| # taz.de -- Pädagoge über junge Muslime: "Sexualmoral wie in den 50ern" | |
| > Obwohl die wenigsten Muslime zuhause aufgeklärt werden, haben viele keine | |
| > Probleme, über Sex zu sprechen. Trotzdem haben sie konservativere | |
| > Vorstellungen, so Pädagoge von Wensierski. | |
| Bild: Ausschnitt is´ nicht. | |
| taz: Herr von Wensierski, Sie haben untersucht, ob muslimische Jugendliche | |
| ihre Jugend anders erleben als Nichtmuslime. Ist das der Fall? | |
| Hans-Jürgen von Wensierski: Manche Entwicklungen sind ganz ähnlich: etwa | |
| die verlängerten Bildungsphasen oder die im Vergleich zu den Müttern | |
| stärkere Berufsorientierung bei jungen Frauen. Aber es gibt sehr große | |
| Unterschiede im Bereich Familie, Partnerschaft und Sexualität. Die | |
| Sexualmoral der jungen Muslime entspricht in vielem dem, was wir aus den | |
| 50er-Jahren kennen. | |
| Was heißt das konkret? | |
| Ein großer Teil unserer Interviewpartner hat eine ausgesprochen asketische | |
| und verbotsorientierte Sexualmoral, also: kein Sex vor- und außerhalb der | |
| Ehe, keine sexuelle Erfahrungen im Jugendalter. Das heißt auch: Die | |
| Jugendlichen werden zu Hause nicht aufgeklärt, dort wird über Sexualität | |
| nicht gesprochen. Damit einher geht eine starke Sexualisierung insbesondere | |
| des weiblichen Körpers, der wiederum tabuisiert wird. | |
| Wenn man sich in deutschen Großstädten umschaut, hat man nicht den | |
| Eindruck, dass junge Musliminnen ihren Körper durchweg tabuisieren: Es gibt | |
| viele junge Frauen, die ein Kopftuch tragen, sich körperbetont und mitunter | |
| auch sexy kleiden. Wie passt das zusammen? | |
| Die Kleidung kann körperbetont und stylish sein, aber sie werden diese | |
| Frauen nicht mit Minirock und tiefem Ausschnitt sehen. Sexualisierung heißt | |
| hier vor allem das Bloßstellen nackter Haut. Manche Strömungen - wie zum | |
| Beispiel der Popislam - versuchen ja sogar, einen streng konservativen | |
| Islam und eine Popästhetik unter einen Hut zu bringen. Aber auch bei Frauen | |
| ohne Kopftuch und mit Minirock kann man nicht unbedingt vom Outfit auf die | |
| Moral- und Wertvorstellungen schließen. Wir haben zum Beispiel einige junge | |
| Alevitinnen befragt, die kein Problem mit freizügiger Kleidung haben. In | |
| ihren Familien herrschen aber dennoch strenge Wertorientierungen in Sachen | |
| Sexualität und Partnerschaft. | |
| Haben die Jugendlichen wirklich keinen Sex vor der Ehe? Oder reden sie nur | |
| nicht drüber? | |
| Nein, die meisten halten sich wirklich an diese Verbote. Das zeigen nicht | |
| nur unsere biografischen Interviews, sondern auch quantitative, | |
| repräsentative Studien. Die Jugendlichen fügen sich nicht nur den | |
| Erwartungen der Eltern, sie teilen diese asketische Sexualmoral auch. | |
| Hadern die Jugendlichen mit diesen Vorstellungen? Schließlich leben sie | |
| nicht in den 50er-Jahren. | |
| Nein, die meisten finden diese Wertvorstellungen in Ordnung. Sie werden | |
| sogar als identitätsstiftende Elemente gegen die äußere Umwelt behauptet. | |
| Mit einer Art trotzigem Stolz verteidigt man die eigene Jungfräulichkeit, | |
