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# taz.de -- Totalitarismus im Comic: Schlaf der linken Vernunft
> Irrungen der militanten Linken und des Staatskommunismus: Die grafischen
> Erzählungen "Fins de Siècle" vereint "Der Schlaf der Vernunft" und
> "Treibjagd" von Enki Bilal und Pierre Christin.
Bild: Beschreibt den Niedergangs linker Utopien: Prolog "Treibjagd".
Die prominenten Comicschaffenden Pierre Christin ("Valerian und Veronique")
und Enki Bilal ("Alexander Nikopol") widmen sich in "Fins de Siècle"
politischen Themen - mit unterschiedlichem Erfolg. Die
Wiederveröffentlichung vereinigt "Der Schlaf der Vernunft" (1978/79) und
"Treibjagd" (1981-83) in chronologischer Erscheinungsweise, ergänzt um
einen Epilog von 1990. In Deutschland wurden die Alben separat erstmals
1985/1986 veröffentlicht, jedoch in umgekehrter Reihenfolge. Entstanden in
Frankreich innerhalb der thematisch lose zusammenhängenden Reihe "Legenden
der Gegenwart", beschäftigten sie sich in einer bis dahin ungewohnten
erzählerischen Bandbreite mit Themen des militanten Widerstands und des
real existierenden Kommunismus.
"Der Schlaf der Vernunft" handelt von einer Gruppe in aller Welt
verstreuter Widerstandskämpfer der XV. Internationalen Brigaden, die noch
einmal zusammenfinden, um gegen terroristische Anschläge der rechtsextremen
Schwarzen Falange vorzugehen. Ihren im Spanischen Bürgerkrieg der
Dreißigerjahre begonnenen Kampf führen beide Gruppen im Europa Ende der
Siebzigerjahre fort. Im Verlauf der Comicgeschichte gerät der Sinn ihres
Kampfes immer mehr in den Hintergrund. Eine Gewaltspirale, die ihre
Verursacher, aber auch mehr und mehr Unbeteiligte das Leben kostet. Das
letzte Gefecht wird zu einem Massaker zwischen zwei Anachronismen, die
jeden Bezug zur gegenwärtigen Realität verloren haben - genauso wie die
Gegenwart zu ihnen.
"Treibjagd", die zweite in dem Band jetzt neu aufgelegte Comicgeschichte,
spielt in der verschneiten Einsamkeit eines entlegenen Dorfes in Osteuropa.
Führende Köpfe kommunistischer Staaten treffen sich dort mit ihrem
Gastgeber Wassil Alexandrowitsch Tschewtschenko, hohes Mitglied des
sowjetischen Politkaders, zu einer Jagd, die mit einem als Unfall getarnten
politischen Mord endet. Stumm und unter Gesichtslähmung leidend
versinnbildlicht der Russe das erstarrte politische System der UdSSR.
Trotzdem versucht er durch den Mord an seinem systemkonformen jungen
Nachfolger dem sich bereits abzeichnenden Untergang der UdSSR etwas
entgegenzusetzen. Der freiwillige Tod in den Armen einer durch seine
Mitschuld längst toten Geliebten steht als Metapher für das im Unrecht
erstarrten System, den auch idealistische Hingabe nicht reformieren konnte.
Der Einfluss Francisco de Goyas (1746-1828), von den Künstlern als
maßgebend benannt, wird in diesen Politthrillern sichtbar: Der politische
Kontext eines von gesellschaftlichem Pessimismus geprägten Bildes wie "Die
Erschießung der Aufständischen vom dritten Mai 1808" (1814) ist thematisch
in "Der Schlaf der Vernunft" adaptiert und wird in einer Szene zu Beginn
der Handlung vorangestellt. Die gelungene Aneignung und Weiterführung von
Goyas Position findet sich bis in die dominierenden roten und gelben Farben
in den blutdurchströmten Dampfbädern von "Treibjagd" wieder. Diese
Geschichte illustriert den politischen Richtungswechsel unter Chruschtschow
und schimmert in den gezeichneten Turmkuppeln und Ikonenbildern des Comics
wider. Deren glänzende Goldtöne verleihen dem Ganzen eine heilig wirkende
Aura. So wird farblich akzentuiert von der tiefliegenden religiösen Kultur
des russischen Volkes und dessen "Sehnsucht nach Erlösung" gesprochen. Nach
der nüchternen Darstellungsweise in "Der Schlaf der Vernunft" stehlen sich
hier fantastische Elemente in die Bilder und verschmelzen Traum, Erinnerung
und Gegenwart auf einzigartige Weise. Die Charaktergestaltung ist ebenfalls
gelungen und wirkt weniger konstruiert als in "Schlaf der Vernunft", dessen
hölzern agierende Figuren und konventionelle Visualisierung etwas
irritierend wirken.
"Fins de Siècle" beinhaltet also ein ausgereiftes Werk wie "Treibjagd"
nebst dem etwas schwerfälligeren Frühwerk und einen Jahre später
entstandenen Epilog. In diesem rühmen sich die Comic-Autoren leicht
selbstgefällig ob der prophetischen Kraft ihres Werks bezüglich des
Niedergangs linker Utopien. Dennoch: als grafische Geschichtserzählung ist
"Fins de Siècle" bis heute überzeugend.
24 Mar 2009
## AUTOREN
Oliver Ristau
## TAGS
Science-Fiction
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