Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Evangelikale in Deutschland: Um Gottes willen!
> Sie kämpfen gegen Emanzipation und Evolutionslehre, Pornografie,
> Homosexualität und den Islam: Evangelikale Christen sind auf einem
> Kreuzzug gegen den Zeitgeist in Deutschland.
Bild: Es gilt ausschließlich: Das geschriebene Wort!
Pastor Wenz geht auf der Bühne hin und her. Ein hagerer Mann, der das Haar
streng zur Seite gescheitelt trägt. Später wird er seiner Stuttgarter
Gemeinde jovial zurufen: "Komm, wir geben Jesus mal einen richtigen
Applaus!" Und seine Gemeinde wird johlen, tosen, klatschen. Nun aber ballt
Wenz die Hand zur Faust. "Es gibt Feinde", ruft er. "Es gibt Menschen, aber
auch böse Mächte, die das nicht wollen, was Gott will!" Schweißflecken
zeichnen sich unter seinen Achseln ab. "Wir sind das Volk Gottes, wir sind
eine heilige Nation", brüllt er schließlich. "Ist Gott für uns, wer mag
wider uns sein?"
Peter Wenz ist Leiter der Biblischen Glaubensgemeinde im Stuttgarter
Stadtteil Feuerbach. Bis zu 4.000 Menschen kommen jedes Wochenende in die
Gottesdienste. Im Jahr macht das knapp 200.000 Besucher - und das
Gotteshaus zur wohl ersten evangelikalen Megachurch in Deutschland.
In den USA wird am Ende der Ära Bush ein Viertel der Bevölkerung den
Evangelikalen zugerechnet, das wären mehr als 70 Millionen
ultrakonservative Protestanten, die auf einer wörtlichen Auslegung der
Bibel bestehen. Selbst der neue Präsident Barack Obama kommt offenbar nicht
an ihnen vorbei: Bei seiner Amtseinsetzung am 20. Januar wird der
evangelikale Pastor Rick Warren - ein erbitterter Gegner von Homoehe und
Abtreibung - um Gottes Beistand bitten. In Deutschland dagegen haben sich
die evangelikalen Christen lange abgeschottet und öffentlich wenig
eingemischt - ganz im Sinne von Luthers Zwei-Reiche-Lehre, die politische
Zurückhaltung nahe legt. Sie kuschelten sich in ihren frommen Ghettos ein,
kritisierten selbst die Vertreter der Evangelikalen die eigenen Schäfchen
immer wieder. Inzwischen ist aber von politischer Zurückhaltung nichts mehr
zu spüren. Wenn von diesem Sonntag an rund 350.000 deutsche Evangelikale an
ihrer jährlichen Gebetswoche teilnehmen, beten sie auch "für Christen in
Schlüsselpositionen von Politik, Kultur, Medien und Wirtschaft"; "für
unsere Regierung im Land bei der Beurteilung des Islam"; und dafür, "dass
unser Land und die Gesellschaft wieder mehr von christlichen Werten und der
christlichen Botschaft geprägt werden".
Immer lauter mischen sich die Evangelikalen in Debatten und Wahlkämpfe ein,
bombardieren Politiker mit Briefen und Fragen. "Sind Sie bereit, die
Propagierung familienzerstörender Elemente in den Medien gegebenenfalls
auch durch gesetzliche Schutzmaßnahmen zu vermindern?", heißt es in einem
Wahlfragebogen, den der Evangelikalen-Dachverband "Deutsche Evangelische
Allianz" an die Politik richtet. Die Evangelikalen betreiben ein ganzes
Netzwerk aus Zeitschriften, Nachrichtenagenturen, Fernsehsendern und
Radiostationen, sie beschäftigen eigene Lobbyisten und PR-Kräfte. "Wir
haben derzeit so viele Chancen, uns selbst in den Medien darzustellen, wie
nie zuvor", jubelte im Dezember der Evangelikalen-Funktionär Thomas
Schirrmacher.