| die sexuelle Enthaltsamkeit. Wir hatten in unseren Interviews durchaus | |
| Frauen Mitte 20, die einen Freund haben, und mit dem sexuelle | |
| Enthaltsamkeit leben. Allerdings gibt es einen wichtigen Unterschied zur | |
| Elterngeneration: Die jungen Muslime sind diskursfähig. Sie können | |
| unbefangen über Sexualität reden. Insofern muss man eigentlich von einer | |
| Gleichzeitigkeit der Sexualmoral der 50er- und der 90er-Jahre sprechen. | |
| Was bedeutet das? | |
| Die Jugendlichen wachsen ja in einer durch und durch sexualisierten | |
| Alltagskultur auf. Sie sind gewohnt, dass in der Schule über Sex geredet | |
| wird, sie nehmen am Aufklärungsunterricht teil. Nur anders als es bei | |
| Deutschen zu beobachten war, geht diese Enttabuisierung nicht mit einer | |
| Liberalisierung einher. | |
| Gilt das alles auch für die Männer? Ist das Bild vom jungen muslimischen | |
| Mann, der bei Frauen auf Jungfräulichkeit pocht und sich gleichzeitig seine | |
| eigenen sexuellen Erfahrungen bei Frauen außerhalb der eigenen Community | |
| holt, also nur ein Vorurteil? | |
| Nein. Es gibt diese Doppelmoral bei jungen Männern. Aber auch bei ihnen | |
| dürfen die Eltern in den meisten Fällen von den Beziehungen nichts wissen, | |
| oder zumindest wird der Schein gewahrt. Interessanterweise ändern aber auch | |
| die eigenen sexuellen Erfahrungen nichts an den Werten dieser jungen | |
| Männer. Sie sagen nicht: Unsere Sexualmoral ist überholt. Im Gegenteil. | |
| Insbesondere am Ende der Jugendphase werden diese Erfahrungen eher als | |
| Fehltritte gewertet. Allerdings wiegen diese Fehltritte bei Frauen weit | |
| schwerer, weil die Jungfräulichkeit durch das Jungfernhäutchen überprüfbar | |
| ist und durch die Ehre auch noch ideologisch überhöht wird. | |
| Ist diese Doppelmoral die Ausnahme oder die Regel? | |
| Weder noch, aber selten ist sie nicht. | |
| Wie rechtfertigen die Männer ihre Doppelmoral? | |
| Ich nenne Ihnen mal ein Beispiel. Wir haben zum Beispiel einen jungen Mann | |
| aus einer Milli-Görüs-Familie befragt, der als Kind diese islamische Szene | |
| gehasst hat. In seiner Jugend hat er alles mitgenommen, was westliche | |
| Jugendkultur zu bieten hat: Alkohol trinken, Frauen aufreißen und bis in | |
| die Nacht feiern. Gleichzeitig ist er weiter in die Moschee gegangen und | |
| hat fünf oder sechs Jahre lang ein Doppelleben geführt. Einen liberalen | |
| Lebensentwurf hat er trotzdem nicht entwickelt, im Gegenteil: Als Student | |
| hat er sich wieder auf die islamischen Werte besonnen. | |
| Wie kam das? | |
| Als er zum Studium in eine andere Stadt musste, hat er sich an dem | |
| orientiert, was er kannte: am Moscheeverein und anderen muslimischen | |
| Studenten. Gemeinsam mit diesen kam es zu einer Rückbesinnung auf einen | |
| strengen islamischen Lebensstil. | |
| Woran liegt das? Hat er seine Sturm- und Drangphase nicht genossen? | |
| Doch, aber im Rückblick negiert er sie als seine "ungläubige Phase". Und | |
| besinnt sich dann wieder auf seine traditionellen islamischen Werte, die | |
| das wirklich Wichtige im Leben sind. | |
| Gibt es denn auch Versuche, aus diesen engen Grenzen wirklich auszubrechen? | |
