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# taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Den Welthandel gestalten
> Die Ideologen der Globalisierung sind ratlos. Eine globalisierte Krise
> war in ihrem Weltbild nicht vorgesehen. Protektionismus scheint jetzt ein
> Mittel der Wahl. Ein Plädoyer.
Bild: Protektionismus soll verhindern, dass der Welthandel die ganze Welt nach …
Ausmaß und Tiefe der Wirtschaftskrise haben die Debatte über den
Protektionismus neu entfacht. Wie brisant das Thema ist, lässt sich an den
aufgeregten Reaktionen der Protektionismusgegner ablesen, für die der
Freihandel zum Fetisch geworden ist. Da werden Fakten in einer Weise
vorgetragen, die die Wahrheit aus Unwissenheit oder mit voller Absicht
verdreht. Kurzum: Protektionismus ist tabu.
Auf den ersten Blick scheint die aktuelle Krise eine Finanzkrise zu sein,
die verschiedenen Faktoren zugeschrieben wird: der Unvorsichtigkeit der
Banken und Banker, der Gier verantwortungsloser Spekulanten oder - und die
ist der intelligenteste Begründung - dem Fehlen von
Regulierungsmechanismen. Tatsächlich ist folgender Zusammenhang
entscheidend: Die Verschuldung und die Insolvenzen privater Haushalte sind
massiv gestiegen, und zwar infolge der Lohndeflation, also des sinkenden
Anteils der Löhne und Gehälter an dem verteilten Vermögen. Dieser Rückgang
wiederum resultiert aus dem Druck, den der Freihandel ausübt, sei es durch
den massenhaften Import von billigen Waren, sei es durch die Androhung von
Standortverlagerungen.
Der Freihandel begünstigt einen Abschwung in zweifacher Weise: direkt durch
den Druck auf die Gehälter, indirekt dadurch, dass er den Wettbewerb um
niedrige Steuern fördert. In Ländern, in denen die Unternehmen in
unmittelbarer Konkurrenz zu den Importen aus Billiglohnländern stehen,
versuchen die Regierungen, die Gewinne der inländischen Unternehmen auf
gleichbleibendem Niveau zu sichern, um Standortverlagerungen zu verhindern
und damit Arbeitsplätze zu erhalten. Sie tun dies, indem sie die
Sozialabgaben der Unternehmen auf die Beschäftigten abwälzen.
Zum Druck auf die Gehälter kommen noch eine zunehmend ungerechte
Besteuerung und Einschnitte bei den Sozialleistungen. Beides wirkt sich auf
die Einkommen der Haushalte aus, die ihr Konsumniveau nur durch
Verschuldung halten können, und das gerade zu einem Zeitpunkt, da ihre
Einkommensquellen unsicherer werden.
Die eigentliche Verantwortung für die Krise liegt also nicht beim
Bankensektor, dessen tiefgehende Krise nur ein Symptom ist, sondern beim
Prinzip des Freihandels in Kombination mit der entsprechenden
Liberalisierung der Finanzmärkte.
In den USA ist die Lohnquote, also der Anteil der Löhne am nationalen
Einkommen, auf den tiefsten Punkt seit 1929 gesunken: auf 51,6 Prozent im
Jahr 2006 gegenüber noch 54,9 Prozent im Jahr 2000.(1) Im Zeitraum 2000 bis
2007 betrug das durchschnittliche Wachstum des medianen Reallohns nur 0,1
Prozent, während das mediane Haushaltseinkommen jährlich real um 0,3
Prozent sank.(2) Der Rückgang war in den ärmsten Haushalten am stärksten.
Im selben Zeitraum musste jeder Fünfte einen Rückgang seines Einkommens um
0,7 Prozent im Jahr hinnehmen.(3) Seit dem Jahr 2000 steigen die
Stundenlöhne nicht mehr im selben Maße wie die Produktivitätsgewinne.
