| # taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Den Welthandel gestalten | |
| > Die Ideologen der Globalisierung sind ratlos. Eine globalisierte Krise | |
| > war in ihrem Weltbild nicht vorgesehen. Protektionismus scheint jetzt ein | |
| > Mittel der Wahl. Ein Plädoyer. | |
| Bild: Protektionismus soll verhindern, dass der Welthandel die ganze Welt nach … | |
| Ausmaß und Tiefe der Wirtschaftskrise haben die Debatte über den | |
| Protektionismus neu entfacht. Wie brisant das Thema ist, lässt sich an den | |
| aufgeregten Reaktionen der Protektionismusgegner ablesen, für die der | |
| Freihandel zum Fetisch geworden ist. Da werden Fakten in einer Weise | |
| vorgetragen, die die Wahrheit aus Unwissenheit oder mit voller Absicht | |
| verdreht. Kurzum: Protektionismus ist tabu. | |
| Auf den ersten Blick scheint die aktuelle Krise eine Finanzkrise zu sein, | |
| die verschiedenen Faktoren zugeschrieben wird: der Unvorsichtigkeit der | |
| Banken und Banker, der Gier verantwortungsloser Spekulanten oder - und die | |
| ist der intelligenteste Begründung - dem Fehlen von | |
| Regulierungsmechanismen. Tatsächlich ist folgender Zusammenhang | |
| entscheidend: Die Verschuldung und die Insolvenzen privater Haushalte sind | |
| massiv gestiegen, und zwar infolge der Lohndeflation, also des sinkenden | |
| Anteils der Löhne und Gehälter an dem verteilten Vermögen. Dieser Rückgang | |
| wiederum resultiert aus dem Druck, den der Freihandel ausübt, sei es durch | |
| den massenhaften Import von billigen Waren, sei es durch die Androhung von | |
| Standortverlagerungen. | |
| Der Freihandel begünstigt einen Abschwung in zweifacher Weise: direkt durch | |
| den Druck auf die Gehälter, indirekt dadurch, dass er den Wettbewerb um | |
| niedrige Steuern fördert. In Ländern, in denen die Unternehmen in | |
| unmittelbarer Konkurrenz zu den Importen aus Billiglohnländern stehen, | |
| versuchen die Regierungen, die Gewinne der inländischen Unternehmen auf | |
| gleichbleibendem Niveau zu sichern, um Standortverlagerungen zu verhindern | |
| und damit Arbeitsplätze zu erhalten. Sie tun dies, indem sie die | |
| Sozialabgaben der Unternehmen auf die Beschäftigten abwälzen. | |
| Zum Druck auf die Gehälter kommen noch eine zunehmend ungerechte | |
| Besteuerung und Einschnitte bei den Sozialleistungen. Beides wirkt sich auf | |
| die Einkommen der Haushalte aus, die ihr Konsumniveau nur durch | |
| Verschuldung halten können, und das gerade zu einem Zeitpunkt, da ihre | |
| Einkommensquellen unsicherer werden. | |
| Die eigentliche Verantwortung für die Krise liegt also nicht beim | |
| Bankensektor, dessen tiefgehende Krise nur ein Symptom ist, sondern beim | |
| Prinzip des Freihandels in Kombination mit der entsprechenden | |
| Liberalisierung der Finanzmärkte. | |
| In den USA ist die Lohnquote, also der Anteil der Löhne am nationalen | |
| Einkommen, auf den tiefsten Punkt seit 1929 gesunken: auf 51,6 Prozent im | |
| Jahr 2006 gegenüber noch 54,9 Prozent im Jahr 2000.(1) Im Zeitraum 2000 bis | |
| 2007 betrug das durchschnittliche Wachstum des medianen Reallohns nur 0,1 | |
| Prozent, während das mediane Haushaltseinkommen jährlich real um 0,3 | |
| Prozent sank.(2) Der Rückgang war in den ärmsten Haushalten am stärksten. | |
