülern
und haben schon am Montag mitgestreikt. Bildungsminister Evripidis
Stylianidis stellte die Schließung der Schulen am Montag als Beileidsgeste
gegenüber den Eltern von Alexis dar. Tatsächlich hat er Angst vor einer
neuen Besetzungswelle.
Der Zündstoff liegt seit langem bereit. Das Bildungswesen ist in
beklagenswertem Zustand. Die Arbeitslosenquote ist unter Jugendlichen und
Hochschulabsolventen besonders hoch. Die meisten Griechen sitzen sitzen
ratlos vor dem Fernseher und lassen sich fast täglich einen neuen Skandal
erklären. Der Durchschnittsbürger gewinnt den Eindruck: Niemand übernimmt
die politische Verantwortung für irgendwas.
"Der Tod des Jungen war ein Stich ins Herz des Rechtsstaates", sagte
Staatspräsident Karolos Papoulias. Der Rücktritt, den Innenminister
Prokopis Pavlopoulos angeboten hat, wurde von Ministerpräsident Kostas
Karamanlis abgelehnt. Der Polizist, der die Schüsse abgegeben hat, und sein
Streifenkollege wurden immerhin verhaftet.
Karamanlis schickte der Familie von Alexis einen Kondolenzbrief mit dem
Versprechen, man werde den Vorfall klären und die Schuldigen streng
bestrafen. Das klingt nicht besonders glaubhaft. Als vor 23 Jahren ein
ebenfalls 15-Jähriger, auch in Exarchia, von einem Polizisten getötet
worden war, wurde der Polizist in zweiter Instanz freigesprochen. Und die
Mörder zweier Demonstranten im Jahr 1980, wahrscheinlich Polizisten, wurden
nie ermittelt. Als letztes Jahr in Thessaloniki ein Student von zwei
Beamten fast zum Krüppel geschlagen wurde, kamen die Täter mit einer
Geldstrafe davon.
Das Berufsbild von der Polizei als "Freund und Helfer der Bürger" ist in
Griechenland unbekannt. Zwar sind die Polizisten in der Regel nicht mehr
Rechtsradikale wie noch vor 25 Jahren, aber die meisten von ihnen sind
schlecht ausgebildet, schlecht bezahlt und nicht besonders
pflichtversessen.
Zudem wird die Führung der Polizei fast immer nach parteipolitischen
Kriterien ernannt; Kompetenz wird so zur Nebensache.
Interessanterweise beklagten sich die Händler, die ihre Läden zerstört
sahen, bislang mehr über die Inkompetenz der Polizei als über die
Ausschreitungen der Jugendlichen. "Es gibt keinen Staat", kritisieren die
Händler vor ihren zertrümmerten Schaufenstern. Und beklagen das getrübte
Weihnachtsgeschäft, von dem sie sich eine Schonfrist vor der näher
rückenden Wirtschaftskrise versprochen hatten. Dennoch erklärte der
Vorsitzende der Handelskammer von Athen, Dimitris Armenakis: "Wenn ein Kind
getötet wird, hat es keinen Sinn, über unsere Sachschäden zu reden."
Die Oppositionsparteien halten der Regierung ihre Inkompetenz vor. Aber nur
der Chef der linken Synaspismos- Partei, Alekos Alavanos, fordert, wenn
auch dezent, den Rücktritt der Regierung. Man hat den Eindruck, als wolle
die Opposition der regierenden Nea Dimokratia die Chance geben, auf eigenen
Entschluss zu kapitulieren. Denn der Tod des jungen Alexis und die
Straßenszenen der letzten Tage sind nur die Fortsetzung einer Kette von
Fehlern, Versäumnissen und Skandalen.
Seit die Regierung Karamanlis durch die letzten Wahlen im September 2007
trotz der verheerenden Waldbrände des Sommers ihr Machtmandat erneuern
konnte, balanciert sie auf einem schmalen Grat, weil sie nur über eine
äußerst knappe parlamentarische Mehrheit verfügt. Und sie steht ohne
Konzept vor einer umfassenden ökonomischen und innenpolitischen Krise. Sie
hat es nie geschafft, einen gesellschaftlichen Konsens über so drückende
Probleme wie die Krise des Rentensystems zu organisieren oder über eine
Reform des Schul- und Universitätswesens, die der Jugend eine Perspektive
geben könnte.
Zehntausende Athener werden das Begräbnis von Alexis zum Anlass nehmen,
schweigend auf die Straße zu gehen. Aber die Wut wird nicht stumm bleiben,
zu tief steckt sie in der griechischen Gesellschaft. Und wird sich am
Mittwoch erneut Luft verschaffen. Für diesen Tag hatten die Gewerkschaften
bereits vorher zu einer Generalstreik gegen die Rentenreform aufgerufen.
8 Dec 2008
## TAGS
Schwerpunkt Polizeigewalt und Rassismus
Griechenland
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