Es sind nunmehr fast eineinhalb Millionen Evangelikale, die sich unter dem
Dach der "Deutschen Evangelischen Allianz" versammeln. Manche Schätzungen
kommen sogar auf bis zu 2,5 Millionen Evangelikale in Deutschland. Hunderte
neue freikirchliche Gemeinden, die dem evangelikalen Spektrum zugerechnet
werden, haben sich in den vergangenen Jahren gegründet. Viele von ihnen
sind deutlich radikaler als die klassischen Freikirchen, die oft bereits im
19. Jahrhundert entstanden sind. Dazu kommt eine unübersichtliche Zahl von
Bibelhauskreisen, missionarischen Zentren, evangelikalen Vereinen und
Sozialeinrichtungen - von Drogentherapiegruppen auf Bauernhöfen bis zu
Armenspeisungen in den Städten.
Seit wenigen Wochen haben die Evangelikalen auch eine staatlich genehmigte
Hochschule, die Freie Theologische Hochschule in Gießen, die vorher
lediglich den Status einer Akademie hatte. Als "Durchbruch für die
Evangelikalen in Deutschland" hat deren Rektor das gefeiert. Die Grundlage:
die 1978 aufgestellte Chicago-Erklärung zur Irrtumslosigkeit der Bibel.
Auch wenn die Bewegung alles andere als einheitlich ist: Wer das
evangelikale Deutschland bereist, von Berlin bis Stuttgart-Feuerbach, von
Leipzig bis ins hessische Werratal, erfährt rasch, was sie verbindet: Es
ist der Widerstand gegen einen Zeitgeist, den sie als dekadent und gottlos
empfinden. Die Evangelikalen stemmen sich gegen Emanzipation und
Evolutionslehre, Pornografie, Homosexualität und den Islam. Sie geben sich
proisraelisch - und missionieren dennoch auch unter Juden. Denn in ihren
Augen wird nur errettet, wer Jesus als den Messias anerkennt.
Doch so sehr sich die Evangelikalen um Einfluss bemühen, einem religiösen
Rollback sind enge Grenzen gesetzt. Deutschland, eine heilige christliche
Nation? Mit der Wirklichkeit hat das wenig zu tun. Und das ist ihre
heimliche Tragödie: Eine pluralistische Gesellschaft hält die Evangelikalen
aus - sie sind es, die an ihr verzweifeln.
An den Wänden des Konferenzraums eines Büros in Leipzig hängen Zeichnungen
von Einfamilienhäusern, Pläne von Wohngebieten, Prospekte. "Letzter
Bauabschnitt in Engelsdorf", steht auf einem, "Nutzen Sie Ihre Chance!" Ein
Mittfünfziger mit Bart und Brille betritt den Raum, zur Krawatte trägt er
eine silberne Nadel. "Dr.-Ing. Reinhard Steinbruch", steht auf seiner
Visitenkarte. Er ist der Chef des Planungsbüros im Leipziger Süden. Und
Diakon in der Freien evangelischen Gemeinde Leipzig.
Das Projekt, das Steinbruch heute präsentiert, hat nichts mit Häusern zu
tun. Es geht um den biblischen Erlebnispark: das Genesis-Land. Die Idee
stammt von schöpfungsgläubigen Schweizern. Kreationisten. Eigentlich
wollten sie den Park im Raum Heidelberg bauen, bekamen aber im Sommer eine
Abfuhr von Stadt und Region. Doch ihre millionenteuren Pläne wollen sie
nach wie vor umsetzen. Nur wo? Ginge es nach Steinbruch, würde der
Bibelpark in Ostdeutschland gebaut. "Das ist praktisch Diaspora", sagt er
in leichtem Sächsisch. Christliche Diaspora.
Zeitreise durch die Geschichte der Menschheit, von der Schöpfung bis zur
Vollendung", steht auf einem Katalog, der auf dem Konferenztisch liegt.
Darin sind die Grundsätze des Parks festgehalten: Es solle ein Ort
entstehen, "an dem der biblische Bericht als historische Tatsache
interpretiert und dargestellt wird". Was das heißt, steht dort auch: Das
Erdzeitalter wird auf 6.000 bis 10.000 Jahre veranschlagt. An anderer
Stelle heißt es: Dinos und Menschen lebten einst gemeinsam auf der Erde -
schließlich erinnerten die Beschreibungen des Behemot und des Leviathan im
Buch Hiob an Dinosaurier. Ein Faltplan zeigt eine Übersicht über den Park.