| Im selben Zeitraum musste jeder Fünfte einen Rückgang seines Einkommens um | |
| 0,7 Prozent im Jahr hinnehmen.(3) Seit dem Jahr 2000 steigen die | |
| Stundenlöhne nicht mehr im selben Maße wie die Produktivitätsgewinne. | |
| Der Freihandel bewirkt auch, dass die Regierungen die Finanzierung der | |
| Sozialleistungen von den Unternehmen auf die Beschäftigten verlagern. Von | |
| 2000 bis 2007 stiegen die Prämien der Krankenversicherungen in den USA um | |
| 68 Prozent, die der Bildungsaufwendungen um 46 Prozent.(4) Gleichzeitig | |
| stieg der Anteil der Bevölkerung ohne Kranken- und | |
| Sozialversicherungsschutz von 13,9 auf 15,6 Prozent.(5) Selbst der | |
| Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman, der lange Zeit behauptet hatte, | |
| "die Globalisierung ist nicht schuld", musste einräumen, dass die durch den | |
| Freihandel importierte Lohndeflation in diesem Prozess eine entscheidende | |
| Rolle spielte.(6) Angesichts dessen ist es nicht verwunderlich, dass die | |
| private Verschuldung der US-Haushalte explodiert ist: 1998 entsprach sie 63 | |
| Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) der USA, im Jahr 2007 dagegen 100 | |
| Prozent. | |
| Die private Verschuldung nimmt auch in Europa zu. In der Eurozone hängt | |
| dies mit der Politik der Europäischen Zentralbank (EZB) zusammen, die die | |
| importierte Depression weiter verstärkt. Einige Länder folgen dem | |
| amerikanischen Modell, so etwa Spanien, Irland und Großbritannien, mit der | |
| Folge einer relativen und teilweise auch absoluten Verarmung der | |
| Bevölkerung.(7) Die importierte Lohndeflation ließ auch die private | |
| Verschuldung rapide ansteigen. Sie kletterte 2007 - wie in den USA - auf | |
| jeweils über 100 Prozent des Bruttoinlandprodukts. | |
| Selbst in den Ländern, die sich relativ stark vom amerikanischen Modell | |
| abheben, ist eine Lohndeflation eingetreten. So fand bei deutschen | |
| Unternehmen eine massenhafte Produktionsverlagerung hin zu ausländischen | |
| Vertragsfirmen statt. Seit der Osterweiterung der EU gilt häufig nicht mehr | |
| Made in Germany, sondern allenfalls Made by Germany. Gleichzeitig wurde | |
| über die Erhöhung der Mehrwertsteuer ein Teil der Lasten von den | |
| Unternehmen auf die Haushalte abgewälzt. Dadurch kam es zu einem starken | |
| deutschen Handelsüberschuss zulasten der Partner in der Eurozone. Aber auch | |
| um den Preis eines schwächeren eigenen Wachstums als Folge der rückläufigen | |
| Binnennachfrage - obwohl auch in Deutschland die private Verschuldung auf | |
| 68 Prozent des BIP angestiegen ist. | |
| In Frankreich lautete die Antwort auf die Globalisierung in den letzten | |
| Jahren: "Strukturreform". Die Verlängerung der Wochenarbeitszeit und die | |
| Einschnitte bei den Sozialleistungen haben jedoch die Auswirkungen der | |
| importierten Lohndeflation noch verstärkt. Die spektakulärste Form dieser | |
| Politik ist die Produktionsverlagerung in Länder mit niedrigeren sozialen | |
| und ökologischen Standards und Lohnkosten. Beschäftigte und Gewerkschaften | |
| sind damit erpressbar, sie verzichten auf Lohnsteigerungen und soziale | |
| Errungenschaften. | |
| Die Unternehmensführungen benutzen die Androhung von Standortverlagerungen, | |
