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# taz.de -- Ortstermin: Das alte St. Pauli verabschiedet sich
> Besuch beim Trauermarsch in Hamburg St. Pauli für die ehemalige
> prostituierte Domenica. Die 63-Jährige war Mitte Februar in einem
> Altonaer Krankenhaus nach einem Lungenleiden gestorben.
Bild: Der Fotograf Günter Zint und die Schriftstellerin Peggy Parnass führten…
"Sie war eine Heilige", sagt eine tätowierte Frau mit tiefschwarz
geschminkten Augen. Ob sie sie gekannt habe, wird sie von einem der
Reporter gefragt. "Nein, aber sie hat ganz viel für uns getan." - "Für
uns?", will der Journalist wissen, "sind Sie etwa im selben Gewerbe wie die
Verstorbene?" Die Verstorbene ist Domenica Niehoff, Deutschlands
bekannteste Vorkämpferin für die Rechte der Prostituierten. "Nein, bin ich
nicht. Ich meine für uns hier auf St. Pauli," antwortet die Frau - zögert
einen Moment und fügt dann hinzu: "Naja, es kommt ganz drauf an, wie viel
sie bieten." Verschämt wenden sich die Reporter ab.
Der Trauermarsch, der zu Ehren Domenica Niehoffs stattfindet, wird der
Verstorbenen in jeder Hinsicht gerecht: er ist laut, ein wenig schrullig,
aber auf jeden Fall authentisch. Vor allem schafft die kleine Karawane
etwas, das sonst kaum einer Demonstration gelingt. Sie zieht die Leute vom
Straßenrand mit. Mit jedem Häuserblock schwillt die Menschenmasse weiter
an. In der Herbertstraße, Haus Nummer 7 b, hält sie inne. "Hier, wo
Domenica so viel Zeit verbracht hat, wollen wir ihrer mit einer
Schweigeminute kurz gedenken", bittet der Fotograf Günter Zint, der den
Umzug organisiert hat. Und dann ist es ruhig in der Herbertstraße - ruhiger
als es später in der Kirche bei der Predigt sein wird.
Eine Prostituierte steckt ihren Kopf aus einem der Fenster in den oberen
Geschossen. Als ein Fotograf sein Objektiv auf die Frau richtet, wird sie
von einem Mann ruckartig ins Zimmerinnere gezogen. Nach einer Weile nickt
Günter Zint und der Zug setzt sich wieder in Bewegung. Zint geht voran. Er
trägt ein Ölgemälde, das die Verstorbene zeigt. Hinter ihm folgt die Band
"Tätärä", die jetzt "All you need is love" von den Beatles spielt.
Eine Frau wischt sich bei den ersten Takten des Liedes eine Träne aus dem
Gesicht. "Es war damals nicht immer leicht für mich", erzählt sie. Mit
ihren Kindern habe sie unten am Fischmarkt gewohnt, Domenica sei ihre
Nachbarin gewesen. "Wenn ich Probleme hatte, konnte mich immer auf sie
verlassen", schluchzt sie. "Meine Kinder haben sie geliebt."
Eine andere Frau erzählt, wie Domenica ihr geholfen hat, ihre erste
Gaststätte auf dem Kiez aufzumachen. "Domenica hat damals alle Kontakte
hergestellt und so", berichtet sie. Und überhaupt kann jeder hier
irgendeine kleine Geschichte über die Verstorbene erzählen. Ihre
langjährige Freundin, die ehemalige Striptease-Tänzerin Helga Geiger
("Dicki Dicksen") trägt einen schwarzen Hut mit Tüll, der ihr Gesicht
verdeckt. "Den hat mir Domenica geschenkt", erklärt sie. "Ich habe ihr
versprochen, ihn zu tragen, sollte sie vor mir gehen."
Als der Trauerzug bei der Kirche am Pinasberg ankommt, schätzt ein Polizist
seine Größe wohlwollend auf 750 Menschen. Zu viel für die St. Pauli Kirche,
die sonst nur an Weihnachten so gut besucht ist. Sie quillt völlig über, so
dass einige der Gäste vor dem Gebäude ausharren müssen. Drinnen drängen
sich die Menschen um den aufgebahrten Sarg: Zuhälter wie Prostituierte,
Gangster wie Polizisten. Es ist das alte St. Pauli, das sich hier
versammelt hat. "In der Schanze haben sie Angst, dass die Schanze zum Kiez
wird", berichtet einer der Trauergäste, "ich sag Ihnen was: der Kiez ist
schon längst zur Schanze geworden."
Gemeint ist, dass sich der Kiez zunehmend kommerzialisiert, vom Rotlicht
zum Touri-Viertel wird. Das Lebensgefühl St. Pauli sei schon lange tot,
erklärt der Mann. Wenn das wahr ist, so ist es heute noch einmal
auferstanden, wenn auch nur für ein paar Stunden. Es ist fast so, als
würden die Trauergäste an diesem Freitag nicht nur von der verstorbenen
Domenica Abschied nehmen.
1 Mar 2009
## AUTOREN
Johann Tischewski
## TAGS
Schwerpunkt Stadtland
Fotografie
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