# taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Den Welthandel gestalten | |
> Die Ideologen der Globalisierung sind ratlos. Eine globalisierte Krise | |
> war in ihrem Weltbild nicht vorgesehen. Protektionismus scheint jetzt ein | |
> Mittel der Wahl. Ein Plädoyer. | |
Bild: Protektionismus soll verhindern, dass der Welthandel die ganze Welt nach … | |
Ausmaß und Tiefe der Wirtschaftskrise haben die Debatte über den | |
Protektionismus neu entfacht. Wie brisant das Thema ist, lässt sich an den | |
aufgeregten Reaktionen der Protektionismusgegner ablesen, für die der | |
Freihandel zum Fetisch geworden ist. Da werden Fakten in einer Weise | |
vorgetragen, die die Wahrheit aus Unwissenheit oder mit voller Absicht | |
verdreht. Kurzum: Protektionismus ist tabu. | |
Auf den ersten Blick scheint die aktuelle Krise eine Finanzkrise zu sein, | |
die verschiedenen Faktoren zugeschrieben wird: der Unvorsichtigkeit der | |
Banken und Banker, der Gier verantwortungsloser Spekulanten oder - und die | |
ist der intelligenteste Begründung - dem Fehlen von | |
Regulierungsmechanismen. Tatsächlich ist folgender Zusammenhang | |
entscheidend: Die Verschuldung und die Insolvenzen privater Haushalte sind | |
massiv gestiegen, und zwar infolge der Lohndeflation, also des sinkenden | |
Anteils der Löhne und Gehälter an dem verteilten Vermögen. Dieser Rückgang | |
wiederum resultiert aus dem Druck, den der Freihandel ausübt, sei es durch | |
den massenhaften Import von billigen Waren, sei es durch die Androhung von | |
Standortverlagerungen. | |
Der Freihandel begünstigt einen Abschwung in zweifacher Weise: direkt durch | |
den Druck auf die Gehälter, indirekt dadurch, dass er den Wettbewerb um | |
niedrige Steuern fördert. In Ländern, in denen die Unternehmen in | |
unmittelbarer Konkurrenz zu den Importen aus Billiglohnländern stehen, | |
versuchen die Regierungen, die Gewinne der inländischen Unternehmen auf | |
gleichbleibendem Niveau zu sichern, um Standortverlagerungen zu verhindern | |
und damit Arbeitsplätze zu erhalten. Sie tun dies, indem sie die | |
Sozialabgaben der Unternehmen auf die Beschäftigten abwälzen. | |
Zum Druck auf die Gehälter kommen noch eine zunehmend ungerechte | |
Besteuerung und Einschnitte bei den Sozialleistungen. Beides wirkt sich auf | |
die Einkommen der Haushalte aus, die ihr Konsumniveau nur durch | |
Verschuldung halten können, und das gerade zu einem Zeitpunkt, da ihre | |
Einkommensquellen unsicherer werden. | |
Die eigentliche Verantwortung für die Krise liegt also nicht beim | |
Bankensektor, dessen tiefgehende Krise nur ein Symptom ist, sondern beim | |
Prinzip des Freihandels in Kombination mit der entsprechenden | |
Liberalisierung der Finanzmärkte. | |
In den USA ist die Lohnquote, also der Anteil der Löhne am nationalen | |
Einkommen, auf den tiefsten Punkt seit 1929 gesunken: auf 51,6 Prozent im | |
Jahr 2006 gegenüber noch 54,9 Prozent im Jahr 2000.(1) Im Zeitraum 2000 bis | |
2007 betrug das durchschnittliche Wachstum des medianen Reallohns nur 0,1 | |
Prozent, während das mediane Haushaltseinkommen jährlich real um 0,3 | |
Prozent sank.(2) Der Rückgang war in den ärmsten Haushalten am stärksten. | |
Im selben Zeitraum musste jeder Fünfte einen Rückgang seines Einkommens um | |
0,7 Prozent im Jahr hinnehmen.(3) Seit dem Jahr 2000 steigen die | |
Stundenlöhne nicht mehr im selben Maße wie die Produktivitätsgewinne. | |
Der Freihandel bewirkt auch, dass die Regierungen die Finanzierung der | |
Sozialleistungen von den Unternehmen auf die Beschäftigten verlagern. Von | |
2000 bis 2007 stiegen die Prämien der Krankenversicherungen in den USA um | |
68 Prozent, die der Bildungsaufwendungen um 46 Prozent.(4) Gleichzeitig | |
stieg der Anteil der Bevölkerung ohne Kranken- und | |