| um bestehende Tarifverträge und soziale Absicherungen aufzuweichen. Das | |
| drückt deutlich auf die Gesundheit der Arbeitnehmer, wie der Anstieg der | |
| durch Arbeitsdruck und Arbeitsstress bedingten Erkrankungen zeigt.(8) Die | |
| Verbindung zwischen der Lohndeflation und dem Loch in den Sozialkassen der | |
| wichtigsten europäischen Länder ist also nicht zu übersehen. Die | |
| Regierungen regierten jedoch genau umgekehrt und nahmen die Finanzlöcher in | |
| den sozialen Sicherungssystemen zum Vorwand, um die Rechte weiter | |
| einzuschränken und die Kosten auf die Beschäftigten abzuwälzen. | |
| Die sogenannten Strukturreformen tragen also direkt oder indirekt zu | |
| Rahmenbedingungen bei, unter denen einer Mehrheit der Haushalte die | |
| Zahlungsunfähigkeit droht. Die aber ist von zentraler Bedeutung für die | |
| Verschuldungskrise in den USA, Großbritannien und Spanien. In anderen | |
| Ländern zeigt sich die Krise eher in der wirtschaftlichen Fragilität von | |
| Familien und dem empfindlichen Kaufkraftverlust. | |
| Selbst in Frankreich, wo die Banken sehr viel vorsichtiger waren, schnellte | |
| die Privatverschuldung, die bis zum Jahr 2000 stabil war, von 34 auf 47,6 | |
| Prozent des BIP im Jahr 2007 hoch. Seit rund zehn Jahren kann man in | |
| Frankreich und Deutschland das Phänomen der "armen Arbeitnehmer" | |
| beobachten. Auch dies ist eine unmittelbare Folge dieser Politik. | |
| ## Konkurrenz um billige Standorte | |
| Die Lohndeflation resultiert also aus der Maßlosigkeit einer | |
| Welthandelsstrategie, wie sie die Länder Ostasiens seit 1998 bis 2000 über | |
| den von der Welthandelsorganisation (WTO) geförderten Freihandel betrieben. | |
| Diese Strategie war in erster Linie eine Reaktion auf die Finanzkrise von | |
| 1997 bis 1999. Damals hatte vor allem China die Sorglosigkeit und | |
| Unfähigkeit des IWF auszubaden: Es musste die schockartigen Auswirkungen | |
| der Asienkrise absorbieren und zulassen, dass seine Nachbarn Handels- und | |
| Finanzüberschüsse zu seinen Lasten erwirtschafteten. | |
| China und seine Nachbarländer kamen zu dem Schluss, dass sie für den Fall | |
| einer neuerlichen Krise dieses Ausmaßes große Währungsreserven | |
| beiseitelegen müssten. Deshalb entwickelten sie eine aggressive | |
| Außenhandelspolitik, indem sie ihre Währung stark abwerteten, eine ihre | |
| Konkurrenzfähigkeit sichernde Deflationspolitik betrieben und den | |
| Binnenkonsum beschränkten. Diese Politik hat die Löhne in den entwickelten | |
| Ländern weiter nach unten gedrückt. Und sie zeigte noch eine andere, | |
| geradezu furchterregende Wirksamkeit: Sie half die immensen | |
| Währungsreserven anzuhäufen, auf denen die Schwellenländer des Fernen Osten | |
| inzwischen sitzen. Das sind allein im Fall von China 1 884 Milliarden | |
| Dollar.(9) | |
| In den letzten dreißig Jahren hat die chinesische Wirtschaft technisch | |
| enorm aufgeholt. Gleichzeitig sind die direkten und indirekten Lohnkosten | |
| konstant geblieben. Der Qualitätszuwachs bei den Exportgütern bedroht | |
| langfristig sämtliche industriellen Arbeitsplätze der Welt. Der Export | |
| Similarity Index, der die Exportstrukturen eines Drittlandes mit denen der | |
