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# taz.de -- Ungarn in der Slowakei: Identität und Aggression
> Rund 500.000 Ungarn leben in der Slowakei. Sie stellen die größte
> Minderheit. Doch das Zusammenleben gestaltet sich schwierig. Populisten
> beider Länder schlachten das aus.
Bild: Tausende pendeln täglich aus der Slowakei über die Donau zur Autofabrik…
Kein einziges Exemplar des Heimatkundebuchs sei an der Schule zu finden,
versichert Marta Mitsová. Sie ist stellvertretende Schulleiterin des
Marianums in Komarno. Man habe sämtliche Exemplare des skandalösen Werks
ans Kultusministerium zurückgeschickt. Die für die dritte und vierte Klasse
der Volksschule gedachten Bücher waren mit Beginn des Schuljahres im
vergangenen September allen ungarischen Schulen in der Slowakei zugestellt
worden.
Das Marianum, ein Bau aus den letzten Tagen der Monarchie, wirkt, umringt
von realsozialistischen Plattenbauten, wie ein Relikt aus einer fernen
Vergangenheit. Hier, in und um Komárno, 100 Kilometer südöstlich der
Hauptstadt Bratislava, konzentriert sich die ungarische Minderheit in der
Slowakei. Jenseits der Donau liegt die ungarische Stadt Komárom, die bis
1920 mit Komárno die alte Festungsstadt Komorn bildete. Sie wurde von den
Türken, die große Teile Ungarns im 16. und 17. Jahrhundert besetzt hielten,
nie eingenommen. Genauso widerständig geben sich die Ungarn heute gegen die
slowakische Zentralregierung.
Die neuen Heimatkundebücher lösten in allen ungarischen Schulen des Landes
Empörung aus. Denn in den aus dem Slowakischen ins Ungarische übersetzten
Lehrmitteln sind Ortsnamen und topografische Bezeichnungen nur slowakisch
zu finden. Daraufhin sackten die Beziehungen zwischen der Slowakei und
ihrer ungarischen Minderheit auf einen Tiefpunkt ab.
Mit über 500.000 Menschen machen die Ungarn etwa ein Zehntel der
Bevölkerung des jungen Staates aus und sind damit die größte Minderheit.
Sie leben vor allem entlang der Grenze zu Ungarn, jener Grenze, die manche
Madjaren, 90 Jahre nachdem sie von den Siegermächten des Ersten Weltkriegs
gezogen wurde, noch immer nicht hinnehmen wollen. "Großungarn" mit rund dem
Dreifachen der heutigen Fläche bleibt vor allem für rechtsnationalistische
Gruppen in Ungarn eine Losung.
Transparente mit solchen Sprüchen beobachtete auch Attila Petheö vom
ungarischen Kulturverein Csemadok in Komárno bei jenem traurigen
Fußballmatch. Anfang November wurde das Stadion in der slowakischen Stadt
Dunajská Streda zum Kriegsschauplatz. Etwa 14.000 ungarische Fans waren zur
Partie Slovan Bratislava gegen den lokalen Verein AC Dunajská Streda, dem
traditionell die ungarische Minderheit die Daumen hält, angereist, davon
rund 600 aus Ungarn. Hooligans oder gefährliche Provokateure habe er keine
entdeckt, versichert Petheö. Vielmehr hätten die slowakischen Fans aus
Bratislava mit dem Schlachtruf "Ungarn zurück über die Donau!" die Stimmung
angeheizt. Trotzdem sei die Polizei in der 17. Spielminute mit ihren
Plexiglasschilden und der Antiaufruhrausrüstung in den ungarischen Sektor
eingedrungen und habe mit Gummiknüppeln auf die Fans eingeprügelt. Mehr als
50 Personen wurden laut offiziellen Angaben verletzt. Petheö, der wenige
Reihen über den Gewaltakten saß, war fassungslos.
Dieser Polizeieinsatz löste eine bilaterale Krise aus. Ungarns Premier
Ferenc Gyurcsány forderte seinen slowakischen Amtskollegen Robert Fico auf,
die Schuldigen zu bestrafen. Fico versicherte, die Polizei verfüge über
Videobeweise. Bisher sind diese Bänder allerdings nicht vorgelegt worden.
Fico und Gyurcsány haben einander seither dreimal getroffen. Wirklich
entspannt hat sich die Lage dadurch nicht, denn beide stehen zu Hause durch
nationalistische Populisten unter Druck.
In der Slowakei sitzt der Rechtspopulist Ján Slota mit seiner Slovenská
národná strana (SNS) in der Regierungskoalition. Kürzlich beleidigte er die
ungarische Außenministerin wegen einer schlecht sitzenden Frisur als
"Schlampe" und verunglimpfte den Nationalheiligen Stephan I., dessen
Reiterstandbild auf der Burg von Buda steht, als "Clown auf einem Ross".
Die Schulbücher mit den slowakischen Ortsnamen gehen auf das Konto des
SNS-Kultusministers. Nach dem Aufruhr setzte das Parlament in Bratislava
auf Entspannung und stimmte - gegen die Stimmen der Slota-Partei -
zugunsten des Wunsches der ungarischen Minderheit, die slowakischen
Ortsnamen nur zur Ergänzung in Klammern anzugeben.