Der Freihandel bewirkt auch, dass die Regierungen die Finanzierung der
Sozialleistungen von den Unternehmen auf die Beschäftigten verlagern. Von
2000 bis 2007 stiegen die Prämien der Krankenversicherungen in den USA um
68 Prozent, die der Bildungsaufwendungen um 46 Prozent.(4) Gleichzeitig
stieg der Anteil der Bevölkerung ohne Kranken- und
Sozialversicherungsschutz von 13,9 auf 15,6 Prozent.(5) Selbst der
Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman, der lange Zeit behauptet hatte,
"die Globalisierung ist nicht schuld", musste einräumen, dass die durch den
Freihandel importierte Lohndeflation in diesem Prozess eine entscheidende
Rolle spielte.(6) Angesichts dessen ist es nicht verwunderlich, dass die
private Verschuldung der US-Haushalte explodiert ist: 1998 entsprach sie 63
Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) der USA, im Jahr 2007 dagegen 100
Prozent.
Die private Verschuldung nimmt auch in Europa zu. In der Eurozone hängt
dies mit der Politik der Europäischen Zentralbank (EZB) zusammen, die die
importierte Depression weiter verstärkt. Einige Länder folgen dem
amerikanischen Modell, so etwa Spanien, Irland und Großbritannien, mit der
Folge einer relativen und teilweise auch absoluten Verarmung der
Bevölkerung.(7) Die importierte Lohndeflation ließ auch die private
Verschuldung rapide ansteigen. Sie kletterte 2007 - wie in den USA - auf
jeweils über 100 Prozent des Bruttoinlandprodukts.
Selbst in den Ländern, die sich relativ stark vom amerikanischen Modell
abheben, ist eine Lohndeflation eingetreten. So fand bei deutschen
Unternehmen eine massenhafte Produktionsverlagerung hin zu ausländischen
Vertragsfirmen statt. Seit der Osterweiterung der EU gilt häufig nicht mehr
Made in Germany, sondern allenfalls Made by Germany. Gleichzeitig wurde
über die Erhöhung der Mehrwertsteuer ein Teil der Lasten von den
Unternehmen auf die Haushalte abgewälzt. Dadurch kam es zu einem starken
deutschen Handelsüberschuss zulasten der Partner in der Eurozone. Aber auch
um den Preis eines schwächeren eigenen Wachstums als Folge der rückläufigen
Binnennachfrage - obwohl auch in Deutschland die private Verschuldung auf
68 Prozent des BIP angestiegen ist.
In Frankreich lautete die Antwort auf die Globalisierung in den letzten
Jahren: "Strukturreform". Die Verlängerung der Wochenarbeitszeit und die
Einschnitte bei den Sozialleistungen haben jedoch die Auswirkungen der
importierten Lohndeflation noch verstärkt. Die spektakulärste Form dieser
Politik ist die Produktionsverlagerung in Länder mit niedrigeren sozialen
und ökologischen Standards und Lohnkosten. Beschäftigte und Gewerkschaften
sind damit erpressbar, sie verzichten auf Lohnsteigerungen und soziale
Errungenschaften.
Die Unternehmensführungen benutzen die Androhung von Standortverlagerungen,
um bestehende Tarifverträge und soziale Absicherungen aufzuweichen. Das
drückt deutlich auf die Gesundheit der Arbeitnehmer, wie der Anstieg der
durch Arbeitsdruck und Arbeitsstress bedingten Erkrankungen zeigt.(8) Die
Verbindung zwischen der Lohndeflation und dem Loch in den Sozialkassen der
wichtigsten europäischen Länder ist also nicht zu übersehen. Die
Regierungen regierten jedoch genau umgekehrt und nahmen die Finanzlöcher in
den sozialen Sicherungssystemen zum Vorwand, um die Rechte weiter
einzuschränken und die Kosten auf die Beschäftigten abzuwälzen.
Die sogenannten Strukturreformen tragen also direkt oder indirekt zu
Rahmenbedingungen bei, unter denen einer Mehrheit der Haushalte die
Zahlungsunfähigkeit droht. Die aber ist von zentraler Bedeutung für die
Verschuldungskrise in den USA, Großbritannien und Spanien. In anderen
Ländern zeigt sich die Krise eher in der wirtschaftlichen Fragilität von
Familien und dem empfindlichen Kaufkraftverlust.
