# taz.de -- Mythos digitale Bibliothek: "Open Enteignung" durch GoogleBooks | |
> Wissen zum Nulltarif, Demokratisierung durch Google? Das Schlagwort "Open | |
> access" klingt gut, doch auf dem Spiel steht die Bewahrung des Wissens | |
> unserer Gesellschaft. | |
Bild: Wie lange sind die Inhalte von E-Books lesbar? Schon jetzt gibt es kaum n… | |
Noch jede technische Innovation brachte ihre Mythen und Legenden hervor. | |
Von der Eisenbahn glaubte man zunächst, sie mache sensible Seelen krank. | |
Seit der Dechiffrierung des menschlichen Genoms kursiert das Gerücht, bald | |
ließe sich Ersatz für marode Körperteile im Reagenzglas erzeugen. Mit dem | |
Internet und den Suchmaschinen entstand der Doppelmythos, gesichertes | |
Wissen sei erstens gratis zu haben und zweitens sei der Zugang zum Wissen | |
damit "demokratisiert." | |
Mit diesem Argument wird der im Umfang beschränkte und teure, aber nach | |
wissenschaftlichen Standards haushoch überlegene "Brockhaus" gegen | |
quantitativ unbeschränkte und billige, aber wissenschaftlich ungesicherte | |
Suchmaschinen und Netz-Enzyklopädien ausgespielt. Diese Alternative ist | |
keine, denn nur eine aberwitzige Ideologie kann glauben machen, kompetent | |
organisiertes Wissen sei dauerhaft zum Nulltarif zu haben. | |
Angesichts der ungelösten Probleme der Überprüfbarkeit und langfristigen | |
Haltbarkeit von Netz-Enzyklopädien kann es nur darum gehen, neben diesen | |
Medien auch den gedruckten wissenschaftlichen Lexika eine Überlebenschance | |
zu sichern. Und das kann nicht privater Willkür überlassen bleiben, sondern | |
ist eine kulturpolitische Aufgabe ersten Ranges wie die Erhaltung der | |
Vielfalt der gedruckten Presse. Mit anderen Worten: Beides ist eine Aufgabe | |
des Gesetzgebers, da die Marktlogik hier nicht funktioniert. | |
Die Firma Google stellt bekanntlich auch ganze Bibliotheken ins Netz - | |
manchmal auch unter Verletzung von Urheberrechten. Mit "[1][GoogleBooks]" | |
entstanden, wie die beiden Philologen und Editionsspezialisten Roland Reuß | |
und Uwe Jochum in ihrer Zeitschrift Textkritische Beiträge | |
(Stroemfeld/Roter Stern) und auf ihrer Internetseite [2][Textkritik.de] | |
darlegen, neue Mythen. Sie firmieren unter den Schlagwörtern "Open access", | |
d. h. kostenloser Zugang zu und "weltweite Sichtbarkeit" von | |
wissenschaftlichen Publikationen. Die "Herolde der Öffentlichkeit" | |
präsentieren ihre Botschaft mit dem "Lametta der Demokratisierung" (Reuß) | |
und versprechen obendrein, der Zugang zur Wissenschaft werde auch billiger. | |
Uwe Jochum hat nachgerechnet. Im Jahr 2005 kostete es die Universität Yale | |
noch 4.648 Dollar, ihren Forschern einen einzigen Artikel aus einer digital | |
erscheinenden hochspezialisierten biomedizinischen Zeitschrift zugänglich | |
zu machen. Ein Jahr später verlangten die Quasi-Monopolisten 31.625 Dollar | |
pro Artikel. Das entspricht dem Gegenwert von etwa sieben Jahresabonnements | |
für konventionell gedruckte biomedizinische Zeitschriften. Billiger ist | |
"Open access" also mitnichten - nur schneller. | |
Es wird jedoch verschleiert, wer die Beschleunigung bezahlt. In Yale war es | |
die reiche private Stiftung, hierzulande wären es die Steuerzahler, die | |
Bibliotheken finanzieren. Selbst die amerikanische Universität warf | |
angesichts der hohen Kosten für "Open access"-Publikationen das Handtuch. | |
Wenn Bibliotheken ihre Etats für den Bucherwerb zu Gunsten des Ankaufs | |
digitalisierter Bestände umschichten, "höhlen sie sich von innen heraus | |
aus" (Jochum). Wiegt das die Beschleunigung des Wissenstransfers wirklich | |
