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# taz.de -- Graphic Novel "Berlin - Bleierne Stadt": Tanz der Marionetten
> In der Graphic Novel "Berlin - Bleierne Stadt" erzählt Jason Lutes über
> das Ende der Roaring Twenties in Berlin in einem Mosaik aus Jazz und
> linker Geschichte.
Bild: Das Buch setzt mit dem Traum eines schwarzen Jazzmusikers im Berliner Blu…
Es war 1996, Jason Lutes hatte seinen Job als Artdirector beim Stadtmagazin
The Stranger aufgegeben, als er in einem Buch eine Passage über das Berlin
der 20er-Jahre las. Über revolutionäre Straßenkämpfe stand da was, in einer
Zeit der Ungewissheiten, der Bankencrashs, der sich anbahnenden politischen
Katastrophe und über das ausschweifende Nachtleben; unter anderem über eine
Jazz-Band. Das war das Initial für Lutes Berlin-Trilogie.
Der erste Band "Berlin. Steinerne Stadt" erfuhr zu Recht eine hymnische
Besprechung. Eine Graphic Novel mit dokumentarischem Hintergrundrauschen.
Stilistisch perfekt, inhaltlich dicht, ein "Musterbeispiel der Gattung", so
die Kritiken, "eine Sinfonie der Großstadt in Comicform". Der Handwerker
Lutes, der mittlerweile am Center for Cartoon Studies in White River
Junction lehrt, wurde in die Nähe von Art Spiegelman gerückt, der für
seinen KZ-Comic "Maus" den Pulitzer-Preis erhielt und das Genre vom
Trash-Image befreite.
Nach Lutes erstem Band vergingen fünf Jahre, in denen immer wieder über das
Erscheinen des neuen Bandes spekuliert wurde. Die Erwartungen konnten höher
kaum sein. "Berlin - Bleierne Stadt" beginnt mit dem Traum eines schwarzen
Jazzmusikers und knüpft damit an Lutes frühere Initialzündung an. Lutes
Geschichte setzt im Folgemonat des deutschen Blutmai von 1929 ein, als bei
einer KPD-Demonstration in den Berliner Stadtteilen Wedding und Neukölln
Arbeiter von der Polizei niedergemacht wurden.
Der Journalist der Weltbühne, Kurt Severing, Kettenraucher, Linker, hoch
politisiert und leicht humorfrei, versuchte die Hintergründe des Gemetzels
zu ergründen. Er befragte Zeugen, er diskutierte mit seinem Chef Carl von
Ossietzky, der den Vorsitz des Ausschusses übernahm, der den gewalttätigen
Polizeieinsatz beleuchten sollte. Der Pazifist Severing ist nun im Comic
als Stellvertreter für das linke bürgerliche Lager dargestellt, mit einem
ausgeprägtem Sensor für das politische Kippen, das vor allem besprochen,
eher zerredet wird.
"Zu den Totengräbern der Weimarer Republik, da hilft kein Vertun, muß auch
die Weltbühne rechnen", schrieb Spiegel-Chef Rudolf Augstein Ende der
1970er-Jahre. Er erkannte in der romantisierenden Anbiederung der Weltbühne
an linke Revoluzzer und der so unterbliebenen Stützung des
sozialdemokratischen Reichskanzlers Hermann Müller das redaktionelle
Versagen.
Lutes Severing "möchte glauben, dass die Demokratie funktioniert. Dass
Freiheit in Frieden mögli" - dann wird die Sequenz mit knarzender Musik
unterbrochen. Marthe Müller - die beiden haben sich im ersten Band verliebt
- beginnt zum Jazz zu tanzen. Servering reißt die Schallplatte vom
Grammofon und ist außer sich: "Tanzen wie Marionetten … kleine hirnlose
Marionetten in sinnloser Raserei".
Im aktuellen Band driften die beiden auseinander und markieren das zentrale
Motiv des Comics. Der Tanz auf dem Vulkan, in dem sich das politische Magma
sammelt. Marthe, die Hedonistin, die sich vom politischen Umbruch nicht
ablenken lässt. Die sich, befreit aus dem piefigen Köln, in Bars und Cafés
rumtreibt, sich als koksende Lesbierin erprobt. Für sie ist Berlin Leben,
für Kurt Severing schnurrt die Freiheit gerade zusammen. "Denkst du", fragt
er Marthe, "dass Berlin dich verändert hat?" - "Ja, ganz ohne Frage. Ich
fühle mich wie ein neuer Mensch und das ist toll!"