In der Mitte: die Arche Noah. Auch sie soll so gebaut werden, wie es in der
Bibel steht, 300 Ellen lang, 50 Ellen breit, 30 Ellen hoch.
Steinbruchs Team hat mehrere Elemente des Parks entworfen. So auch den
Pavillon "Feuer", der die Johannesoffenbarung darstellen soll. Die
Apokalypse. Steinbruch schiebt eine DVD in den Laptop. Ein langgezogenes
Gebäude ist zu sehen. "Komm herauf und ich werde dir zeigen, was nach
diesem geschehen muss", sagt eine Stimme. Feuer. Schreie. "Den Abschluss
der großen Trübsal erlebt der Besucher durch das Zerfallen des Universums",
sagt die Stimme. Man sieht die Weltkugel. Ein Knall. Dunkelheit.
Schließlich gelangt man in den Raum des Jüngsten Gerichts. An dieser
Stelle, so die Stimme, werden "Lasermenschen" erscheinen. Ein Teil stürzt
in einen Feuersee. Der Rest gelangt in die neue Welt. Das Neue Jerusalem.
Nach sechs Minuten endet der Film.
Glaubt Dr.-Ing. Reinhard Steinbruch all das? Glaubt er an das baldige Ende?
Steinbruch zögert, druckst herum, schließlich antwortet er: Die Zeichen
seien nicht zu übersehen. Die Pole schmelzen, das Wetter verändere sich,
Naturkatastrophen nehmen zu. Keiner sei mehr für die Ehe, es werde in losen
Partnerschaften gelebt, von Homosexualität ganz zu schweigen. "Der
Zeitgeist an sich, die ganzen Lebensinhalte", sagt Steinbruch. "Das ist ein
endzeitliches Verhalten."
Ein Wohnhaus im Norden des Berliner Bezirks Neukölln, es ist November.
"Kommunismus" hat jemand auf die Fassade gesprüht. Im ersten Stock haben
sich gut zwanzig amerikanische und deutsche Twens versammelt. Zwei Tage ist
es her, dass in den USA Obama die Wahl gewonnen hat, zwei Drittel der unter
30-Jährigen haben ihn gewählt. Aber hier ist von Obamanie nichts zu spüren.
Ein Twen aus Obamas Heimatstadt Chicago sagt, er habe gegen ihn gestimmt.
Wegen dessen liberaler Haltung zur Abtreibung. Dan (28) aus Michigan setzt
sich vor die Gruppe, er trägt T-Shirt, Jeans und weiße Nike-Socken. Er
liest aus der Bibel, Psalm 23, ein deutscher Student übersetzt.: "Und muss
ich auch durchs finstere Tal, ich fürchte kein Unheil." Danach gibt es
Popcorn, Tortilla-Chips und Jesus-Lieder: "Denn ich bin sein und er ist
mein, mit seinem Blut macht er mich rein."
Wenn man so will, ist Dan ein Missionar im Praktikum, ein evangelikaler
Entwicklungshelfer. "Campus Crusade for Christ" heißt die evangelikale
Organisation, die ihn und ein Dutzend weitere US-Amerikaner für ein Jahr
nach Berlin geschickt hat. Crusade, das heißt übersetzt Kreuzzug.
Mehr als 1.000 Hochschulgruppen zählt "Campus Crusade" in den USA. Das
deutsche Pendant "Campus für Christus" ist bisher an rund zwanzig
Hochschulen vertreten. Die Bewegung sei zwar auch in Deutschland stark,
aber bisher noch "very underground", sagt Dan. Wer seine Gruppe beobachtet,
wie sie an der Technischen Universität in Berlin Jesus-DVDs und Broschüren
über Gottes Plan für unser Leben anpreist, weiß, was er meint. Fast alle
ignorieren den Stand vor der Mensa einfach nur. "Die meisten Studenten
können wahrscheinlich ihre ganze Unizeit hinter sich bringen, ohne ein
Gespräch mit jemandem zu haben, der wirklich an Jesus glaubt", sagt Dan.