Selbst in Frankreich, wo die Banken sehr viel vorsichtiger waren, schnellte
die Privatverschuldung, die bis zum Jahr 2000 stabil war, von 34 auf 47,6
Prozent des BIP im Jahr 2007 hoch. Seit rund zehn Jahren kann man in
Frankreich und Deutschland das Phänomen der "armen Arbeitnehmer"
beobachten. Auch dies ist eine unmittelbare Folge dieser Politik.
## Konkurrenz um billige Standorte
Die Lohndeflation resultiert also aus der Maßlosigkeit einer
Welthandelsstrategie, wie sie die Länder Ostasiens seit 1998 bis 2000 über
den von der Welthandelsorganisation (WTO) geförderten Freihandel betrieben.
Diese Strategie war in erster Linie eine Reaktion auf die Finanzkrise von
1997 bis 1999. Damals hatte vor allem China die Sorglosigkeit und
Unfähigkeit des IWF auszubaden: Es musste die schockartigen Auswirkungen
der Asienkrise absorbieren und zulassen, dass seine Nachbarn Handels- und
Finanzüberschüsse zu seinen Lasten erwirtschafteten.
China und seine Nachbarländer kamen zu dem Schluss, dass sie für den Fall
einer neuerlichen Krise dieses Ausmaßes große Währungsreserven
beiseitelegen müssten. Deshalb entwickelten sie eine aggressive
Außenhandelspolitik, indem sie ihre Währung stark abwerteten, eine ihre
Konkurrenzfähigkeit sichernde Deflationspolitik betrieben und den
Binnenkonsum beschränkten. Diese Politik hat die Löhne in den entwickelten
Ländern weiter nach unten gedrückt. Und sie zeigte noch eine andere,
geradezu furchterregende Wirksamkeit: Sie half die immensen
Währungsreserven anzuhäufen, auf denen die Schwellenländer des Fernen Osten
inzwischen sitzen. Das sind allein im Fall von China 1 884 Milliarden
Dollar.(9)
In den letzten dreißig Jahren hat die chinesische Wirtschaft technisch
enorm aufgeholt. Gleichzeitig sind die direkten und indirekten Lohnkosten
konstant geblieben. Der Qualitätszuwachs bei den Exportgütern bedroht
langfristig sämtliche industriellen Arbeitsplätze der Welt. Der Export
Similarity Index, der die Exportstrukturen eines Drittlandes mit denen der
OECD-Mitgliedstaaten vergleicht, zeigt ständig steigende Werte für China,
aber auch für andere Schwellenländer.(10) Der Mythos von der
internationalen Spezialisierung, wonach sich diese Länder auf einfache
Produkte konzentriert und den entwickelten Ländern die Herstellung
komplexer Produkte überlassen haben, entspricht nicht der Realität.
Die importierte Lohndeflation ist mit der Osterweiterung und den Strategien
der Beitrittsländer in der Europäischen Union angekommen. Länder wie die
Tschechische Republik, die Slowakei, Rumänien und in geringerem Maße auch
Ungarn und Polen haben bewusst auf Steuerdumping, günstige Wechselkurse,
niedrige Sozialabgaben gesetzt und reduzierte ökologische Standards
zugelassen, um Investoren für Standortverlagerungen anzulocken. Da es sich
- bis auf Polen - um kleinere Länder handelt, ist klar, dass die Investoren
sich nicht vorwiegend für die Binnenmärkte der Beitrittsländer
interessieren. Vielmehr sehen sie diese Länder vor allem als Plattform für
den Reexport in die alten EU-Mitgliedstaaten.( )Dagegen haben die
Investitionen in Russland vor allem den Binnenmarkt im Auge, zumal dieser
Markt durch stattliche Zollmauern geschützt ist.