| OECD-Mitgliedstaaten vergleicht, zeigt ständig steigende Werte für China, | |
| aber auch für andere Schwellenländer.(10) Der Mythos von der | |
| internationalen Spezialisierung, wonach sich diese Länder auf einfache | |
| Produkte konzentriert und den entwickelten Ländern die Herstellung | |
| komplexer Produkte überlassen haben, entspricht nicht der Realität. | |
| Die importierte Lohndeflation ist mit der Osterweiterung und den Strategien | |
| der Beitrittsländer in der Europäischen Union angekommen. Länder wie die | |
| Tschechische Republik, die Slowakei, Rumänien und in geringerem Maße auch | |
| Ungarn und Polen haben bewusst auf Steuerdumping, günstige Wechselkurse, | |
| niedrige Sozialabgaben gesetzt und reduzierte ökologische Standards | |
| zugelassen, um Investoren für Standortverlagerungen anzulocken. Da es sich | |
| - bis auf Polen - um kleinere Länder handelt, ist klar, dass die Investoren | |
| sich nicht vorwiegend für die Binnenmärkte der Beitrittsländer | |
| interessieren. Vielmehr sehen sie diese Länder vor allem als Plattform für | |
| den Reexport in die alten EU-Mitgliedstaaten.( )Dagegen haben die | |
| Investitionen in Russland vor allem den Binnenmarkt im Auge, zumal dieser | |
| Markt durch stattliche Zollmauern geschützt ist. | |
| Die Vorstellung, dass die Lohndeflation nun einmal der Preis sei, der für | |
| die Entwicklung der ärmeren Länder anfalle, ist schlichtweg falsch. Die | |
| Auswirkungen des durch die WTO vorangetriebenen Freihandels auf die ärmsten | |
| Länder waren deutlich negativ. 2003 wurden für diese Länder noch Gewinne in | |
| der Größenordnung von 800 Milliarden Dollar prophezeit. Seither wird die | |
| Zahl in jedem neuen Bericht kleiner.(11) Die Rechenmodelle der WTO sind, | |
| absichtlich oder nicht, so konzipiert, dass die positiven Effekte der | |
| Handelsliberalisierung möglichst groß herauskommen. Einkommensverluste | |
| durch den Abbau der Handelsbeschränkungen sind darin nicht erfasst. Diese | |
| Einbußen sind aber beträchtlich. Hinzu kommt, dass China von Weltbank und | |
| WTO als "armes" Land eingestuft wird - eine durchaus fragwürdige | |
| Einschätzung. Würde man China aus dieser Rechnung herausnehmen, wäre das | |
| Ergebnis, unabhängig von der Methode, negativ.(12 ) | |
| Die Einkommensverluste der Arbeitnehmer in den entwickelten Ländern kommen | |
| nicht den Arbeitnehmern in den Schwellenländern zugute, sondern nur einer | |
| winzigen Elite im eigenen Land, deren Vermögen in den letzten zehn Jahren | |
| explosionsartig angewachsen ist. Im Jahr 2005 hat das reichste Tausendstel | |
| der US-Amerikaner 7,5 Prozent des nationalen Einkommens an sich gebracht. | |
| So hoch war dieser Anteil zuletzt 1929 (7,6 Prozent). Dagegen lag er 1995 | |
| noch bei 5 und 1985 sogar nur bei 2,9 Prozent. | |
| Die Länder, die von Standortverlagerungen profitieren, erleben zunächst ein | |
| beschleunigtes Wachstum; langfristig jedoch sägen sie sich selbst den Ast | |
| ab, den sie dank der europäischen und US-amerikanischen Konzerne erklommen | |
| haben: Die relative, teilweise sogar absolute Verarmung der Beschäftigten | |
| in den entwickelten Ländern drückt auf deren Konsumneigung, was wiederum | |
| auch die Exportländer trifft. Im Wirkungszusammenhang von Freihandel, | |