Aber genau deshalb ist er ja hier.
Der Rohbau eines Autowasch-Centers in Stuttgart, umgeben von Autohäusern
und Tankstellen. Gleich dahinter: das "Gospel Forum". Der knapp zwanzig
Meter hohe Flachdachbau ist eine Mischung aus Mehrzweckhalle und
SB-Möbelmarkt. Viel Glas. Viel Beton. Helles Holz. Lüftungsrohre an der
Hallendecke. Das "Ikea der Evangelikalen" hat man es schon genannt.
Neuankömmlinge bekommen Gummibären in Herzform. Und einen Gutschein für ein
Erfrischungsgetränk. Man gibt sich offen, nach außen hin modern. Zu Beginn
des Gottesdiensts spielt eine Soft-Rock-Band. Nach wenigen Takten recken
die ersten Besucher die Arme in die Höhe. Die Halle ist voll, selbst auf
der Empore bleibt kaum ein Stuhl leer. Pastor Wenz trägt ein
fliederfarbenes Hemd zur dunklen Anzughose, als er an diesem Sonntag im
November vor seiner Gemeinde steht. "Gott sprach gerade zu meinem Herzen,
jemand wird jetzt geheilt an seiner Bauchspeicheldrüse", ruft Wenz über ein
Soundbett aus Orgel und Gitarre. "Die Ärzte werden es bestätigen!"
Göttliche Wunder auf der einen, dämonische Mächte auf der anderen Seite:
Hier in Stuttgart-Feuerbach glaubt man fest daran. Am Abend zuvor war ein
italienischer Gastprediger da. Am Ende seines Heilungsgottesdiensts kommen
die Besucher nach vorne, auf Krücken, in Rollstühlen, gestützt von
Angehörigen. Eine Familie bringt ihr schwer krankes Kleinkind. Der Prediger
drückt ihm die Hand auf den Kopf: "By the power of god, be healed."
Peter Wenz und seine Biblische Glaubensgemeinde (BGG) gehören zur
charismatisch-pfingstlerischen Strömung des Christentums, jenen
Evangelikalen, die besonders viel Zuwachs verzeichnen. Ihr Ziel: Eine
"persönliche Beziehung" zu Gott aufzubauen - wie auch immer das
funktioniert. Wenz selbst habe bis 1978 ohne eine solche Beziehung zu Gott
gelebt, erzählt er später in einem Hinterzimmer. Dann erlebte er seine
Wiedergeburt. Er war damals zwanzig Jahre alt und angehender Zeitsoldat.
Heute ist er ein Soldat des Herrn.
Einer, der die Öffentlichkeit nicht scheut. Im September 2006 durfte Wenz
in Sabine Christiansens TV-Talk über ein Thema diskutieren, mit dem er sich
auskennt: Wann wird aus Frömmigkeit Fanatismus?
"Sex: Gottes Wahrheit" heißt ein Ratgeber, den Frauen an einem Stand im
Foyer verkaufen. Dort werden vorehelicher Sex und Oralverkehr als Werk des
Teufels bezeichnet. Onanie? Führt in dämonische Abhängigkeit. Jugendliche
stehen im Foyer, albern herum. Sie hatten gerade Teeniebibelschule. "Allah
ist mächtig, Allah ist groß", ruft einer. "Ein Meter siebzig und
arbeitslos."
Über den "Charisma Shop" ist auch eine Predigtreihe zum Thema "Sexualität
im Licht der Bibel" als CD-Set zu beziehen. "In der Bibel steht alles genau
drin", ruft Pastor Wenz auf der Aufnahme. "Gott will den Mann männlich und
die Frau will er weiblich." Aus der Gemeinde hört man ein lautes "Ameeen".
