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# taz.de -- Bookmarks: "Verborgene Schätze zeigen"
> Die Demokratisierung des Wissens zeichnet die Ausstellung "Bookmarks" in
> der Kestner Gesellschaft in Hannover nach. Sie zeigt Keilschriften, alte
> Bibeln und Ferngläser aus der dortigen Leibniz-Bibliothek und hat das
> Ganze werbewirksam auf YouTube hochgeladen. Ein bizarres und schlaues
> Konzept.
Bild: Bizarres und schlaues Konzept: Die Kestner Gesellschaft in Hannover zeigt…
taz: Herr Moll, halten sich alte und zeitgenössische Exponate in Ihrer
Schau die Waage?
Frank-Thorsten Moll: Um das zu beantworten, müssten wir die alten Exponate,
die auf unsere YouTube-Seite hochgeladen wurden, als Objekte mitzählen. So
gesehen käme wohl eine Überzahl alter Exponate heraus. Das ist aber nicht
entscheidend. Denn unsere Schau besteht grundsätzlich aus zwei
gleichberechtigten Teilen: einerseits der "Schatzkammer", die Exponate der
Hannoverschen Gottfried Wilhelm Leibniz zeigt, und andererseits dem Labor,
das sich um YouTube kümmert.
Und dort sind Ihre Exponate noch einmal zu sehen.
Ja. Wir haben alle Exponate gescannt und von einigen - Landkarten etwa -
Filme gemacht, sodass man sie optisch quasi abfahren, abtasten kann. Wir
möchten unsere Objekte einfach digital verfügbar machen. Wobei wir nicht
Original und digitale Kopie gegeneinander ausspielen wollen, sondern beide
Möglichkeiten eigen. Denn sowohl unsere Kooperationspartner in der
Bibliothek als auch wir glauben, dass sowohl das Digitalisieren als auch
das Anschauen des Originals Vor- und Nachteile haben.
Welche Nachteile hat es, das Original anzusehen?
Man kann - jedenfalls in der Ausstellung - aufgrund restauratorischer
Vorgaben nicht in den wertvollen alten Büchern blättern. Die sind an einer
Seite aufgeschlagen und liegen so in der Vitrine. Da die Restauratoren die
Bücher aber komplett durchfotografiert haben, kann man digital jede
einzelne Seite betrachten. Genau das bieten wir auf der Website
"bookmarks2009.de" an. Außerdem bieten wir auf YouTube Tours die Chance,
einerseits ausgewählte Führungen durch YouTube nachzuvollziehen,
andererseits selbst Führungen anzubieten. Was für ein Ausstellungshaus wie
uns ungewöhnlich ist: Wir haben nicht gesagt, dass der Kurator der
alleinige Autor der Schau ist oder die Referenten unseres Begleitprogramms
die einzigen Experten. Sondern wir öffnen den Raum für eine
Auseinandersetzung auf verschiedenen Ebenen. Schauen und Staunen sind
erlaubt und erwünscht.
Trotzdem scheint es, als hätten Sie nicht gewagt, eine Schau über alte
Bücher zu machen und sich deshalb YouTube angedient.
Das mag so scheinen, aber die Vorgeschichte der Schau ist anders:
Einerseits wurde uns Kuratoren bewusst, dass wir mit dem Phänomen YouTube
eine gewaltige Umwälzung miterleben. Dort werden an jedem einzelnen Tag
200.000 Videos hochgeladen. Pro Minute bedeutet das Material für 13
Stunden. Andererseits ist auffällig, dass sich etablierte Medien wie die
ARD bei YouTube anbiedern. Und zwar nicht deshalb, weil das so schick ist,
sondern weil sie ein Zielgruppenproblem haben: die Generation der zehn- bis
25-Jährigen, die nicht mehr Fernsehen schauen, sondern all ihre Filme auf
YouTube konsumieren. Das kann man als Untergang des Abendlandes bezeichnen
nach dem Motto: Die Jugend von heute ist extrem selektiv, stimmt quasi mit
den Füßen ab und will nur noch schlechte Filme gucken. Ich glaube aber
nicht, dass das stimmt. Ich vermute vielmehr, dass junge Menschen auf
YouTube eine Kulturpraxis trainieren, die sie später im Beruf anwenden
werden. Denn die Frage ist doch: Was passiert, wenn die, die jetzt ihre
Quatsch-Videos auf YouTube austauschen, irgendwann mit seriösen Inhalten
umgehen? Sie werden dann anwenden, was sie derzeit üben: Wie orientiere ich
mich im Internet? Wie sortiere ich Inhalte? Wer kann das tun - und was
bedeutet es, dass plötzlich jeder zum Autor werden kann? Was bedeutet es
für unsere Gesellschaft, wenn schlaue Firmen Videos produzieren, die so
viele Klicks bekommen, dass sie so oft angeschaut, kopiert, nachgeahmt und
verändert werden, dass sie, x-fach weitergegeben, als Werbeträger fungieren
können - und so massiv Werbekosten sparen helfen? Die Frage nach der
Rezeption lässt sich übrigens auch auf unsere "Schatzkammer"-Exponate
rückkoppeln: Was ist eine Keilschrift anderes als ein Wissensspeicher? Und
wer kann das schreiben, wer rezipieren? Welche Realitäten bildet der Text
ab: Welche Bedeutung hat es, wenn ein König aus Assyrien seinen Leuten
daheim mittelt, dass der Krieg wunderbar läuft, er aber noch ein paar 100
Mann braucht, um die Schlacht zu gewinnen? Das ist - wie im Internet - die
Übertragung von Wissen zu einem bestimmten Zweck. Nur, dass das Internet
ein Versprechen einlöst, das bislang alle Medienrevolutionen gaben: das
Wissen zu demokratisieren.