| Standortverlagerung und Lohndeflation gibt es keine Gewinner - abgesehen | |
| von denen, die sich die Taschen vollgestopft und ihre Schäfchen in | |
| Steuerparadiesen ins Trockene gebracht haben. | |
| Es gibt noch einen weiteren Mythos, der gern bemüht wird, um den | |
| Protektionismus zu diskreditieren: Die Maßnahmen, die nach der | |
| Weltwirtschaftskrise von 1929 getroffen wurden, hätten die Situation damals | |
| nur verschlimmert, da sie zum Zusammenbruch des Welthandels geführt | |
| hätten.(13) Die wahren Ursachen waren damals die Währungsfluktuation, der | |
| Anstieg der Transportkosten und die weltweite Verknappung der Liquidität. | |
| Zudem vergessen die Freihandelsbefürworter nur zu gern, dass auch John | |
| Maynard Keynes seine Meinung geändert hat: War er zu Beginn der | |
| 1920er-Jahre noch ein entschiedener Verfechter des Freihandels, bekannte er | |
| sich ab 1933 zum Protektionismus.(14) An dieser Haltung hielt er dann bis | |
| zu seinem Tod 1946 fest. Bei allen seinen Vorschlägen zur Reorganisation | |
| des Währungssystems und des Welthandels(15) spielte der Protektionismus | |
| eine wichtige Rolle, während er Autarkiebestrebungen ablehnte. | |
| Um Außenhandelsbeziehungen überhaupt zu gestalten, sind protektionistische | |
| Maßnahmen unumgänglich. Das ist nicht zu verwechseln mit Autarkie, die ja | |
| eine vollständige Abschottung nach außen bedeuten würde. Protektionismus | |
| ist sogar conditio sine qua non jedweder Lohnsteigerungspolitik, die die | |
| Kaufkraft der Privathaushalte erhöhen und die Nachfrage ankurbeln soll. | |
| Höhere Löhne sind aber ohne Eingriffe in den Handel nicht zu erreichen. Wer | |
| das behauptet, ist entweder ein Heuchler oder ein Ignorant. Außerdem gilt, | |
| dass nur ein gewisser Protektionismus die Spirale des Steuer- und | |
| Sozialdumpings in Europa stoppen kann. | |
| Man mag einwenden, dass die Einführung protektionistischer Maßnahmen das | |
| Verhalten der Unternehmen nicht automatisch verändern wird. Die Arbeitgeber | |
| werden natürlich trotz des besseren Schutzes vor der Konkurrenz von außen | |
| auf ihren Vorteil bedacht sein, doch ihr Hauptargument wird dann nicht mehr | |
| ziehen. Es stimmt, dass der Druck der Niedrigpreisproduktion in den meisten | |
| anderen entwickelten Ländern den Unternehmen heute nur die Wahl lässt | |
| zwischen Senkung des Lohnanteils (direkt oder indirekt durch Abwälzung der | |
| Sozialausgaben auf die Beschäftigten) oder Standortverlagerung, die mehr | |
| Arbeitslose bedeutet. Nimmt man den Arbeitgebern diese Argumentationsfigur | |
| weg, gibt man den Beschäftigten die Möglichkeit zurück, eine gerechtere | |
| Verteilung des erzeugten Reichtums einzufordern. | |
| ## Kein Allheilmittel für die Wirtschaft | |
| Der Protektionismus ist kein Allheilmittel - die gibt es in der Wirtschaft | |
| nie und nirgends -, sondern eine notwendige Bedingung. Dabei muss das Ziel | |
| deutlich formuliert sein. Protektionistische Maßnahmen sollen nicht darauf | |
| zielen, die Profite weiter zu erhöhen, sondern die sozialen und | |
| ökologischen Errungenschaften zu sichern und auszubauen. | |
| Es kann auch keinesfalls darum gehen, alle Billiglohnländer abzustrafen, | |
| sondern nur Länder, deren Produktivität sich dem Niveau entwickelter | |