Später doziert Wenz über Homosexualität. Seine Stimme hebt an: "Wenn jemand
hier ist heute, der homosexuell gebunden ist: Du sollst frei werden durch
den Kraftstrom des Heiligen Geistes."
ie Gemeinde radikalisiere sich in Richtung "eines protestantischen
Fundamentalismus US-amerikanischer Prägung", schrieb der
Weltanschauungsbeauftragte der evangelischen Landeskirche Württemberg schon
vor gut acht Jahren. Wenige Monate später öffnete das "Gospel Forum".
Solche Kritik wischt Wenz weg. Es gebe immer Neider, sagt er. Er wähnt sich
auf der richtigen Seite. Als Teil einer weltweiten Bewegung, die wächst und
wächst und wächst. Unter ihm ist um die Gemeinde eine Art
sozial-moralisches Milieu herangewachsen, vergleichbar mit dem
sozialdemokratischen Arbeitermilieu im 19. Jahrhundert. Oder dem
katholischen Milieu in den 20ern und 30ern. Zur Gemeinde gehört der
"Christliche Sportverein Stuttgart 1999 e. V.". Eine eigene Kita. Eine
Pfadfindergruppe. Seniorentreffs. Von der Wiege bis zur Bahre: evangelikal.
Rosemarie D. (42) steht im Garten ihres Hauses in Archfeld im Werratal, ein
Dorf am äußersten Rand Hessens. Sie trägt einen langen Rock und ein blaues
Kopftuch, das mit Spangen an ihren blonden Haaren befestigt ist. Auf dem
Arm hält sie die knapp ein Jahr alte Sulamith. Noah (5) und Jeremia (8)
werfen sich gegenseitig einen Gummiring zu. "Hochwerfen und dann
auffangen", ruft die Mutter. Sportunterricht. Zwischen Gemüsebeet und
Gartenteich.
Einige Meter weiter steht eine Wäschespinne. Darauf hängt ein T-Shirt, das
einem der sieben Kinder gehört. Der Aufdruck lautet: "Ich bin ein
Meisterwerk Gottes." Am Gartentor steht auf einem Holzschild: "Herr, Gott,
du bist unsere Zuflucht für und für".
Ende der 90er-Jahre haben sich Rosemarie und Jürgen D. in das
150-Seelen-Dorf zurückgezogen, in ein altes Bauernhaus mit knarzenden
Dielen und niedrigen Decken. Hier können sie leben, wie sie wollen. Oder
eher: so leben, wie Gott es will. So dachten sie zumindest bis vor kurzem.
Rosemarie und Jürgen D. weigern sich seit Jahren, ihre Kinder in eine
Schule zu schicken. Sie wollen nicht, dass jemand anderes die Kinder
unterrichtet als sie, die Eltern. Das Landgericht Kassel hat die beiden im
Sommer deshalb zu je drei Monaten Gefängnis verurteilt. Die Familie ging in
Revision, mit Erfolg, an Heilig Abend kam der Bescheid. Nun muss der Fall
neu verhandelt werden. Ausgang: ungewiss.
500 bis 1.000 sogenannter Homeschooling-Familien gibt es in Deutschland.
Eine Entwicklung, die der Staat eigentlich unterbinden will. Die Entstehung
von "Parallelgesellschaften" müsse verhindert werden, heißt es in den
Urteilen hoher Gerichte.
Parallelgesellschaft? Eine hessische Christenfamilie?
Zum Klassenzimmer geht es den Flur entlang links. Dort steht eine kleine
Schultafel, an der Wand hängt eine Weltkarte. Daniel (12) und Lukas (14)
sitzen an ihren Schreibtischen. Sie haben Unterricht beim Vater. Lukas
lernt Geschichte, Daniel Englisch. "She teaches. She ist das Subjekt",
erklärt Jürgen D. Jeden Tag von sieben bis dreizehn Uhr ist Unterricht. Am
Nachmittag dann verdient der studierte Politologe Geld mit
Nachhilfeunterricht. Viel dürfte dabei nicht zusammenkommen. Aber auf
irdische Reichtümer gibt die Familie sowieso nicht viel.
Am Ende der Stunde vermerkt der Vater, was die Kinder gelernt haben.
