# taz.de -- Willie Nelsons neues Album: Nackt verzweifelt | |
> Prinzip Un-Produktion: "Naked Willie", das neue Album von Willie Nelson, | |
> befreit alte Aufnahmen des Country-Raubeins von Streicher-Süßstoffen. | |
Bild: Willie Nelson: Auf seiner jüngsten Scheibe mal ganz ohne "Sweetening". | |
Obwohl er Ende April seinen 76. Geburtstag feiern wird, gehört Willie | |
Nelson nach wie vor zu den produktivsten und abenteuerlustigsten Musikern | |
überhaupt. So veröffentlichte der Country-Superstar in den vergangenen zwei | |
Jahren Kollaborationen mit Künstlern wie dem Jazz-Snob Wynton Marsalis, dem | |
Bar-Rocker Ryan Adams und der Western-Swing-Band Asleep At The Wheel. | |
Nelsons neuestes Album "Naked Willie" zeigt den fröhlichen Senioren im | |
Bookletfoto in der Badewanne liegend. Das Alter hat für ihn jedenfalls | |
nichts Freudloses. | |
Streng genommen ist "Naked Willie" gar kein neues Album. Die hier | |
versammelten Aufnahmen sind im Original bereits 40 Jahre alt. Es sind auch | |
keine unveröffentlichten Schätze aus dem Archiv. Vielmehr handelt es sich | |
bei "Naked Willie" um Remixe, die allerdings einem relativ einfachen | |
Prinzip folgen: Mickey Raphael, seit drei Jahrzehnten als | |
Mundharmonika-Spieler in Nelsons Band, befreite die Songs von Streichern, | |
Bläsern und Backgroundgesang. Hören wir nun den nackten Willie? Auch ohne | |
Chor und Orchester ist sein Gesang von meistens sieben Musikern, darunter | |
gerne drei Gitarristen, recht züchtig bedeckt. Was jedoch fehlt, ist eine | |
ganze Klangwelt, ist das "Sweetening", der berühmt-berüchtigte "Nashville | |
Sound". | |
Sweetening war in der Prä-Rock-n-Roll-Ära in Popmusiken rund um den Globus | |
gängige Praxis: etwa, wenn Jazzsänger wie Frank Sinatra dramatische | |
Balladen aufnahmen oder lateinamerikanische Sambakünstler einem breiten | |
Publikum vermittelt werden sollten. Dabei wurden neue, frische, oft | |
afrikanisch beeinflusste Stilistiken durch die Mittel europäischer Sinfonik | |
gezähmt. Wobei es sich natürlich um eine grausame Trivialisierung der | |
Sinfonik handelte, ein nochmaliges Herunterrechnen der bereits für Zwecke, | |
etwa der Operette, reduzierten Komplexität. | |
In die Welt der Country-&-Western-Musik zog das Prinzip des formatierten | |
Sweetenings Ende der Fünfzigerjahre ein, als Elvis Presley und die mit ihm | |
verbündeten Rock-n-Roll-Raubeine die Existenzberechtigung des Genres in | |
Zweifel zogen. Hatte sich Country zu Rock n Roll weiterentwickelt? Konnte | |
man Country nunmehr als abgeschlossen betrachten? | |
Allen voran kämpfte gegen diese Ideologie Chet Atkins, Meistergitarrist und | |
Country-Plattenproduzent in Diensten des Plattenmultis RCA. Atkins traf die | |
zumindest wirtschaftlich kluge Entscheidung, das Country-Genre aus dem heiß | |
umkämpften Teenager-Segment herauszulösen und zur Erwachsenenmusik zu | |
deklarieren. Symbolisch besiegelte er dies in der Anwendung von Sweetening. | |
Das Landmännisch-Raubeinige verschwand dadurch zwar nicht vollständig aus | |
dem Country, aber es wurde eingefriedet, limitiert und sediert. | |
In den meisten Fällen führte Sweetening zu traurigen künstlerischen | |
Reduktionen. Und ein Genre-Grenzen sprengender, ambitionierter | |
Singer-Songwriter à la Willie Nelson, dessen Hauptthema die verzweifelte | |
Rückschau auf gescheiterte Beziehungen war, zerbrach fast an dieser | |
Verfälschung. Seine Jahre bei RCA (1965-1972) gelten inzwischen als | |
einziges großes Missverständnis. Zum Superstar wurde Nelson erst Mitte der | |
Siebzigerjahre. "Naked Willie" wäre längst überfällig gewesen, hätten die | |
Reissue-Spezialisten des Bremer Bear-Family-Labels nicht schon für ihre | |
Nelson-Box "Nashville Was The Roughest" (1998) einige Alternativmixe ohne | |
Orchester zu Tage gefördert. Dankbar sein muss man Mickey Raphael daher vor | |
allem für das vom vulgär-impressionistischen Flöten-Tirili befreite "What | |
Can You Do To Me Now?". Weitere Höhepunkte sind "The Ghost", mit den | |
programmatischen Anfangszeilen "The silence / is unusually loud tonight / | |
the strange sound of nothing / fills my ears …" und das delikate "I Let My | |
Mind Wander". | |
Mit dem Prinzip der Un-Produktion schlägt "Naked Willie" auch die Brücke zu | |
"Tell Tale Signs", der jüngsten Veröffentlichung aus Bob Dylans "Bootleg | |
Series". Auch dort wurden Songs von den Spuren eines Produzenten befreit, | |
in Dylans Fall von den atmosphärischen Schnörkeln, Markenzeichen des | |
U2-Produzenten Daniel Lanois. Es scheint, als sei in der Welt der | |
produzierten Musik die Idee der "historischen Aufführungspraxis" | |
angekommen, die die notierte Musik seit einiger Zeit aufmischt. Wer weiß, | |
was da als Nächstes auf uns zukommt: von George Martin befreite | |
Beatles-Aufnahmen? | |
## Willie Nelson: "Naked Willie" (RCA/Smaris) | |
8 Apr 2009 | |
## AUTOREN | |
Detlef Diederichsen | |
## TAGS | |
U2 | |
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