| Volkswirtschaften annähert, ohne dass sie eine diesem Niveau entsprechende | |
| Sozial- und Umweltpolitik betreiben. Mit einem Satz: Protektionismus soll | |
| verhindern, dass der Welthandel die ganze Welt nach unten zieht. | |
| Die Europäische Union ist für eine solche wirtschaftspolitische Kehrtwende | |
| nicht der geeignete Rahmen. Die EU müsste umsteuern und neue Schutzzölle | |
| einführen, doch der europäische Wirtschaftsraum ist heute so heterogen, | |
| dass er einen idealen Nährboden für Steuer-, Sozial- und Umweltdumping | |
| bietet. Deshalb sollte die EU - über einen gemeinsamen Außenhandelszoll | |
| hinaus - über eine Rückkehr zu den europäischen | |
| Währungsausgleichsbeträgen(16) nachdenken. Mit diesen - zeitlich | |
| befristeten - Steuern könnten Wechselkursdifferenzen, aber auch | |
| Diskrepanzen bei sozialen und ökologischen Normen zwischen den Ländern | |
| Eurozone und den anderen EU-Mitgliedstaaten ausgeglichen werden. | |
| Die anfallenden Zolleinnahmen sollten in einen Europäischen Sozialfonds | |
| fließen, aber auch gezielte Hilfsmaßnahmen für die Länder außerhalb dieser | |
| Zollunion finanzieren. Mit diesen wären mittelfristige Abkommen zu | |
| schließen, in denen sie sich zu höheren sozialen und ökologischen Standards | |
| verpflichten. Die Erlöse aus den Währungsausgleichsbeträgen sollten in | |
| einen EU-Fonds zur Stärkung der sozialen und ökologischen Zusammenarbeit | |
| fließen und Mitgliedstaaten dabei helfen, sich auf beiden Gebieten dem | |
| EU-Niveau anzunähern. | |
| In der Frage des Protektionismus geht es um eine schlichte Alternative: | |
| Entweder die anderen zwingen uns ihre Sozial- und Umweltpolitik auf, oder | |
| wir zwingen sie, unsere Standards zu übernehmen. Demgegenüber bedeutet der | |
| Freihandel nichts anderes als das Ende der Wahlfreiheit zwischen den | |
| Sozial- und Wirtschaftssystemen. | |
| Das zeigt auch das wiederholte Scheitern aller Versuche, ein "soziales | |
| Europa" aufzubauen - die große Illusion der Sozialisten und der Grünen - | |
| oder auch nur eine Steuerharmonisierung zu erreichen. Ohne Maßnahmen zur | |
| Sanktionierung des Sozial-, Steuer- und Umweltdumpings wird in diesen | |
| Bereichen ein allgemeiner Unterbietungswettbewerb Platz greifen. | |
| Die Kombination von Freihandel und rigider Euro-Währungspolitik macht aus | |
| der Sicht der Unternehmen heimliche Migration zur Notwendigkeit, denn | |
| illegale Einwanderer entziehen sich den Regelungen des Sozialrechts. Weil | |
| der Druck durch die importierte Konkurrenz zu einer Aushöhlung der sozialen | |
| Rechte führt, werden sie damit faktisch zu Lohndrückern. | |
| Die Regierungen mögen sich noch so zieren: An einer Rückkehr zum | |
| Protektionismus kommen sie nicht vorbei. Er ist kein negativer Faktor, | |
| sondern bietet im Gegenteil die Chance, den Binnenmarkt auf einer stabilen | |
| Grundlage wieder aufzubauen und die Zahlungsfähigkeit von Privathaushalten | |
| und Unternehmen zu stärken. Deshalb kann eine offene Diskussion über | |
| Protektionismus entscheidend zum Ausweg aus der aktuellen Krise beitragen. | |
| Eine solche Diskussion sollte - jenseits von Fetischen und Tabus - | |
| möglichst bald in Gang kommen. | |