Englisch, Relativsätze, schreibt er in Daniels Ordner. In einem anderen
Ordner, den er hervorkramt, hat er die Lehrpläne Thüringens abgeheftet, an
denen er sich grob orientiere. "Das hat alles Hand und Fuß."
Hat es das wirklich? Auf dem Schreibtisch liegen Stifte der
fundamentalistischen "Partei Bibeltreuer Christen", die bei den letzten
Bundestagswahlen knapp 110.000 Stimmen bekam. In den Regalen stehen
Dutzende von alten Schulbüchern. Gängige Lehrwerke von Klett oder
Diesterweg, wenn auch teils aus den Siebzigern. Im Regal mit den
Biologiebüchern steht jedoch ein neueres Buch: "Evolution. Ein kritisches
Lehrbuch", die bekannteste deutsche Kreationistenfibel. Einen Raum weiter
steht "Die Evolutions-Lüge". Ein Buch, in dem es gleich zu Beginn heißt:
"Aus einem Affen wurde nie ein Mensch!"
Ist das der Grund, warum Familie D. ihre Kinder nicht in die Schule
schicken wollen? Weil sie ihnen Darwin nicht zumuten wollen? Die
Erkenntnisse jenes Mannes, dessen 200. Geburtstag die Welt im Februar
feiert?
Jürgen D. sitzt nach dem Unterricht in der kühlen Stube, der Holzofen ist
an diesem Herbsttag noch nicht in Betrieb. Er trägt einen grauen Pulli,
schwarze Jeans und braune Sandalen. "Der Glaube an Gott, an Jesus Christus,
was spielt der denn noch für eine Rolle? Man wird als Christ ja heute fast
schon belächelt", sagt er. Er kramt eine Schrift hervor, die er zusammen
mit seiner Frau verfasst hat: "Jonathans Werdegang als Hausschüler". Er
will damit zeigen, wie gut die Kinder lernen. Darin ist nachzulesen, wie
der älteste Sohn nach Jahren des Hausunterrichts kurz die Realschule
besuchte und mit einem Notenschnitt von 1,1 abschloss. Gerade hat Jonathan
(16) eine Schreinerlehre angefangen. Ein Handwerksberuf. Wie Jesu Vater
Josef, der Zimmermann.
Es ist still geworden im Haus, trotz der sieben Kinder. Auch von draußen
dringt kein Autolärm herein. Man hört keine Handys, keine Gameboys, keinen
Fernseher, kein Radio. All das wollen die Eltern von ihren Kindern
fernhalten.Was ist mit Sexualkunde? Die Frage lässt Jürgen D. unruhig
werden. Dies sei kein Thema, das man im Unterricht explizit behandeln
müsse, sagt er. Aber die Kinder bekämen ja alles mit. Wenn der Hahn die
Henne auf dem Hof besteigt zum Beispiel.
Rosemarie D. sitzt in der Küche, bereitet das Essen vor, Nudeln mit
Tomatensalat. "Lieber drei Monate Gefängnis für uns Eltern als jahrelanges
Gefängnis in der Schule für die Kinder", sagt sie. In der Schule seien der
Manipulation Tür und Tor geöffnet. "Da kommen irgendwelche Modeströmungen
rein und bestimmte Meinungen werden verfestigt." Was genau sie damit meint?
"Das, was der Zeitgeist eben gerade diktiert."
Auf dem Weg zum Bahnhof erzählt Jürgen D. von den Christenverfolgungen im
Römischen Reich. Und davon, wie heute weltweit Christen unterdrückt würden.
In China. Nordkorea. Was er nicht sagt, aber wohl meint: Inzwischen ist es
auch hier schon so weit. Verbitterung klingt in seinen Worten mit. Übers
Auswandern haben sie nachgedacht, aber das Geld fehlt.
Die Familie als christliche Eiferer zu betrachten, ist die eine
Möglichkeit. Man kann es aber auch so sehen: Vor hundert Jahren wären
Jürgen und Rosemarie D. in Deutschland kaum aufgefallen. Im 21. Jahrhundert
aber wirken sie wie aus der Zeit gefallen.