Sozialversicherungsschutz von 13,9 auf 15,6 Prozent.(5) Selbst der | |
Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman, der lange Zeit behauptet hatte, | |
"die Globalisierung ist nicht schuld", musste einräumen, dass die durch den | |
Freihandel importierte Lohndeflation in diesem Prozess eine entscheidende | |
Rolle spielte.(6) Angesichts dessen ist es nicht verwunderlich, dass die | |
private Verschuldung der US-Haushalte explodiert ist: 1998 entsprach sie 63 | |
Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) der USA, im Jahr 2007 dagegen 100 | |
Prozent. | |
Die private Verschuldung nimmt auch in Europa zu. In der Eurozone hängt | |
dies mit der Politik der Europäischen Zentralbank (EZB) zusammen, die die | |
importierte Depression weiter verstärkt. Einige Länder folgen dem | |
amerikanischen Modell, so etwa Spanien, Irland und Großbritannien, mit der | |
Folge einer relativen und teilweise auch absoluten Verarmung der | |
Bevölkerung.(7) Die importierte Lohndeflation ließ auch die private | |
Verschuldung rapide ansteigen. Sie kletterte 2007 - wie in den USA - auf | |
jeweils über 100 Prozent des Bruttoinlandprodukts. | |
Selbst in den Ländern, die sich relativ stark vom amerikanischen Modell | |
abheben, ist eine Lohndeflation eingetreten. So fand bei deutschen | |
Unternehmen eine massenhafte Produktionsverlagerung hin zu ausländischen | |
Vertragsfirmen statt. Seit der Osterweiterung der EU gilt häufig nicht mehr | |
Made in Germany, sondern allenfalls Made by Germany. Gleichzeitig wurde | |
über die Erhöhung der Mehrwertsteuer ein Teil der Lasten von den | |
Unternehmen auf die Haushalte abgewälzt. Dadurch kam es zu einem starken | |
deutschen Handelsüberschuss zulasten der Partner in der Eurozone. Aber auch | |
um den Preis eines schwächeren eigenen Wachstums als Folge der rückläufigen | |
Binnennachfrage - obwohl auch in Deutschland die private Verschuldung auf | |
68 Prozent des BIP angestiegen ist. | |
In Frankreich lautete die Antwort auf die Globalisierung in den letzten | |
Jahren: "Strukturreform". Die Verlängerung der Wochenarbeitszeit und die | |
Einschnitte bei den Sozialleistungen haben jedoch die Auswirkungen der | |
importierten Lohndeflation noch verstärkt. Die spektakulärste Form dieser | |
Politik ist die Produktionsverlagerung in Länder mit niedrigeren sozialen | |
und ökologischen Standards und Lohnkosten. Beschäftigte und Gewerkschaften | |
sind damit erpressbar, sie verzichten auf Lohnsteigerungen und soziale | |
Errungenschaften. | |
Die Unternehmensführungen benutzen die Androhung von Standortverlagerungen, | |
um bestehende Tarifverträge und soziale Absicherungen aufzuweichen. Das | |
drückt deutlich auf die Gesundheit der Arbeitnehmer, wie der Anstieg der | |
durch Arbeitsdruck und Arbeitsstress bedingten Erkrankungen zeigt.(8) Die | |
Verbindung zwischen der Lohndeflation und dem Loch in den Sozialkassen der | |
wichtigsten europäischen Länder ist also nicht zu übersehen. Die | |
Regierungen regierten jedoch genau umgekehrt und nahmen die Finanzlöcher in | |
den sozialen Sicherungssystemen zum Vorwand, um die Rechte weiter | |
einzuschränken und die Kosten auf die Beschäftigten abzuwälzen. | |
Die sogenannten Strukturreformen tragen also direkt oder indirekt zu | |
Rahmenbedingungen bei, unter denen einer Mehrheit der Haushalte die | |
Zahlungsunfähigkeit droht. Die aber ist von zentraler Bedeutung für die | |
Verschuldungskrise in den USA, Großbritannien und Spanien. In anderen | |
Ländern zeigt sich die Krise eher in der wirtschaftlichen Fragilität von | |
Familien und dem empfindlichen Kaufkraftverlust. | |
Selbst in Frankreich, wo die Banken sehr viel vorsichtiger waren, schnellte | |