| Fußnoten: | |
| (1) US Department of Commerce. Vgl. Aviva Aaron-Dine und Isaac Shapiro, | |
| "Share of National Income Going to Wages and Salaries at Record Low in | |
| 2006", Center on Budget and Policies Priorities, Washington D. C., 29. März | |
| 2007. | |
| (2) Der mediane Wert (nicht zu verwechseln mit dem Mittelwert) teilt die | |
| Lohn- bzw. Einkommensbezieher in zwei gleich große Hälften. Zahlen nach | |
| Joint Economic Comittee (JEC) von US-Senat und Repräsentantenhaus, | |
| Washington, 26. August 2008; siehe: [1][www.jec.senate.gov]. | |
| (3) Bureau of the Census, US-Handelsministerium. | |
| (4) Joint Economic Committee, Juni 2008. | |
| (5) Joint Economic Committee, 26. August 2008. | |
| (6) Paul Krugman, "Trade and Inequality, revisited", VOX, 15. Juni 2007; | |
| [2][voxeu.org]. | |
| (7) Mike Brewer, Alissa Goodman, Jonathan Shaw und Luke Sibieta, "Poverty | |
| and Inequality in Britain 2006", London (Institute for Fiscal Studies) | |
| 2005. | |
| (8) Inzwischen erreichen die medizinischen Kosten dieser Erkrankungen bis | |
| zu 3 Prozent des BIP. Siehe etwa: Wolfgang Bödeker, Heiko Friedel Christof | |
| Röttger und Alfons Schröer, "Kosten arbeitsbedingter Erkrankungen in | |
| Deutschland", [3][www.teamge sundheit.de/fileadmin/downloads/kurzfassung_ | |
| Kosten.PDF]. | |
| (9) Laut Angaben des IWF vom 31. August 2008 hat Japan Währungsreserven im | |
| Wert von 1200 Milliarden Dollar und die Länder der Eurozone 555 Milliarden | |
| Dollar. | |
| (10) Der Export Similarity Index im Vergleich mit der OECD ist für China | |
| von 0,05 im Jahr 1972 auf 0,21 im Jahr 2005 gestiegen; für Korea von 0,011 | |
| auf 0,33; für Mexiko von 0,18 auf 0,33; für Brasilien von 0,15 auf 0,20. | |
| Vgl. Peter K. Schott, "The relative sophistication of Chinese exports", | |
| "Economic Policy, Januar 2008, S. 7-40. | |
| (11) Frank Ackerman, "The Shrinking Gains from Trade: A Critical Assessment | |
| of DOHA Round Projections", Global Development and Environment Institute, | |
| Working Paper Nr. 05-01, Tufts University, Medford, Massachusetts, Oktober | |
| 2005. | |
| (12) "Libre-échange, croissance et développement. Quelques mythes de | |
| l'économie vulgaire" in "Revue du Mauss, Nr. 30, 2/2007, Paris (La | |
| Découverte). | |
| (13) So etwa: Charles P. Kindleberger, "Commercial Policiy Between the | |
| Wars", in: Peter Mathias und Sidney Pollard, "The Cambridge Economic | |
| History of Europe", Bd. 8, (Cambridge University Press) 1989; und Harold | |
| James, "The End of Globalization: Lessons from the Great Depression", | |
| Cambridge, Massachusetts (Harvard University Press) 2001. | |
| (14) John Maynard Keynes, "National Self-Sufficiency", "Yale Review, 1933. | |
| (15) Siehe dazu: Susan George, "Zurück zu Keynes in die Zukunft", "Le Monde | |
| diplomatique, Januar 2007. | |
| (16) In den 1960er-Jahren wurden Abgaben oder Subventionen auf europäischer | |
| Ebene eingeführt, um ein einheitliches Preisniveau zu erreichen. | |
| Aus dem Französischen von Veronika Kabis | |
| Le Monde diplomatique Nr. 8834 vom 13.3.2009, Seite 8-9, 565 Dokumentation, | |
| Jacques Sapir | |
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| 12 Mar 2009 | |
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