# taz.de -- 100. Geburtstag von Olivier Messiaen: Er konnte mit den Augen hören | |
> Vor 100 Jahren kam Olivier Messiaen auf die Welt. Kein Komponist hat sich | |
> intensiver mit Vogelgesängen beschäftigt. Von ihnen ließ er sich zu | |
> seinem kompositorischen System inspirieren. | |
Bild: Die Arme zum Flug gebreitet: Olivier Messiaen. | |
Was haben die Philosophen Gilles Deleuze und Felix Guattari, die | |
Komponisten Karlheinz Stockhausen und Pierre Boulez, der Steinrötel und der | |
Waldkauz gemeinsam? Über bestimmte Melodielinien lassen sie sich alle auf | |
einem Plateau um ein Zentrum mit Namen Olivier Messiaen anordnen, ohne dass | |
die Widersprüche unter den Genannten in Harmonie aufgelöst werden. Der | |
Komponist Pierre Boulez etwa kann bis heute mit Vögeln und ihren Gesängen | |
nichts anfangen. Steinrötel und Waldkäuzen wird dagegen völlig gleichgültig | |
sein, was Pierre Boulez so macht, falls überhaupt einer der Vögel dieser | |
Arten Boulez überhaupt einmal zu Gesicht bekommen hat. | |
Anders als Olivier Messiaen, den am 10. Dezember in 1908 Avignon geborenen | |
und am 27. April 1992 in Paris gestorbenen Komponisten, Organisten und | |
Ornithologen. Denn Vögel beobachten ihre Beobachter sehr genau und Messiaen | |
war in Frankreich eine ornithologische Kapazität. Seit er im Alter von 15 | |
Jahren begann, Vögel und ihre Gesänge zu studieren, hat ihn diese Passion | |
nicht mehr losgelassen. Am Ende seines Lebens konnte er 700 Vogelarten an | |
der Stimme unterscheiden und hatte Notate ihrer Gesänge aus der ganzen Welt | |
aufgezeichnet. Dabei übertrug er die Gesänge eins zu eins in Notenschrift | |
und bettete die Aufzeichnungen immer akribisch in den bestimmten Ort, die | |
bestimmte Landschaft, in der er den Song gehört hatte, ein. | |
Damit ist Messiaen einer der wenigen Künstler des 20. Jahrhunderts, der den | |
Forschungsauftrag der Kunst ernst nahm, die gleichen Gegenstände, die die | |
Wissenschaft mit ihren je spezifischen Methoden untersucht, mit den Mitteln | |
der Kunst genauso systematisch zu erforschen. | |
Messiaen blieb nämlich auch dann bei seiner Methode der Notenmitschrift der | |
Vogelgesänge, als es technisch möglich geworden war, mit Tonbandgeräten und | |
Sonagrafen wesentlich genauere Aufzeichnungen anzufertigen, als es mit | |
Noten möglich ist. Denn die Notenmitschrift birgt einige unumgängliche | |
Probleme, die in der Natur der Vogelstimmen liegen. Vögel singen einfach | |
viel zu schnell, so dass es für menschliche Musikinstrumente absolut | |
unmöglich wird, die Tempi mitzugehen. Das Gleiche gilt für die extrem hohen | |
Register, die Vögel in ihren Liedern ziehen können. Messiaen trug dem | |
Rechnung, in dem er die Tempi verlangsamt aufschrieb und die hohen Töne | |
einige Oktaven tiefer setzte. Das war bei ihm aber mehr als ein | |
Anpassungsprozess an die menschliche Wahrnehmungsphysiologie und | |
Instrumentaltechnik. Auf Tonbänder und Sonagrafen verzichtete er bewusst, | |
weil für ihn mit dieser Form der Aufzeichnung das Gefühl für die spezielle | |
Rhythmik und Melodik des jeweiligen Vogels verloren geht. Ebenso werden mit | |
der sonagrafischen Darstellung des gesamten Spektrums der Vogellaute, die | |
nichts anderes darstellt als Schwärzungen auf Papier, die mitschwingenden, | |
durch bestimmte Akkordbildungen hervorgerufenen Farbtonschwingungen | |