| Ja, die gibt es, aber es sind die Ausnahmen. Wir haben zum Beispiel eine | |
| junge Frau interviewt, die aus einem religiösen Elternhaus kommt und den | |
| Eltern ihren deutschen Freund verschwiegen hat. Irgendwann hat sie dieses | |
| Doppelleben nicht mehr ausgehalten, ist von zu Hause abgehauen. Aber mit | |
| Anfang 20 ist sie zurück ins Elternhaus gezogen. Es gibt Ausbrüche aus | |
| diesen strengen Vorgaben, aber die führen viel seltener zum wirklichen | |
| Bruch als in nichtmuslimischen Familien. Einen wirklichen Bruch gab es nur | |
| bei einem unserer Interviewpartner - und wir haben über hundert Interviews | |
| geführt. | |
| Wie erklären Sie sich das? | |
| In den muslimischen Familien ist die Bindungskraft traditioneller | |
| Familienstrukturen immer noch sehr groß. Wenn man sich die Leitbilder | |
| anschaut, gibt es zur traditionellen Familie noch immer keine Alternative. | |
| Die Ehe ist ein Muss, eine legitime Alternative dazu gibt es nur selten. | |
| Wenige unserer Gesprächspartner hatten die Idee, man könnte mit einem | |
| Partner unverheiratet zusammenleben. Scheidungen, Geburtenrückgänge und die | |
| Berufstätigkeit von Frauen führen real zwar zu Modernisierungsprozessen in | |
| den Familien, aber kaum zu alternativen Lebensentwürfen. | |
| Irgendwann muss sich das Leitbild aber doch der Realität annähern … | |
| Ja, und ich setzte dabei auf den Wandel bei den jungen Frauen. Auch die | |
| religiösen jungen Frauen entwickeln zunehmend eigenverantwortliche, | |
| tendenziell gleichberechtigte Frauenrollen. Sie würden sich nicht mehr den | |
| Anforderungen eines Mannes einfach fügen, sondern sie wollen | |
| Selbstbestimmung und Emanzipation. Allerdings gibt es nicht genug Männer, | |
| die bereit sind, sich darauf einzulassen. | |
| Wie sehen die Vorstellungen dieser Frauen konkret aus? | |
| Noch ein Beispiel: Eine unserer Interviewpartnerinnen kommt aus einem | |
| streng religiösen Elternhaus, ihre Eltern waren bei Milli Görüs. Mit 13 | |
| haben die Eltern das Mädchen auf ein islamisches Internat in die Türkei | |
| geschickt, weil sie Angst hatten, dass das Kind hier verdorben wird. Als | |
| sie nach fünf Jahren zurückkam, war sie aber nicht die gefügige Tochter, | |
| die sich ihre Eltern gewünscht haben: Sie ist selbstständig, hat gelernt | |
| sich zu behaupten, will ihren Lebensweg selbst bestimmen. Sie heiratet zwar | |
| mit Anfang 20, fügt sich ihrem Mann aber nicht, kocht höchstens alle zwei | |
| Wochen mal und will auch keine Kinder. Das ist natürlich eine Ausnahme. | |
| Aber die selbstbewusste Neomuslimin, die Karriere machen will und dennoch | |
| eine starke Familienorientierung hat, gibt es schon häufiger. Und diese | |
| Frauen haben zwar weiter diese traditionelle Sexualmoral, vom Sex in der | |
| Ehe erwarten sie aber Lust und Befriedigung auch für sich. | |
| Wie sieht es in säkularen Familien aus? | |
| Auch dort haben viele ganz traditionelle Wertvorstellungen in Sachen | |
| Partnerschaft und Sexualität. Lediglich in der kleinen Gruppe der | |
| Bildungsaufsteiger gibt es Liberalisierungstendenzen. | |
| INTERVIEW: SABINE AM ORDE | |
| 21 Dec 2008 | |
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