# taz.de -- Jürgen Krüger versetzte das DDR-Regime in Angst: Die DDR mal erns… | |
> Jürgen Krüger meldete im Februar 1989 die erste Oppositionsgruppe an. Er | |
> wollte testen, ob die DDR jüngst versprochene Freiheitsrechte erfülle. | |
> Mit einfachsten Mitteln versetzte er das Regime in Angst. | |
Bild: Endlich Freiheit: am Tag nach dem 9. November 1989 | |
Er hat alles aufbewahrt und säuberlich abgeheftet. Die Durchschläge seiner | |
Briefe, getippt auf der Reiseschreibmaschine mit eingespannter Blaupause, | |
die Rückscheine der Einschreiben, die Zeitungsartikel. Jürgen Krüger, ein | |
schwerer Mann mit durch die Jahre gerettetem Vollbart, legt den Ordner auf | |
den Tisch seiner Junggesellenwohnung an der Danziger Straße, vierter Stock | |
mit Blick auf den Volkspark Friedrichshain. Ein Zimmerspringbrunnen und ein | |
kleiner Zen-Garten stehen auf dem Wohnzimmertisch, der Schreibtisch im | |
Nebenzimmer wird von einem riesigen Monitor ausgefüllt. Nach 20 Jahren | |
Jugendarbeit hat Jürgen Krüger seinen Arbeitgeber Kirche verlassen, er | |
betreibt jetzt ein Kiez-Portal im Internet. | |
Krüger jagt seinen orange getigerten Kater aus dem Wohnzimmer und erzählt: | |
wie er, damals 28 Jahre alt und Kreisjugendwart des Kirchenkreises | |
Berlin-Stadt I, im Februar 1989 den ersten Antrag auf Gründung einer | |
Oppositionsgruppe in der DDR abgab - ein halbes Jahr vor dem Neuen Forum. | |
Sie waren nur zu zweit, Krüger und ein Kollege aus dem brandenburgischen | |
Finsterwalde. Als politische Provokation war der Antrag gedacht. Als Test, | |
wie die Behörden des SED-Staates mit den bürgerlichen Freiheiten umgehen | |
würden, von deren Einhaltung im Januar 1989 beim Folgetreffen der Konferenz | |
für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) in Wien so viel die Rede | |
gewesen war. Dort hatte DDR-Außenminister Oskar Fischer das abschließende | |
Dokument unterschrieben. In der Auflistung der gemeinsamen Prinzipien heißt | |
es in Punkt 26: "Das Recht von Personen, die Durchführung der | |
KSZE-Bestimmungen zu beobachten und zu fördern und sich mit anderen zu | |
diesem Zweck zusammenzuschließen", werde von den Mitgliedstaaten geachtet. | |
"Wir geben Weisung, dieses Dokument zu unterzeichnen, werden es aber nicht | |
erfüllen", soll Honecker gesagt haben, berichtete später der sowjetische | |
Botschafter in der DDR. Als besonders gefährlich galten den Machthabern | |
zwei Punkte: die Vereinigungsfreiheit und die Reisefreiheit. Unter Punkt 20 | |
war das Recht eines jeden auf ungehinderte "Ausreise aus jedem Land, | |
darunter seinem eigenen", festgeschrieben. Ein Recht, das im Januar 1989 | |
weit mehr DDR-Bürger interessierte als das, Vereine zur Förderung des | |
KSZE-Gedankens zu gründen. | |
Jürgen Krüger und sein Finsterwalder Kollege aber wollten nicht ausreisen. | |
Sie wollten ihr Land auf die Probe stellen. Wenn die DDR so tat, als sei | |
sie ein Rechtsstaat, was würde passieren, wenn man sie als Rechtsstaat | |
ernst nehme? Sie würden abwarten, wie das System auf diese Provokation | |
reagieren würde. Nach einem Jahr, so hatten die beiden es geplant, würden | |
sie den Briefwechsel mit den staatlichen Stellen in Kirchenkreisen | |
veröffentlichen. Zwei Diakone begannen mit einer naturwissenschaftlich | |
anmutenden politischen Versuchsanordnung. | |
In der DDR durfte man nicht einfach einen Verein gründen, dazu brauchte es | |
eine Erlaubnis. Auf der Reiseschreibmaschine schrieb Jürgen Krüger eine | |
Anmeldung zur Gründung einer "Vereinigung zur Beobachtung und Förderung des | |
KSZE-Gedankens in der DDR". Der sperrige Titel war Absicht, erzählt er, | |
direkt übernommen aus der Helsinki-Schlussakte. Der Brief, datiert vom 30. | |
Januar 1989, ging ans Ministerium des Innern, Leiter der Hauptabteilung | |
Innere Angelegenheiten, Berlin, 1086, DDR. Einschreiben mit Rückschein. | |
Damit die Bürokraten sich nicht herausreden können, die Post sei verloren | |
gegangen. | |
Was nun passierte, erfuhr Jürgen Krüger erst zehn Jahre später, als die | |
Stasi-Unterlagen-Behörde einige Dokumente ins Internet stellte, auf denen | |
sein Name und Lebenslauf zu lesen war. Ungeschwärzt. "Die sagten mir, das | |
sei in Ordnung so, ich sei schließlich eine Person der Zeitgeschichte. Das | |
war mir auch neu", sagt Krüger mit knappem Berliner Humor. So ganz falsch | |
ist das vielleicht auch nicht. | |