unterbunden. Messiaen brachte systematisch Töne mit Farben in Verbindung. | |
"Fügen Sie da noch etwas Violett hinzu", hat er mal einem Schüler in seiner | |
Kompositionsklasse am Pariser Konservatorium geraten und damit bestimmte | |
Töne gemeint. | |
Man hat Messiaen deshalb oft als Synästheten bezeichnet, was, wenn nicht | |
falsch, doch zumindest ungenau ist. Er dachte sich das Verhältnis von Tönen | |
und Farben nicht als ein sichtbares. Messiaen wusste aus seinen | |
Vogelstudien, dass die rhythmisch und melodisch versiertesten Sänger sich | |
in der Regel durch ein sehr schlichtes Federkleid auszeichnen, während die | |
bunt krähenden Hähne von Hühnern und Fasanen nur über ein sehr | |
eingeschränktes Lautrepertoire verfügen. Aber natürlich konnte er trotzdem | |
nicht verhindern, dass seine Farbgedanken in den Händen von Esoterikern und | |
Hippies zum Kitsch verkamen. Messiaen hat sich allerdings früh gegen die | |
Verkürzung seines Farb-Ton-Verhältnisses gewehrt. Den Drogensüchtigen zum | |
Beispiel hat er vorgeworfen, sich ein zu einfaches Bild vom Zusammenhang | |
von Ton und Farbe zu machen, wenn sie diesen sich nur zwischen einem | |
Geräusch und einer Farbe sich abspielen lassen, anstatt Komplexe von | |
Klangdauern und Farben zu berücksichtigen. | |
Und an dieser Stelle kommen die eingangs erwähnten Philosophen Gilles | |
Deleuze und Felix Guattari ins Spiel. Die beiden liefern in ihrem Hauptwerk | |
"Tausend Plateaus" in einem "Zum Ritornell" überschriebenen Kapitel nicht | |
nur entscheidende Hinweise zum richtigen Verständnis der Messiaenschen | |
Farb-Ton-Logik, sie übersetzen auch Messiaens Raum-Lied-Denken des | |
Vogelgesangs in eine Philosophie der Territorialisierung. Kunst sind die | |
Lieder der Vögel für Messiaen, weil sie territorialisieren. Indem der Vogel | |
singt, besetzt beziehungsweise genauer: bildet er sein Revier. Seine | |
Klänge, seine Rhythmik werden zu seinem Raum, und zur Kunst wird das Lied, | |
weil der Sänger es immer wieder neu hervorbringen muss. Flüchtig, wie es | |
ist, ist es wieder weg, wenn er nicht mehr singt. Und das Lied selbst steht | |
in einem permanenten Zusammenhang mit konkurrierenden Sängern und der | |
Umgebung. | |
Messiaen dachte sich dieses Verhältnis zur Umgebung und zur Konkurrenz als | |
abhängig von der Qualität des Liedes: Der beste Sänger bekommt das | |
Territorium. Dabei wird der Sänger auch besser, wenn er berücksichtigt, wo | |
er singt und was aus seiner Umgebung zu ihm kommt. Die Töne auch anderer | |
Arten können seinen Gesang bereichern und die Vogelarten, die wie Amseln | |
oder Teichrohrsänger empfänglich für die Töne anderer Arten sind, bauen sie | |
in ihre Lieder ein wie Charles Baudelaire die Geräusche von Paris in die | |
Rhythmik seiner Gedichte webt. Die Aufnahme fremder Töne, sei es von | |
anderen Tieren oder aus der Landschaft der Umgebung, ist dabei mit dem | |
Begriff Imitation nur ungenau beschrieben. Denn der imitierte Ton wird ja | |
in die eigene Produktion einverleibt und bekommt darin sofort auch eine | |
andere Bedeutung. | |
Wie das, was so vielleicht etwas abstrakt klingt, in Musik umgesetzt sich | |
anhört, kann man am besten an Messiaens "Catalogue doiseaux" studieren, den | |
er von 1956 bis 1958 schrieb. Das zweistündige für Klavier geschriebene | |