Wer lehrt denn in der demokratischen YouTube-Community das Sortieren von
Inhalten?
Das ist die entscheidende Frage: Wer kontrolliert - und wer zivilisiert das
Ganze? Die Autorin Juli Zeh hat einmal gesagt: Wenn sie das Internet
betrachtet, hat sie das Gefühl, dass es sich auf der Entwicklungsstufe des
Neandertalers aufhält: Dinge werden ausprobiert, es geht um Wachstum und
Superlative: Wer ist schneller, besser, weiter - und alles wird daran
gemessen, wie viele Zugriffe es gab. Da wollen wir - auch mit unserer
Ausstellung - die Leute natürlich schon dazu bringen, gewisse Schwerpunkte
zu setzen.
Sie wollen die Community also zivilisieren...
Ich will gar nichts zivilisieren, das steht mir auch nicht zu. Ich
beobachte nur, dass derzeit eine Generation aufwächst, die gewohnt ist,
Inhalte sofort parat zu haben und sofort zu reagieren. Diese Leute
erwarten, dass Inhalte immer auf vielen Ebenen abgerufen werden können. Es
könnte also sein, dass diese Menschen in fünf oder zehn Jahren ganz andere
Ausstellungen sehen wollen, als wir heute anbieten: Ausstellungen, auf die
man auf mehreren Ebenen zugreifen kann und die auf andere Art vermittelt
werden. Wie die aussehen könnten, weiß ich noch nicht. Aber als
Institution, die sich um die Vermittlung ästhetische Potentiale kümmert,
müssen wir uns dieses Phänomens annehmen.
Dann wäre diese Ausstellung realer Bücher die letzte ihrer Art - ein
Abgesang sozusagen?
Nein, gar nicht. Wir wollen im Gegenteil vermitteln, dass es ein riesiges
Vergnügen bereitet, die alten Originale anzuschauen. Sich zu überlegen, was
Leibniz dachte, als er seine Rechenmaschine bauen ließ. Was es bedeutet,
dass ein Universalgelehrter die Rechenleistung an eine Maschine delegiert
und sagt, ein Mann von Welt solle vermeiden, im Kopf zu rechnen. Das
könnten Maschinen tun. Das Original in der Ausstellung bietet dabei
dreierlei: Es ist ein ästhetische Objekt, speichert Wissen und drückt eine
Geisteshaltung aus. Dasselbe passiert auf YouTube. Abgesehen davon sind
Bibliotheksdirektoren nicht so konservativ, wie man vielleicht denkt. Die
meisten sind sehr froh über die Digitalisierung ihrer Schätze: So kann
endlich zugänglich gemacht werden, was normalerweise im Tresor schlummert.
Die Leibniz-Bibliothek etwa hat keine Räume, um ihre Schätze zu zeigen und
war daher sehr froh über die Kooperation.
Sie hoffen also, dass YouTube Ihre Exponate letztlich auch bewirbt.
Wenn man es so sehen will - ja, natürlich.
Welche Wendepunkte der Wissensvermittlung illustrieren die Exponate der
Leibniz-Bibliothek?
Neben der erwähnten Rechenmaschine wäre das Teleskop zu nennen, das -
zeitgleich mit dem Mikroskop - den Zugriff auf ein Wissen erlaubte, der
zuvor nicht möglich war. Wichtige Station ist natürlich auch die Erfindung
des Buchdrucks, den wir anhand verschiedener Bibeln illustrieren. Dies war
der wohl bekannteste Paradigmenwechsel, der dazu führte, dass wesentlich
mehr Menschen Anteil nehmen und sich äußern konnten. Auch markant: die 1729
erstellte Karte des nördlichen Sibirien, die Berings erste
Kamschatka-Expedition nachzeichnete. Sie steht für das Interesse, diese
Gegend urbar zu machen. Und schließlich: Leibniz' Neujahrsbrief von 1697,
in dem er Herzog Rudolph August den Binärcode erklärt. Es ist der
bekannteste Brief zum binären Code, auf dem ja letztlich der Computer
beruht. Leibniz beschreibt den Code nicht nur, sondern er zeichnet ihn auch
auf: Da kann man sehr viele Nullen und Einsen zählen.
Wenn man diese gelehrten Schriften mit YouTube vergleicht: Leidet die
Qualität der Wissensvermittlung nicht unter der Demokratisierung?
Möglich. Aber wir haben YouTube nicht wegen der Inhalte gewählt, sondern
weil uns die Form der Wissensvermittlung und deren Konsequenzen
interessieren.
YouTube lebt ja von Inhalten, die die Nutzer erstellen. Können die als
"Wissen" gelten?
Das ist die entscheidende Frage: Wer autorisiert Wissen. Derzeit
entscheidet die Usergemeinde, was sie als Wissen akzeptiert und was nicht.
16 Jan 2009
## AUTOREN
Petra Schellen
Petra Schellen
## TAGS
Russland
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