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# taz.de -- Erforschung von früherem KZ Bergen-Belsen: Die zweite Befreiung
> Zur Erforschung des früheren Konzentrationslagers Bergen-Belsen gibt es
> kaum Dokumente. Der wissenschaftliche Wert von Zeitzeugen-Aussagen ist
> umstritten.
Bild: Das Grauen vor Augen: Gebäude des Ex-Konzentrationslagers in der Gedenks…
Im Konzentrations- und Kriegsgefangenenlager Bergen-Belsen kamen während
der Nazizeit mehr als 70.000 Menschen ums Leben. Mit einem neuen
Dokumentationszentrum hat sich die Gedenkstätte in der Nähe von Celle vor
anderthalb Jahren zu einem weltweit beachteten Ort moderner
Erinnerungsarbeit entwickelt. Erstmals haben sich nun dort hochkarätige
Wissenschaftler aus den USA und Europa getroffen, um über die Zukunft des
Erinnerns zu sprechen.
Der Zeitzeuge - der größte Feind des Historikers? Hans Mommsen möchte ihn
am liebsten erschießen, wie er sagt. Freilich erst, nachdem er ihn befragt
hat. Der emeritierte Geschichtsprofessor aus München meint das scherzhaft -
und spricht aus Erfahrung. Er habe einmal Zeitzeugen über den
Reichstagsbrand befragt. "Alle haben grundsätzlich ihre Meinung geändert",
erzählt Mommsen. Diejenigen Zeitzeugen, die vorher von der These der
Alleintäterschaft überzeugt gewesen sein, seien später dagegen gewesen und
umgekehrt. Mommsen hält sich lieber an Akten und Fakten, wenn es geht.
Jedoch gibt es Fälle, in denen es nicht geht: wenn es keine oder kaum
Dokumente gibt. Das trifft auf Bergen-Belsen zu. Vor der Befreiung durch
die britische Armee verbrannte die SS die Lagerregistratur. Die Befreier
brannten die Baracken nieder, um Seuchen zu bekämpfen. Als die Ausstellung
des neuen Dokumentationszentrum in Bergen-Belsen konzipiert wurde, rückten
Zeitzeugen zwangsläufig in den Mittelpunkt.
Keine Dokumente. Das Problem haben Historiker, die sich mit dem Holocaust
auseinandersetzen, weltweit. "Es gibt enorme Lücken in unserem Wissen",
räumt David Marwell vom Museum of Jewish Heritage in New York ein.
Unterlagen, die die Nazis nicht vernichtet hätten, seien oftmals durch die
Bomben der Alliierten zerstört worden.
Paul Shapiro vom Washingtoner Holocaust Memorial Museum fordert,
Zeitzeugenberichte genauso auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen wie andere
Quellen. Doch die Frage nach dem "wissenschaftlichen Quellenwert" stellte
sich den Machern der Ausstellung in Bergen-Belsen nur bedingt. "Wir müssen
fragen, ob stimmt, was gesagt wird", räumt Habbo Knoch, Geschäftsführer der
Stiftung Niedersächsische Gedenkstätten, zwar ein. Der Wert eines
Zeitzeugenberichts aber sei ein anderer. "Es ist der Zugang zu der
traumatisierenden Situation, der uns durch diese Berichte ermöglicht wird",
meint Knoch. Mehr als 350 Interviews mit Überlebenden des KZ Bergen-Belsen
haben zwei Mitarbeiterinnen der Gedenkstätte seit 1999 auf Video
aufgenommen. Auf Monitoren werden sie in der neuen Ausstellung gezeigt.
Für die Zeitzeugen selbst hat das Erzählen oft eine weitere Funktion: Sie
wehren sich damit gegen ihre Entmenschlichung. "Das Schlimmste war, dass
man uns im Lager Nummern gegeben hat", erzählte die polnische
Bergen-Belsen-Überlebende Joana Kioca-Fryczschkowska unlängst bei einer
Begegnung mit Schülern. "Die Interviews sind eine zweite Befreiung der
Überlebenden", meint deshalb Geoffrey Hartman von der Yale University.
Das, was die Historiker "De-Individualisierung" nennen, ging nach dem Krieg
weiter. In Großbritannien wurden zwar allerorts Fotos und Filme vom
befreiten Konzentrationslager Bergen-Belsen gezeigt. "Die Presse aber
wählte meist nur die Bilder aus, die das Lager in der Gesamtheit zeigen",
sagt Rainer Schulze, der in Großbritannien an der Universität Essex lehrt.
Das Bild vom individuellen Leid habe man den Landsleuten nicht zumuten
wollen. Schulze vermutet zudem, dass die Briten den Opfern nicht ins Auge
blicken wollten. Schließlich hätten sie selbst lange Zeit keine Juden ins
Land gelassen und sich so mitschuldig gemacht.
Einig war man sich bei der Tagung darüber, wer tatsächlich die größten
Feinde des Historikers sind: Film und Fernsehen. In Sendungen wie Guido
Knopps "History" im ZDF sieht der Göttinger Professor Bernd Weisbrod die
"Tendenz, den Holocaust zu emotionalisieren und zu trivialisieren". Und im
Film "Der Untergang" bildet der Originalton von Hitlers Sekretärin Traudel
Junge den vermeintlich authentischen Rahmen. "Zeitzeugen werden lediglich
benutzt, um eine emotionale Erzählkraft zu erzeugen", sagt Michael Elm von
der Universität Frankfurt.
Eines aber muss sich die Geschichtswissenschaft selbst zuschreiben: Sie hat
es versäumt, frühzeitig mit wissenschaftlichen Zeitzeugeninterviews zu
beginnen. Heute sind die Überlebenden hochbetagt. "Die Zeit rennt", sagt
Stiftungsleiter Habbo Knoch. Mit 350 Videointerviews für die Gedenkstätte
Bergen-Belsen will er sich nicht zufrieden geben.
13 Jan 2009
## AUTOREN
Lukas Sander
## TAGS
NS-Verfolgte
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