Werk umfasst mehrere, jeweils einer bestimmten Vogelart gewidmete Stücke - | |
etwa der Alpendohle, dem Pirol, dem Waldkauz oder dem Steinrötel. Messiaen | |
arbeitet dabei die eigene Ästhetik jeder Vogelart heraus und konfrontiert | |
sie mit der Umgebung. | |
In dem achtzehnminütigen Stück, das er dem Steinrötel abgehört hat, wird | |
dessen Lebensraum an sonnenexponierten Felsen oder Geröllhängen zum | |
mild-kurzrasigen Milieu, in das der Vogel seine laut flötenden Strophen | |
singt. Manchmal sind die Strophen kurz und die Pausen, in denen die | |
Landschaft Ton wird, lang. Manchmal ziehen sich die Strophen in die Länge, | |
dann hat der Vogel seine Singwarte verlassen und zum Singflug angesetzt. | |
Man kann am "Katalog" auch sehr schön nachvollziehen, warum Messiaen die | |
Vogelstimmen ausgerechnet am Klavier untersucht. Extreme Tonlagen, wie sie | |
Teichrohrsänger oder Trauersteinschmätzer im Repertoire haben, lassen sich | |
nur auf der Tastatur systematisch erforschen. Das Gleiche gilt für dicke | |
Akkordtrauben, sogenannte Cluster, wie sie viele Vögel einsetzen. Dabei | |
haben die Klangfarben, die diese Musik begleiten, die sein soll "wie ein | |
Vogel ohne Schlaf" (Messiaen), absolut nichts mit der Farbe des Kleides des | |
Vogels zu tun. Die sichtbare Farbe ist wie das Lied genauso Plakatkunst im | |
Territorium. Was dem Graugansganter sein Triumphgeschrei ist, mit dem er | |
seine Familie zusammenhält, sind dem Buntbarsch seine Farben im | |
Tanganjikasee. | |
Das herausgearbeitet zu haben, ist ein Verdienst des Ritornell-Kapitels von | |
Deleuze und Guattari. Das andere, viel weiter reichende ist die aus | |
Messiaens Vogelstudien gewonnene Raumkonzeption, in der dem Raum jede | |
Konstanz genommen wird. Die Territorien sind nämlich prinzipiell auflösbar, | |
sie werden erst durch die Kunst zum Revier, und die birgt ihre Auflösung | |
und Ersetzung durch Anderes, Neues, Besseres immer in sich selbst. | |
Ein Prozess, den man auch an Messiaens Lehre am Pariser Konservatorium, an | |
dem er seit 1941 zuerst Harmonielehre und Analyse, später auch Komposition | |
lehrte, nachvollziehen kann. Nur so kann man verstehen, dass Pierre Boulez | |
zu einem der bekanntesten Schüler Messiaens wurde und sich bis heute über | |
Künstler lustig machen kann, die Vögeln ihre Töne ablauschen. Messiaen muss | |
mit seinen Vorbildern und Inspirationen sehr zurückhaltend umgegangen sein | |
und seine Lehre in die notwendige mathematische Abstraktion überführt | |
haben. Nur so kann man auch nachvollziehen, dass Karlheinz Stockhausen, der | |
neben Boulez andere berühmt gewordene Schüler Messiaens, den Weg von | |
Messiaens Klangfarbenlehre zum Licht fand, in dem alle Farben eins werden. | |
Messiaen schöpfte seine Inspirationen wie seine Lehre aus den | |
verschiedensten Quellen. Die Metrik der Chorlieder, gregorianische Gesänge, | |
indische Rhythmen aus dem 13. Jahrhundert, javanische Gamelan-Orchester | |
gehörten dazu wie die Vorliebe der Griechen für Primzahlen, um die er die | |
europäische Rhythmik erweiterte. Hatte die Rhythmik bis zu ihm | |
hauptsächlich aus 2 und 3 und deren Vielfachen bestanden, so verwendete | |
Messiaen häufige die 5,7 oder 11. | |
Der Mann konnte, man kann es nicht anders sagen, mit den Augen hören. | |
10 Dec 2008 | |
## AUTOREN | |
Cord Riechelmann | |
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