Die Vorstellung, dass die Lohndeflation nun einmal der Preis sei, der für
die Entwicklung der ärmeren Länder anfalle, ist schlichtweg falsch. Die
Auswirkungen des durch die WTO vorangetriebenen Freihandels auf die ärmsten
Länder waren deutlich negativ. 2003 wurden für diese Länder noch Gewinne in
der Größenordnung von 800 Milliarden Dollar prophezeit. Seither wird die
Zahl in jedem neuen Bericht kleiner.(11) Die Rechenmodelle der WTO sind,
absichtlich oder nicht, so konzipiert, dass die positiven Effekte der
Handelsliberalisierung möglichst groß herauskommen. Einkommensverluste
durch den Abbau der Handelsbeschränkungen sind darin nicht erfasst. Diese
Einbußen sind aber beträchtlich. Hinzu kommt, dass China von Weltbank und
WTO als "armes" Land eingestuft wird - eine durchaus fragwürdige
Einschätzung. Würde man China aus dieser Rechnung herausnehmen, wäre das
Ergebnis, unabhängig von der Methode, negativ.(12 )
Die Einkommensverluste der Arbeitnehmer in den entwickelten Ländern kommen
nicht den Arbeitnehmern in den Schwellenländern zugute, sondern nur einer
winzigen Elite im eigenen Land, deren Vermögen in den letzten zehn Jahren
explosionsartig angewachsen ist. Im Jahr 2005 hat das reichste Tausendstel
der US-Amerikaner 7,5 Prozent des nationalen Einkommens an sich gebracht.
So hoch war dieser Anteil zuletzt 1929 (7,6 Prozent). Dagegen lag er 1995
noch bei 5 und 1985 sogar nur bei 2,9 Prozent.
Die Länder, die von Standortverlagerungen profitieren, erleben zunächst ein
beschleunigtes Wachstum; langfristig jedoch sägen sie sich selbst den Ast
ab, den sie dank der europäischen und US-amerikanischen Konzerne erklommen
haben: Die relative, teilweise sogar absolute Verarmung der Beschäftigten
in den entwickelten Ländern drückt auf deren Konsumneigung, was wiederum
auch die Exportländer trifft. Im Wirkungszusammenhang von Freihandel,
Standortverlagerung und Lohndeflation gibt es keine Gewinner - abgesehen
von denen, die sich die Taschen vollgestopft und ihre Schäfchen in
Steuerparadiesen ins Trockene gebracht haben.
Es gibt noch einen weiteren Mythos, der gern bemüht wird, um den
Protektionismus zu diskreditieren: Die Maßnahmen, die nach der
Weltwirtschaftskrise von 1929 getroffen wurden, hätten die Situation damals
nur verschlimmert, da sie zum Zusammenbruch des Welthandels geführt
hätten.(13) Die wahren Ursachen waren damals die Währungsfluktuation, der
Anstieg der Transportkosten und die weltweite Verknappung der Liquidität.
Zudem vergessen die Freihandelsbefürworter nur zu gern, dass auch John
Maynard Keynes seine Meinung geändert hat: War er zu Beginn der
1920er-Jahre noch ein entschiedener Verfechter des Freihandels, bekannte er
sich ab 1933 zum Protektionismus.(14) An dieser Haltung hielt er dann bis
zu seinem Tod 1946 fest. Bei allen seinen Vorschlägen zur Reorganisation
des Währungssystems und des Welthandels(15) spielte der Protektionismus
eine wichtige Rolle, während er Autarkiebestrebungen ablehnte.
Um Außenhandelsbeziehungen überhaupt zu gestalten, sind protektionistische
Maßnahmen unumgänglich. Das ist nicht zu verwechseln mit Autarkie, die ja
eine vollständige Abschottung nach außen bedeuten würde. Protektionismus
ist sogar conditio sine qua non jedweder Lohnsteigerungspolitik, die die
Kaufkraft der Privathaushalte erhöhen und die Nachfrage ankurbeln soll.
Höhere Löhne sind aber ohne Eingriffe in den Handel nicht zu erreichen. Wer
das behauptet, ist entweder ein Heuchler oder ein Ignorant. Außerdem gilt,
dass nur ein gewisser Protektionismus die Spirale des Steuer- und
Sozialdumpings in Europa stoppen kann.