die Privatverschuldung, die bis zum Jahr 2000 stabil war, von 34 auf 47,6 | |
Prozent des BIP im Jahr 2007 hoch. Seit rund zehn Jahren kann man in | |
Frankreich und Deutschland das Phänomen der "armen Arbeitnehmer" | |
beobachten. Auch dies ist eine unmittelbare Folge dieser Politik. | |
## Konkurrenz um billige Standorte | |
Die Lohndeflation resultiert also aus der Maßlosigkeit einer | |
Welthandelsstrategie, wie sie die Länder Ostasiens seit 1998 bis 2000 über | |
den von der Welthandelsorganisation (WTO) geförderten Freihandel betrieben. | |
Diese Strategie war in erster Linie eine Reaktion auf die Finanzkrise von | |
1997 bis 1999. Damals hatte vor allem China die Sorglosigkeit und | |
Unfähigkeit des IWF auszubaden: Es musste die schockartigen Auswirkungen | |
der Asienkrise absorbieren und zulassen, dass seine Nachbarn Handels- und | |
Finanzüberschüsse zu seinen Lasten erwirtschafteten. | |
China und seine Nachbarländer kamen zu dem Schluss, dass sie für den Fall | |
einer neuerlichen Krise dieses Ausmaßes große Währungsreserven | |
beiseitelegen müssten. Deshalb entwickelten sie eine aggressive | |
Außenhandelspolitik, indem sie ihre Währung stark abwerteten, eine ihre | |
Konkurrenzfähigkeit sichernde Deflationspolitik betrieben und den | |
Binnenkonsum beschränkten. Diese Politik hat die Löhne in den entwickelten | |
Ländern weiter nach unten gedrückt. Und sie zeigte noch eine andere, | |
geradezu furchterregende Wirksamkeit: Sie half die immensen | |
Währungsreserven anzuhäufen, auf denen die Schwellenländer des Fernen Osten | |
inzwischen sitzen. Das sind allein im Fall von China 1 884 Milliarden | |
Dollar.(9) | |
In den letzten dreißig Jahren hat die chinesische Wirtschaft technisch | |
enorm aufgeholt. Gleichzeitig sind die direkten und indirekten Lohnkosten | |
konstant geblieben. Der Qualitätszuwachs bei den Exportgütern bedroht | |
langfristig sämtliche industriellen Arbeitsplätze der Welt. Der Export | |
Similarity Index, der die Exportstrukturen eines Drittlandes mit denen der | |
OECD-Mitgliedstaaten vergleicht, zeigt ständig steigende Werte für China, | |
aber auch für andere Schwellenländer.(10) Der Mythos von der | |
internationalen Spezialisierung, wonach sich diese Länder auf einfache | |
Produkte konzentriert und den entwickelten Ländern die Herstellung | |
komplexer Produkte überlassen haben, entspricht nicht der Realität. | |
Die importierte Lohndeflation ist mit der Osterweiterung und den Strategien | |
der Beitrittsländer in der Europäischen Union angekommen. Länder wie die | |
Tschechische Republik, die Slowakei, Rumänien und in geringerem Maße auch | |
Ungarn und Polen haben bewusst auf Steuerdumping, günstige Wechselkurse, | |
niedrige Sozialabgaben gesetzt und reduzierte ökologische Standards | |
zugelassen, um Investoren für Standortverlagerungen anzulocken. Da es sich | |
- bis auf Polen - um kleinere Länder handelt, ist klar, dass die Investoren | |
sich nicht vorwiegend für die Binnenmärkte der Beitrittsländer | |
interessieren. Vielmehr sehen sie diese Länder vor allem als Plattform für | |
den Reexport in die alten EU-Mitgliedstaaten.( )Dagegen haben die | |
Investitionen in Russland vor allem den Binnenmarkt im Auge, zumal dieser | |
Markt durch stattliche Zollmauern geschützt ist. | |
Die Vorstellung, dass die Lohndeflation nun einmal der Preis sei, der für | |
die Entwicklung der ärmeren Länder anfalle, ist schlichtweg falsch. Die | |
Auswirkungen des durch die WTO vorangetriebenen Freihandels auf die ärmsten | |
Länder waren deutlich negativ. 2003 wurden für diese Länder noch Gewinne in | |
der Größenordnung von 800 Milliarden Dollar prophezeit. Seither wird die | |
Zahl in jedem neuen Bericht kleiner.(11) Die Rechenmodelle der WTO sind, | |