Die Dokumente zeigen die Paranoia des DDR-Apparates in seinem letzten Jahr. | |
Im Ministerium für Staatssicherheit wurde am 16. Februar 1989 ein Dossier | |
("Streng geheim!") angelegt. Krüger sei wegen seiner Kontakte gefährlich, | |
ist dort zu lesen. Seit seiner Ausbildung zum Sozialdiakon Anfang der | |
80er-Jahre kannte er die Oppositionspfarrer Rainer Eppelmann und Rudi-Karl | |
Pahnke. Auf seiner ersten Stelle in Fürstenwalde gründete Krüger eine | |
Arbeitsgruppe Frieden und Gerechtigkeit, er lud das mit Auftrittsverbot | |
belegte Künstlerpaar Stephan Krawczyk und Freya Klier zu Konzerten ein. | |
1988 demonstrierte er gegen Zensur in Kirchenzeitungen. | |
Das alles machte die Stasi unruhig - damit lag sie richtig und zugleich | |
falsch. Dass der Antrag ein Testballon war, verstanden sie. Dass er aber | |
von Krüger allein losgelassen worden war, konnten sie nicht glauben. | |
Dahinter mussten noch andere stehen. "Mit hoher Wahrscheinlichkeit" sei er | |
"durch reaktionäre kirchliche Kreise inspiriert" worden. Vorsicht war | |
angezeigt. | |
Am 21. Februar sprach Stasi-Chef Erich Mielke mit Honecker über den Fall | |
Krüger. Für seinen Vize Rudi Mittig notierte Mielke handschriftlich die | |
Anweisungen zurück: "1. Krüger weiter bearbeiten, 2. Schreiben nicht | |
beantworten". Jürgen Krüger bekam von dem verstärkten Interesse der | |
Mielke-Männer nichts mit. Allerdings geschah Merkwürdiges. "Alle Post aus | |
dem Westen kam plötzlich bei mir anstandslos an. Wir hatten bei der SPD und | |
der Bundeszentrale für politische Bildung als Helsinki-Gruppe Material | |
bestellt. Normalerweise ging das nicht durch. Jetzt schon." Als im Sommer | |
Krügers Onkel in Westdeutschland starb, bekam er ebenfalls anstandslos ein | |
Visum für vier Wochen. Bei der Rückkehr durfte er die Stalin-Biografie | |
behalten, die Grenzer in seinem Gepäck gefunden hatten. Den "reaktionären | |
Kirchenkreisen" sollte keine Gelegenheit gegeben werden, offene | |
Repressionen zu notieren. | |
Jürgen Krüger liest die Dokumente und schüttelt den Kopf. "Diese Paranoia | |
erklärt doch den Untergang der DDR. Wir waren zwei Leute mit einer | |
Reiseschreibmaschine, sonst nichts." | |
Bald war er alleine. Sein Finsterwalder Kollege stieg im Sommer 1989 aus | |
dem Experiment aus. Krüger wurde am 1. August ins Innenministerium | |
bestellt. Die Atmosphäre war eisig. "Für eine derartige Vereinigung gibt es | |
bei uns keinen Bedarf", wurde ihm beschieden, schließlich verwirkliche die | |
DDR "schon seit ihrer Gründung aktiv den KSZE-Prozess, sie betreibt eine | |
aktive Friedenspolitik". Wenn die Umgebung nicht so bedrohlich gewesen | |
wäre, hätte er laut gelacht, erzählt Krüger 20 Jahre später. | |
Es folgt der Herbst der Revolution. An seinen Versuchsballon dachte Krüger | |
kaum noch. Am Abend des 7. Oktober, des letzten Republikgeburtstags, lief | |
er vom Gendarmenmarkt nach Hause. Im Palast der Republik feierte die | |
Nomenklatura. Plötzlich war Krüger, ohne es zu wollen, an den Absperrungen | |
vorbei und stand auf der anderen Seite. Ein skurriler Augenblick: "Das war | |
eine ganz neue Perspektive, ich stand buchstäblich auf der Seite der | |
Mächtigen, die sich vor dem Volk verbarrikadierten." | |
Die Mächtigen aber erinnerten sich in der Auflösung ihres Staates an | |
Krügers Antrag. Vielleicht hielten sie es sogar für einen Befreiungsschlag, | |
der kirchlichen Opposition zu geben, was sie augenscheinlich verlangt | |
hatte. Jedenfalls erfuhr Jürgen Krüger Anfang Dezember aus der Zeitung, | |
dass er seinen Verein gründen durfte. Die Provokation war kurz davor, zur | |
Farce zu werden. Doch die Helsinki-Gruppe hatte für kurze Zeit ihre | |
Berechtigung. Sie wuchs über Berlin hinaus. In Sachsen nutzten einstige | |
Bautzen-Häftlinge den Verein, um für ihre Rehabilitierung zu kämpfen. Nach | |
der Vereinigung war auch das erledigt. | |
An der Wohnzimmertür poltert es, der Kater begehrt Einlass. Krüger räumt | |
die Papiere zusammen, lacht kurz auf. Dann wird er ernst: "Das klang jetzt | |
alles ganz witzig", sagt er. "Aber wenn wir nicht den Schutz durch die | |
Kirche gehabt hätten, wäre es nicht so glimpflich abgegangen." Krügers | |
Experiment war eines mit Netz und doppeltem Boden. | |
19 Feb 2009 | |
## AUTOREN | |
Jan Sternberg | |
## TAGS | |
DDR | |
Stasi-Unterlagen | |
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