"Die Slowakei ist ein junger Staat mit einem noch nicht gefestigten
Selbstbewusstsein", sagt der Historiker Alexander Varga. Kurz nach der
Abspaltung der Slowakei von der Tschechoslowakei 1992 war er als
stellvertretender Ministerpräsident zuständig für Minderheiten und
Menschenrechte. Er wurde 1942 in Komárno geboren, als die Stadt für wenige
Jahre wieder zu Ungarn gehörte. Denn durch den Wiener Schiedsspruch von
1938 hatte Hitler die ungarischen Siedlungsgebiete der Tschechoslowakei dem
faschistischen Horthy-Regime in Budapest zuschlagen lassen. Nach dem Krieg
wurden die Grenzen wieder auf den Stand von 1920 korrigiert und,
gerechtfertigt durch die Benes-Dekrete, begannen Vertreibungen von
Deutschen und Ungarn. Auch Vargas Familie saß bereits auf gepackten
Transportkisten, als 1948 die Kommunisten die Macht übernahmen und die
Zwangsaussiedlung stoppten. Ethnische Säuberungen passten nicht ins Bild
des proletarischen Internationalismus.
Dass dann 40 Jahre proletarische Harmonie herrschte, wäre eine falsche
Vorstellung, sagt Miklós Duray. Er ist einer der prominentesten
Abgeordneten der Ungarnpartei MKP im Parlament, das auf einem Hügel über
Bratislava thront: "Die Übergriffe kamen einfach nicht an die
Öffentlichkeit." Ein Brandanschlag auf ein ungarisches Jugendzentrum 1986
sei nur ein Beispiel. Aber in letzter Zeit hätten antiungarische
Aggressionen wieder zugenommen. Er selbst sei schon zweimal auf der Straße
gezielt angerempelt worden. Und per Post hätte er jüngst eine Pistolenkugel
bekommen nebst der Aufforderung, sich bis November aus der Politik
zurückzuziehen. Duray gilt als Hardliner, einer, der das Ziel der Autonomie
für die ungarischen Siedlungsgebiete nicht aufgegeben hat. Auf die
Autonomieforderung reagieren die Slowaken aber allergisch. Schließlich
hatte ihre eigene Abspaltung von der Tschechoslowakei vor bald 20 Jahren
auch mit dem Ruf nach Autonomie begonnen.
Jüngste Umfragen unter Jugendlichen belegen, dass jede und jeder dritte
unter 15-Jährige glaubt, die Ungarn seien die größten Feinde der Slowaken.
Und 60 Prozent sind der Meinung, der Gebrauch der ungarischen Sprache solle
auf den häuslichen Bereich beschränkt bleiben.
Das Marianum in Komárno leistet ganze Arbeit, die ungarische Identität der
Schülerinnen und Schüler zu festigen. In der Eingangshalle hängen Porträts
der mittelalterlichen Könige Ungarns, im Stiegenhaus die großen ungarischen
Dichter. Der Unterricht erfolgt auf Ungarisch. Slowakisch wird, wie in
allen ungarischen Schulen des Landes, verpflichtend als Fremdsprache
unterrichtet. Trotzdem beherrschen in den ungarischen Siedlungsgebieten
nicht alle die Staatssprache Slowakisch ausreichend. "Das ist ein Problem,
wenn jemand in Bratislava oder der Nordslowakei Karriere machen will", gibt
Roman Behul, ein Bankfachmann in Bratislava, der sich auch mit Geschichte
befasst, zu bedenken. Es sollte kein Problem sein, solange man sein Umfeld
nicht verlässt. Doch der Staat sorgt dafür, dass seine Bürger auch in
Komárno, wo die Ungarn mit 62 Prozent die Bevölkerungsmehrheit stellen,
ständig daran erinnert werden, in welchem Land sie leben. "Kürzlich war ich
mit meinem Kind im Krankenhaus. Von der Diagnose des Arztes habe ich nur
die Hälfte verstanden. Er konnte nur Slowakisch", klagt Attila Petheö.
Polizisten, Ärzte und anderes vom Staat entsandte Personal werde nicht
genötigt, die Umgangssprache zu erlernen.
Zu Suzuki nach Esztergom
Nach der Beseitigung der Grenzkontrolle durch den Schengen-Beitritt beider
Länder können Gebiete, die historisch zusammengehören, auch wieder
zusammenwachsen. 5.000 Einwohner von Komárno arbeiten schon seit Jahren im
Nokia-Werk der ungarischen Schwesterstadt Komárom. Sie müssen nur die
Donaubrücke überqueren. Tausende andere pendeln zu Suzuki in die alte
Bischofsstadt Esztergom oder zu Aldi und Siemens in Györ. Unter
Bürgermeister Stefan Pásztor wurden schon vor einigen Jahren gemeinsame
Sitzungen der Stadträte eingeführt. Die Grenze seit 1920, die ein Trauma
bei der ungarischen Bevölkerung hinterlassen hat, gibt es nur mehr in den
Köpfen. Was im Mikrokosmos der geteilten Stadt passiert, wird auch auf
bilateraler Ebene versucht, zumindest im Bereich der Wissenschaft. Die
33-jährige Historikerin Anna Fundarková hat als Tochter einer ungarischen
Mutter und eines slowakischen Vaters auch erlebt, dass die Vertreter der
Volksgruppen gut miteinander auskommen können. Gemeinsam mit Kollegen aus
Ungarn und der Slowakei arbeitet sie seit Jahren Material aus den Archiven
auf, um die Lücken zu schließen, die durch die getrennte und daher
einseitige Geschichtsschreibung entstanden sind. Das soll die Völker
einander näher bringen. Denn, so Fundarková: "Es ist traurig, wenn man im
21. Jahrhundert mit der nationalistischen Karte noch Wähler mobilisieren
kann."
19 Jan 2009
## AUTOREN
Ralf Leonhard
Ralf Leonhard
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