absichtlich oder nicht, so konzipiert, dass die positiven Effekte der | |
Handelsliberalisierung möglichst groß herauskommen. Einkommensverluste | |
durch den Abbau der Handelsbeschränkungen sind darin nicht erfasst. Diese | |
Einbußen sind aber beträchtlich. Hinzu kommt, dass China von Weltbank und | |
WTO als "armes" Land eingestuft wird - eine durchaus fragwürdige | |
Einschätzung. Würde man China aus dieser Rechnung herausnehmen, wäre das | |
Ergebnis, unabhängig von der Methode, negativ.(12 ) | |
Die Einkommensverluste der Arbeitnehmer in den entwickelten Ländern kommen | |
nicht den Arbeitnehmern in den Schwellenländern zugute, sondern nur einer | |
winzigen Elite im eigenen Land, deren Vermögen in den letzten zehn Jahren | |
explosionsartig angewachsen ist. Im Jahr 2005 hat das reichste Tausendstel | |
der US-Amerikaner 7,5 Prozent des nationalen Einkommens an sich gebracht. | |
So hoch war dieser Anteil zuletzt 1929 (7,6 Prozent). Dagegen lag er 1995 | |
noch bei 5 und 1985 sogar nur bei 2,9 Prozent. | |
Die Länder, die von Standortverlagerungen profitieren, erleben zunächst ein | |
beschleunigtes Wachstum; langfristig jedoch sägen sie sich selbst den Ast | |
ab, den sie dank der europäischen und US-amerikanischen Konzerne erklommen | |
haben: Die relative, teilweise sogar absolute Verarmung der Beschäftigten | |
in den entwickelten Ländern drückt auf deren Konsumneigung, was wiederum | |
auch die Exportländer trifft. Im Wirkungszusammenhang von Freihandel, | |
Standortverlagerung und Lohndeflation gibt es keine Gewinner - abgesehen | |
von denen, die sich die Taschen vollgestopft und ihre Schäfchen in | |
Steuerparadiesen ins Trockene gebracht haben. | |
Es gibt noch einen weiteren Mythos, der gern bemüht wird, um den | |
Protektionismus zu diskreditieren: Die Maßnahmen, die nach der | |
Weltwirtschaftskrise von 1929 getroffen wurden, hätten die Situation damals | |
nur verschlimmert, da sie zum Zusammenbruch des Welthandels geführt | |
hätten.(13) Die wahren Ursachen waren damals die Währungsfluktuation, der | |
Anstieg der Transportkosten und die weltweite Verknappung der Liquidität. | |
Zudem vergessen die Freihandelsbefürworter nur zu gern, dass auch John | |
Maynard Keynes seine Meinung geändert hat: War er zu Beginn der | |
1920er-Jahre noch ein entschiedener Verfechter des Freihandels, bekannte er | |
sich ab 1933 zum Protektionismus.(14) An dieser Haltung hielt er dann bis | |
zu seinem Tod 1946 fest. Bei allen seinen Vorschlägen zur Reorganisation | |
des Währungssystems und des Welthandels(15) spielte der Protektionismus | |
eine wichtige Rolle, während er Autarkiebestrebungen ablehnte. | |
Um Außenhandelsbeziehungen überhaupt zu gestalten, sind protektionistische | |
Maßnahmen unumgänglich. Das ist nicht zu verwechseln mit Autarkie, die ja | |
eine vollständige Abschottung nach außen bedeuten würde. Protektionismus | |
ist sogar conditio sine qua non jedweder Lohnsteigerungspolitik, die die | |
Kaufkraft der Privathaushalte erhöhen und die Nachfrage ankurbeln soll. | |
Höhere Löhne sind aber ohne Eingriffe in den Handel nicht zu erreichen. Wer | |
das behauptet, ist entweder ein Heuchler oder ein Ignorant. Außerdem gilt, | |
dass nur ein gewisser Protektionismus die Spirale des Steuer- und | |
Sozialdumpings in Europa stoppen kann. | |
Man mag einwenden, dass die Einführung protektionistischer Maßnahmen das | |
Verhalten der Unternehmen nicht automatisch verändern wird. Die Arbeitgeber | |
werden natürlich trotz des besseren Schutzes vor der Konkurrenz von außen | |
auf ihren Vorteil bedacht sein, doch ihr Hauptargument wird dann nicht mehr | |
ziehen. Es stimmt, dass der Druck der Niedrigpreisproduktion in den meisten | |
anderen entwickelten Ländern den Unternehmen heute nur die Wahl lässt | |