Man mag einwenden, dass die Einführung protektionistischer Maßnahmen das
Verhalten der Unternehmen nicht automatisch verändern wird. Die Arbeitgeber
werden natürlich trotz des besseren Schutzes vor der Konkurrenz von außen
auf ihren Vorteil bedacht sein, doch ihr Hauptargument wird dann nicht mehr
ziehen. Es stimmt, dass der Druck der Niedrigpreisproduktion in den meisten
anderen entwickelten Ländern den Unternehmen heute nur die Wahl lässt
zwischen Senkung des Lohnanteils (direkt oder indirekt durch Abwälzung der
Sozialausgaben auf die Beschäftigten) oder Standortverlagerung, die mehr
Arbeitslose bedeutet. Nimmt man den Arbeitgebern diese Argumentationsfigur
weg, gibt man den Beschäftigten die Möglichkeit zurück, eine gerechtere
Verteilung des erzeugten Reichtums einzufordern.
## Kein Allheilmittel für die Wirtschaft
Der Protektionismus ist kein Allheilmittel - die gibt es in der Wirtschaft
nie und nirgends -, sondern eine notwendige Bedingung. Dabei muss das Ziel
deutlich formuliert sein. Protektionistische Maßnahmen sollen nicht darauf
zielen, die Profite weiter zu erhöhen, sondern die sozialen und
ökologischen Errungenschaften zu sichern und auszubauen.
Es kann auch keinesfalls darum gehen, alle Billiglohnländer abzustrafen,
sondern nur Länder, deren Produktivität sich dem Niveau entwickelter
Volkswirtschaften annähert, ohne dass sie eine diesem Niveau entsprechende
Sozial- und Umweltpolitik betreiben. Mit einem Satz: Protektionismus soll
verhindern, dass der Welthandel die ganze Welt nach unten zieht.
Die Europäische Union ist für eine solche wirtschaftspolitische Kehrtwende
nicht der geeignete Rahmen. Die EU müsste umsteuern und neue Schutzzölle
einführen, doch der europäische Wirtschaftsraum ist heute so heterogen,
dass er einen idealen Nährboden für Steuer-, Sozial- und Umweltdumping
bietet. Deshalb sollte die EU - über einen gemeinsamen Außenhandelszoll
hinaus - über eine Rückkehr zu den europäischen
Währungsausgleichsbeträgen(16) nachdenken. Mit diesen - zeitlich
befristeten - Steuern könnten Wechselkursdifferenzen, aber auch
Diskrepanzen bei sozialen und ökologischen Normen zwischen den Ländern
Eurozone und den anderen EU-Mitgliedstaaten ausgeglichen werden.
Die anfallenden Zolleinnahmen sollten in einen Europäischen Sozialfonds
fließen, aber auch gezielte Hilfsmaßnahmen für die Länder außerhalb dieser
Zollunion finanzieren. Mit diesen wären mittelfristige Abkommen zu
schließen, in denen sie sich zu höheren sozialen und ökologischen Standards
verpflichten. Die Erlöse aus den Währungsausgleichsbeträgen sollten in
einen EU-Fonds zur Stärkung der sozialen und ökologischen Zusammenarbeit
fließen und Mitgliedstaaten dabei helfen, sich auf beiden Gebieten dem
EU-Niveau anzunähern.
In der Frage des Protektionismus geht es um eine schlichte Alternative:
Entweder die anderen zwingen uns ihre Sozial- und Umweltpolitik auf, oder
wir zwingen sie, unsere Standards zu übernehmen. Demgegenüber bedeutet der
Freihandel nichts anderes als das Ende der Wahlfreiheit zwischen den
Sozial- und Wirtschaftssystemen.
Das zeigt auch das wiederholte Scheitern aller Versuche, ein "soziales
Europa" aufzubauen - die große Illusion der Sozialisten und der Grünen -
oder auch nur eine Steuerharmonisierung zu erreichen. Ohne Maßnahmen zur
Sanktionierung des Sozial-, Steuer- und Umweltdumpings wird in diesen
Bereichen ein allgemeiner Unterbietungswettbewerb Platz greifen.
Die Kombination von Freihandel und rigider Euro-Währungspolitik macht aus
der Sicht der Unternehmen heimliche Migration zur Notwendigkeit, denn
illegale Einwanderer entziehen sich den Regelungen des Sozialrechts. Weil
der Druck durch die importierte Konkurrenz zu einer Aushöhlung der sozialen
Rechte führt, werden sie damit faktisch zu Lohndrückern.