Lutes lässt Severin im Comic in Druckbuchstaben denken, Marthe in
Handschrift. Ihr Umfeld sind Musiker, flankiert von der Parallelgeschichte
der Jazz-Band "Cocoa Kids", die auf einem Plakat im Comic dicklippig
überzeichnet als "Jazz aus Amerika!" angekündigt werden, Gastauftritt von
Josephine Baker inbegriffen.
Lutes zeichnet um Marthe und Severing einzelne Geschichten, die ein Mosaik
von Berlin abgeben sollen. Das Tamtam und der Furor der
Nationalsozialisten, die durch die Straßen und in die Köpfe marschieren,
eine Kundgebung des jungen Goebbels. Er arrangiert den Alltag im Comic
reportagehaft: Die Zeitungsjungen mit den Sonderausgaben, da ist das Elend
und die Brutalität der Gosse, da sind die Kundgebungen der Kommunisten,
Schlangen vor Banken, Schlägereien und Schießereien, der Tod Stresemanns,
dazwischen eingestreut die "Funkstunde Berlin auf 400 Kilohertz". Das ganze
verpackt jeweils in Episoden, die um Personen kreisen, die auch im ersten
Band auftauchen.
Lutes hat den Berliner Milieuzeichner Zille studiert und sich stilistisch
von Döblins grellem Expressionismus aus "Berlin Alexanderplatz" inspirieren
lassen. Es ist ein Stakkato der Szenen, ein kontrastreiches Berlin, das er
entwirft.
Auch in der zeichnerischen Form: Seine naturalistische Darstellung kennt
keine Graustufen, nur schwarze und weiße Flächen. Inhaltlich wirkt seine
binäre Codierung anhand der beiden Protagonisten Servering und Marthe
allerdings mitunter leblos idealtypisch, holzschnittartig - und manchmal
etwas platt und über die 214 Seiten schließlich ermüdend.
Lutes ist detailversessen, er dehnt manchmal den Moment im Raum der
einzelnen Panels: ein Klarinetten-Solo geht über drei Seiten - eine der
schönsten Szenen im Buch. Totalen, Nahansichten, zumeist aber rund ein
Dutzend Sequenzen pro Seite.
Im Comic fordert das Weglassen der Bilder den Leser dazu, sie selber
weiterzudenken und das ein oder andere Panel inhaltlich selbst zu
überbrücken. Lutes beherrscht diese Grammatik. In dem jetzigen Band wirkt
das alles allerdings überladen, anders als in "Berlin - Steinerne Stadt",
dem besseren ersten Teil, der die beiden Hauptfiguren präziser begleitet.
Wo sich dort die Episoden zu einer kohärenten Geschichte fügen, bleibt
"Berlin - Bleierne Stadt" eine doch mitunter unruhige Collage, die sich
manchmal in historischen Details verliert und leicht insiderhaft wirkt.
1996 sagte Lutes, er werde eine Trilogie schaffen, die 600 Seiten umfassen
solle. Inhaltlich hält er sich stringent an seine Umsetzungspläne für die
Trilogie. Band eins kreist um die Mai-Ausschreitungen, Band zwei um die
Hintergründe und das Wahljahr 1930, der dritte und letzte Band wird 1933,
Hitlers Machtergreifung, thematisieren.
Lutes vergleicht diese strenge Anordnung mit einer Jazz-Combo. Die
Instrumente stehen fest; wie es sich anhört, bleibt der Improvisation
überlassen. Der jetzige Band klingt allerdings, als würden alle Musiker
gleichzeitig spielen.
Jason Lutes: "Berlin - Bleierne Stadt". Carlsen Verlag, Hamburg 2008, 214
Seiten, 14 Euro
9 Mar 2009
## AUTOREN
Kai Schlieter
Kai Schlieter
## TAGS
Graphic Novel
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