zwischen Senkung des Lohnanteils (direkt oder indirekt durch Abwälzung der | |
Sozialausgaben auf die Beschäftigten) oder Standortverlagerung, die mehr | |
Arbeitslose bedeutet. Nimmt man den Arbeitgebern diese Argumentationsfigur | |
weg, gibt man den Beschäftigten die Möglichkeit zurück, eine gerechtere | |
Verteilung des erzeugten Reichtums einzufordern. | |
## Kein Allheilmittel für die Wirtschaft | |
Der Protektionismus ist kein Allheilmittel - die gibt es in der Wirtschaft | |
nie und nirgends -, sondern eine notwendige Bedingung. Dabei muss das Ziel | |
deutlich formuliert sein. Protektionistische Maßnahmen sollen nicht darauf | |
zielen, die Profite weiter zu erhöhen, sondern die sozialen und | |
ökologischen Errungenschaften zu sichern und auszubauen. | |
Es kann auch keinesfalls darum gehen, alle Billiglohnländer abzustrafen, | |
sondern nur Länder, deren Produktivität sich dem Niveau entwickelter | |
Volkswirtschaften annähert, ohne dass sie eine diesem Niveau entsprechende | |
Sozial- und Umweltpolitik betreiben. Mit einem Satz: Protektionismus soll | |
verhindern, dass der Welthandel die ganze Welt nach unten zieht. | |
Die Europäische Union ist für eine solche wirtschaftspolitische Kehrtwende | |
nicht der geeignete Rahmen. Die EU müsste umsteuern und neue Schutzzölle | |
einführen, doch der europäische Wirtschaftsraum ist heute so heterogen, | |
dass er einen idealen Nährboden für Steuer-, Sozial- und Umweltdumping | |
bietet. Deshalb sollte die EU - über einen gemeinsamen Außenhandelszoll | |
hinaus - über eine Rückkehr zu den europäischen | |
Währungsausgleichsbeträgen(16) nachdenken. Mit diesen - zeitlich | |
befristeten - Steuern könnten Wechselkursdifferenzen, aber auch | |
Diskrepanzen bei sozialen und ökologischen Normen zwischen den Ländern | |
Eurozone und den anderen EU-Mitgliedstaaten ausgeglichen werden. | |
Die anfallenden Zolleinnahmen sollten in einen Europäischen Sozialfonds | |
fließen, aber auch gezielte Hilfsmaßnahmen für die Länder außerhalb dieser | |
Zollunion finanzieren. Mit diesen wären mittelfristige Abkommen zu | |
schließen, in denen sie sich zu höheren sozialen und ökologischen Standards | |
verpflichten. Die Erlöse aus den Währungsausgleichsbeträgen sollten in | |
einen EU-Fonds zur Stärkung der sozialen und ökologischen Zusammenarbeit | |
fließen und Mitgliedstaaten dabei helfen, sich auf beiden Gebieten dem | |
EU-Niveau anzunähern. | |
In der Frage des Protektionismus geht es um eine schlichte Alternative: | |
Entweder die anderen zwingen uns ihre Sozial- und Umweltpolitik auf, oder | |
wir zwingen sie, unsere Standards zu übernehmen. Demgegenüber bedeutet der | |
Freihandel nichts anderes als das Ende der Wahlfreiheit zwischen den | |
Sozial- und Wirtschaftssystemen. | |
Das zeigt auch das wiederholte Scheitern aller Versuche, ein "soziales | |
Europa" aufzubauen - die große Illusion der Sozialisten und der Grünen - | |
oder auch nur eine Steuerharmonisierung zu erreichen. Ohne Maßnahmen zur | |
Sanktionierung des Sozial-, Steuer- und Umweltdumpings wird in diesen | |
Bereichen ein allgemeiner Unterbietungswettbewerb Platz greifen. | |
Die Kombination von Freihandel und rigider Euro-Währungspolitik macht aus | |
der Sicht der Unternehmen heimliche Migration zur Notwendigkeit, denn | |
illegale Einwanderer entziehen sich den Regelungen des Sozialrechts. Weil | |
der Druck durch die importierte Konkurrenz zu einer Aushöhlung der sozialen | |
Rechte führt, werden sie damit faktisch zu Lohndrückern. | |
Die Regierungen mögen sich noch so zieren: An einer Rückkehr zum | |
Protektionismus kommen sie nicht vorbei. Er ist kein negativer Faktor, | |
sondern bietet im Gegenteil die Chance, den Binnenmarkt auf einer stabilen | |