Die Regierungen mögen sich noch so zieren: An einer Rückkehr zum
Protektionismus kommen sie nicht vorbei. Er ist kein negativer Faktor,
sondern bietet im Gegenteil die Chance, den Binnenmarkt auf einer stabilen
Grundlage wieder aufzubauen und die Zahlungsfähigkeit von Privathaushalten
und Unternehmen zu stärken. Deshalb kann eine offene Diskussion über
Protektionismus entscheidend zum Ausweg aus der aktuellen Krise beitragen.
Eine solche Diskussion sollte - jenseits von Fetischen und Tabus -
möglichst bald in Gang kommen.
Fußnoten:
(1) US Department of Commerce. Vgl. Aviva Aaron-Dine und Isaac Shapiro,
"Share of National Income Going to Wages and Salaries at Record Low in
2006", Center on Budget and Policies Priorities, Washington D. C., 29. März
2007.
(2) Der mediane Wert (nicht zu verwechseln mit dem Mittelwert) teilt die
Lohn- bzw. Einkommensbezieher in zwei gleich große Hälften. Zahlen nach
Joint Economic Comittee (JEC) von US-Senat und Repräsentantenhaus,
Washington, 26. August 2008; siehe: [1][www.jec.senate.gov].
(3) Bureau of the Census, US-Handelsministerium.
(4) Joint Economic Committee, Juni 2008.
(5) Joint Economic Committee, 26. August 2008.
(6) Paul Krugman, "Trade and Inequality, revisited", VOX, 15. Juni 2007;
[2][voxeu.org].
(7) Mike Brewer, Alissa Goodman, Jonathan Shaw und Luke Sibieta, "Poverty
and Inequality in Britain 2006", London (Institute for Fiscal Studies)
2005.
(8) Inzwischen erreichen die medizinischen Kosten dieser Erkrankungen bis
zu 3 Prozent des BIP. Siehe etwa: Wolfgang Bödeker, Heiko Friedel Christof
Röttger und Alfons Schröer, "Kosten arbeitsbedingter Erkrankungen in
Deutschland", [3][www.teamge sundheit.de/fileadmin/downloads/kurzfassung_
Kosten.PDF].
(9) Laut Angaben des IWF vom 31. August 2008 hat Japan Währungsreserven im
Wert von 1200 Milliarden Dollar und die Länder der Eurozone 555 Milliarden
Dollar.
(10) Der Export Similarity Index im Vergleich mit der OECD ist für China
von 0,05 im Jahr 1972 auf 0,21 im Jahr 2005 gestiegen; für Korea von 0,011
auf 0,33; für Mexiko von 0,18 auf 0,33; für Brasilien von 0,15 auf 0,20.
Vgl. Peter K. Schott, "The relative sophistication of Chinese exports",
"Economic Policy, Januar 2008, S. 7-40.
(11) Frank Ackerman, "The Shrinking Gains from Trade: A Critical Assessment
of DOHA Round Projections", Global Development and Environment Institute,
Working Paper Nr. 05-01, Tufts University, Medford, Massachusetts, Oktober
2005.
(12) "Libre-échange, croissance et développement. Quelques mythes de
l'économie vulgaire" in "Revue du Mauss, Nr. 30, 2/2007, Paris (La
Découverte).
(13) So etwa: Charles P. Kindleberger, "Commercial Policiy Between the
Wars", in: Peter Mathias und Sidney Pollard, "The Cambridge Economic
History of Europe", Bd. 8, (Cambridge University Press) 1989; und Harold
James, "The End of Globalization: Lessons from the Great Depression",
Cambridge, Massachusetts (Harvard University Press) 2001.
(14) John Maynard Keynes, "National Self-Sufficiency", "Yale Review, 1933.
(15) Siehe dazu: Susan George, "Zurück zu Keynes in die Zukunft", "Le Monde
diplomatique, Januar 2007.
(16) In den 1960er-Jahren wurden Abgaben oder Subventionen auf europäischer
Ebene eingeführt, um ein einheitliches Preisniveau zu erreichen.
Aus dem Französischen von Veronika Kabis
Le Monde diplomatique Nr. 8834 vom 13.3.2009, Seite 8-9, 565 Dokumentation,
Jacques Sapir
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12 Mar 2009
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