auf? | |
Auch die "Deutsche Forschungsgemeinschaft" (DFG), die ausschließlich mit | |
Steuermitteln alimentiert wird, propagiert den "Open-access-Wahnsinn" | |
(Reuß). Allerdings nimmt sie das Schlagwort ernst, was nicht zu Mehrkosten | |
bei den Bibliotheken, sondern zu grundsätzlichen Problemen führt. Die DFG | |
möchte die Empfänger von Forschungsmitteln dazu zwingen, dass die | |
Forschungsergebnisse nicht nur von Verlagen gedruckt, sondern "auch digital | |
veröffentlicht und für den entgeltfreien Zugriff im Internet (Open access) | |
verfügbar gemacht werden". Die Mehrheit der Wissenschaftsverlage sind | |
mittelständische Untenehmen. Welcher Verlag wird wohl die Wahnsinnstat | |
begehen, ein wissenschaftliches Buch zu drucken, wenn es am übernächsten | |
Tag gratis vom Netz heruntergeladen werden kann? Aber das ist nur das | |
kleinste der drei Hauptprobleme mit "Open access". | |
Das zweite ist die Erpressung und Entrechtung der Autoren. Hier geht die | |
Universität Zürich voran. Sie verlangt zum Nachweis der | |
Förderungswürdigkeit periodisch eine Liste der Publikationen der Forscher. | |
Dagegen wäre nichts einzuwenden, wenn nicht zugleich und ultimativ verlangt | |
würde, die Manuskripte mit den Forschungserträgen dem Uniserver, der | |
kostenlos zugänglich ist, zur Verfügung zu stellen. Damit greift die | |
Universitätsverwaltung direkt ins Urheberrecht ein, d. h. das Recht jedes | |
Autors, seine Arbeit zu verwerten - und zwar wie, wann und wo er will. Der | |
Autor wird auf kaltem Weg enteignet. Kein Wissenschaftsverlag wird ein Buch | |
drucken, das bereits oder in absehbarer Zeit auf einem frei zugänglichen | |
Server zu lesen sein wird. | |
Das dritte Problem ist von kulturpolitischer Brisanz. Wie lange erhalten | |
und lesbar bleibt, was im Netz steht, ist völlig offen - 5 Jahre, 50 Jahre, | |
500 Jahre, "ewig"? Das heißt, die Gesellschaft, die ihre wissenschaftlichen | |
und kulturellen Hervorbringungen allein im Netz speichert, läuft Gefahr, | |
ihre Geschichte, ihr Wissen und ihre Kultur eines Tages über Nacht ganz zu | |
verlieren oder stückweise zu vergessen. Dateien aus der ersten | |
PC-Generation - keine 30 Jahre alt - sind nicht mehr oder nur mit | |
gewaltigem Kostenaufwand lesbar zu machen. | |
Kein Mensch weiß momentan, wie groß die Gefahr ist, dass eines Tages zwar | |
3.000 Jahre alte ägyptische Hieroglyphen noch lesbar sind, aber 50 Jahre | |
alte Texte nicht mehr. Den Ingenieuren und Wissenschaftstechnokraten zu | |
vertrauen, wäre leichtsinnig. Als die CD aufkam, warb die Industrie mit der | |
"Unvergänglichkeit" der Aufnahmen. Schlecht gepresste CDs sind heute schon | |
unhörbar. Man kann sich nur noch wundern über das Stillschweigen von | |
Wissenschaftsverlagen, Forschern und verantwortungsbewussten | |
Bibliothekaren. Die Google-Piraterie und der "Open-acces"-Schwindel sind | |
gefährlicher als die Piraterie entlang der somalischen Küste. | |
Diskutieren Sie mit! Auf dem [3][tazkongress am 18./19. April in Berlin] | |
sprechen Helge Malchow, Geschäftsführer des Kölner Verlags Kiepenheuer & | |
Witsch und taz-Literaturredakteur Dirk Knipphals über [4]["Google, Kindle | |
und das gute alte Buch"]. | |
20 Mar 2009 | |
## LINKS | |
[1] http://www.books.google.com | |
[2] http://www.textkritik.de | |
[3] /zeitung/taznews/30jahre/ | |
[4] http://30jahre.taz.de/programm/events/65.de.html | |
## AUTOREN | |
Rudolf Walther | |
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Bürgerbeteiligung | |
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