Grundlage wieder aufzubauen und die Zahlungsfähigkeit von Privathaushalten | |
und Unternehmen zu stärken. Deshalb kann eine offene Diskussion über | |
Protektionismus entscheidend zum Ausweg aus der aktuellen Krise beitragen. | |
Eine solche Diskussion sollte - jenseits von Fetischen und Tabus - | |
möglichst bald in Gang kommen. | |
Fußnoten: | |
(1) US Department of Commerce. Vgl. Aviva Aaron-Dine und Isaac Shapiro, | |
"Share of National Income Going to Wages and Salaries at Record Low in | |
2006", Center on Budget and Policies Priorities, Washington D. C., 29. März | |
2007. | |
(2) Der mediane Wert (nicht zu verwechseln mit dem Mittelwert) teilt die | |
Lohn- bzw. Einkommensbezieher in zwei gleich große Hälften. Zahlen nach | |
Joint Economic Comittee (JEC) von US-Senat und Repräsentantenhaus, | |
Washington, 26. August 2008; siehe: [1][www.jec.senate.gov]. | |
(3) Bureau of the Census, US-Handelsministerium. | |
(4) Joint Economic Committee, Juni 2008. | |
(5) Joint Economic Committee, 26. August 2008. | |
(6) Paul Krugman, "Trade and Inequality, revisited", VOX, 15. Juni 2007; | |
[2][voxeu.org]. | |
(7) Mike Brewer, Alissa Goodman, Jonathan Shaw und Luke Sibieta, "Poverty | |
and Inequality in Britain 2006", London (Institute for Fiscal Studies) | |
2005. | |
(8) Inzwischen erreichen die medizinischen Kosten dieser Erkrankungen bis | |
zu 3 Prozent des BIP. Siehe etwa: Wolfgang Bödeker, Heiko Friedel Christof | |
Röttger und Alfons Schröer, "Kosten arbeitsbedingter Erkrankungen in | |
Deutschland", [3][www.teamge sundheit.de/fileadmin/downloads/kurzfassung_ | |
Kosten.PDF]. | |
(9) Laut Angaben des IWF vom 31. August 2008 hat Japan Währungsreserven im | |
Wert von 1200 Milliarden Dollar und die Länder der Eurozone 555 Milliarden | |
Dollar. | |
(10) Der Export Similarity Index im Vergleich mit der OECD ist für China | |
von 0,05 im Jahr 1972 auf 0,21 im Jahr 2005 gestiegen; für Korea von 0,011 | |
auf 0,33; für Mexiko von 0,18 auf 0,33; für Brasilien von 0,15 auf 0,20. | |
Vgl. Peter K. Schott, "The relative sophistication of Chinese exports", | |
"Economic Policy, Januar 2008, S. 7-40. | |
(11) Frank Ackerman, "The Shrinking Gains from Trade: A Critical Assessment | |
of DOHA Round Projections", Global Development and Environment Institute, | |
Working Paper Nr. 05-01, Tufts University, Medford, Massachusetts, Oktober | |
2005. | |
(12) "Libre-échange, croissance et développement. Quelques mythes de | |
l'économie vulgaire" in "Revue du Mauss, Nr. 30, 2/2007, Paris (La | |
Découverte). | |
(13) So etwa: Charles P. Kindleberger, "Commercial Policiy Between the | |
Wars", in: Peter Mathias und Sidney Pollard, "The Cambridge Economic | |
History of Europe", Bd. 8, (Cambridge University Press) 1989; und Harold | |
James, "The End of Globalization: Lessons from the Great Depression", | |
Cambridge, Massachusetts (Harvard University Press) 2001. | |
(14) John Maynard Keynes, "National Self-Sufficiency", "Yale Review, 1933. | |
(15) Siehe dazu: Susan George, "Zurück zu Keynes in die Zukunft", "Le Monde | |
diplomatique, Januar 2007. | |
(16) In den 1960er-Jahren wurden Abgaben oder Subventionen auf europäischer | |
Ebene eingeführt, um ein einheitliches Preisniveau zu erreichen. | |
Aus dem Französischen von Veronika Kabis | |
Le Monde diplomatique Nr. 8834 vom 13.3.2009, Seite 8-9, 565 Dokumentation, | |
Jacques Sapir | |
© Contrapress media GmbH Vervielfältigung nur mit Genehmigung des | |
taz-Verlags | |
12 Mar 2009 | |
## LINKS | |
[1] http://www.jec.senate.gov/ | |
[2] http://voxeu.org/ | |
[3] http://www.teamgesundheit.de/fileadmin/downloads/kurzfassung_Kosten.PDF | |
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Jacques Sapir | |
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