"Gott hat uns diesen Weg gezeigt", sagt Jürgen D. zum Abschied. Dem
Besucher drückt er ein Glas Honig in die Hand, von den eigenen Bienen. Und
ein Neues Testament.
Wolfgang Baake (58) bewegt seinen wuchtigen Körper in das Café Einstein in
Berlin, Unter den Linden, nur wenige hundert Meter vom Bundestag entfernt.
Ein Treffpunkt von Politikern, Journalisten, Lobbyisten. An den Wänden
hängen Fotos von Genscher und Clinton. Baake ist so etwas wie der
Cheflobbyist der deutschen Evangelikalen. Er nennt sich "Beauftragter am
Sitz des Deutschen Bundestages und der Bundesregierung". Seine
Organisation, die "Deutsche Evangelische Allianz", findet sich auf der
Lobbyliste des Bundestags auf Platz 744 von 2051, kurz nach der Deutschen
Dystonie Gesellschaft. Baakes Themen sind der Schutz von Ehe und Familie,
Abtreibung, Sterbehilfe. "Wir müssen dahin zurück, wo unsere Gesellschaft
herkommt", sagt Baake zum Frühstück.
enn er sich öffentlich zu Wort meldet, verteidigt Baake zum Beispiel
Lehrer, die im Biologieunterricht die Schöpfungslehre unterrichten. Oder er
kritisiert das ZDF aufgrund der Filmreihe "Sommernachtsfantasien". Für ihn
ist diese dem Thema Erotik verpflichtete Reihe nichts anderes als
"praktizierte Pornografie". Lange hat das, was er sagt, nur wenige
interessiert. Im Dezember aber verlangte Baake den Rücktritt des Chefs der
Bundeszentrale für politische Bildung, Thomas Krüger - und hatte damit fast
Erfolg. Streitpunkt war ein Text in einer bundesweiten Schülerzeitung, in
dem die jugendlichen Autoren die Evangelikalen heftig kritisierten. Die
Zeitung wird von der Bundesbehörde mitfinanziert. Auf Druck von bibeltreuen
Christen und aus der Politik distanzierte sich Bundeszentralenchef Krüger
von dem Schülerheft - und von einem Begleitschreiben, in dem er selbst
Islamisten und evangelikale Gruppen verglichen hatte. Es ist zwar nur ein
kleiner, aber doch bemerkenswerter Sieg für die Evangelikalen. Und für
Baake.
Ein Foto vom März des Jahres 2007 zeigt ihn und andere Vertreter der
deutschen Evangelikalen im Berliner Bundeskanzleramt. Neben der
Pfarrerstochter Angela Merkel. Es sei ein sehr interessantes Gespräch
gewesen, erinnert sich Baake an diesem Freitag im Herbst. Was sie denn
Interessantes miteinander besprochen haben? "Vertraulich." Nach dem
Frühstück will Baake an diesem Tag noch Abgeordnete von Union und FDP
treffen. Wen genau, sagt er wiederum nicht. Einen "Funktionär der
Fundamentalisten" hat ihn die konservative Welt einmal genannt.
Aber ist Baake das? Ein Fundamentalist? "Was ist besser, als auf einem
Fundament zu stehen?", fragt Baake am Ende des Gesprächs zurück. "Dem
Fundament der Bibel?"
10 Jan 2009
## AUTOREN
Wolf Schmidt
Wolf Schmidt
## TAGS
Schule
## ARTIKEL ZUM THEMA
Debatte um eine Zwangsinstitution: Gar keine Schule
Eine Gruppe Hamburger Eltern stellt die Schulpflicht infrage. Sie sagen,
die Schule mache ihre Kinder krank. Sie wollen, dass Zuhauselernen erlaubt
wird.
Flucht vor der Schulpflicht: Deutsche erhalten US-Asyl
Damit sie ihre Kinder zu Hause unterrichten kann, siedelt Familie Romeike
aus Baden-Württemberg in die USA über. Ein US-Gericht urteilte, die
Romeikes würden politisch verfolgt.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.