# taz.de -- Under-Cover-Bericht zum Kölner Archiv (Tag 3): Schimmelalarm! | |
> Unser Autor berichtet von der „Erstversorgung“ der geretteten Kölner | |
> Archivalien. Heute: Im Kampf gegen Staub und Sporen und: Kleckern und | |
> Klotzen bei der Digitalisierung. Tag drei. | |
Bild: Das Archivgut liegt in Trockencontainern gelagert im Erfassungszentrum de… | |
Horoskop von Mittwoch, 8. April, Kölner Stadt-Anzeiger: „Es dürfte Ihnen | |
super gelingen, anderen Menschen klarzumachen, wo sie falsch liegen und wie | |
sie es besser machen könnten.“ | |
14 Uhr. Schichtbeginn: Schimmelalarm! Im Kölner Stadt-Anzeiger hat heute | |
die Stadtarchivarin von Siegburg kritisiert, dass mit dem Arbeitsschutz zu | |
lax umgegangen werde: schlecht sitzende Atemmasken, schlechte Durchlüftung. | |
Dabei können die Pilze auf dem Schriftgut Allergien und Krebs auslösen. | |
„Eine Unverschämtheit,“ sagt sie. | |
Die Kritik von der rechten Rheinseite sitzt. Ab sofort müssen wir die | |
Schutzanzüge vor jeder Mahlzeit ausziehen, Trinkflaschen dürfen nicht mehr | |
in die Halle mitgenommen werden, das Tragen der Mundschutze wird auch in | |
Bereichen ohne Pilzverdacht kontrolliert. „Das ist eine politische | |
Entscheidung. Sieben Werktage lang wird eine Schimmelprüfung veranstaltet, | |
dann sehen wir weiter,“ erklärt der Archivar vom Dienst im roten T-Shirt. | |
Er gibt zu erkennen, dass er das für überflüssig hält. | |
Vom 9. bis 11. Februar 1946 überschwemmte die Leine zwei Meter hoch das | |
teilzerstörte Hauptstaatsarchiv Hannover. Drei bis vier Kilometer Akten und | |
Urkunden, die gerade unzerstört aus Bergwerken zurückgekommen waren und auf | |
dem Boden lagerten, verschlammten, trockneten zu ziegelsteinähnlichen | |
Gebilden und verpilzten. Fünf Personen werden für die Wiederherstellung der | |
letzten 100 bis 200 Regalmeter noch bis 2013 brauchen. Gegen den Pilz sind | |
fünf Stellen auf zehn Jahre bewilligt. | |
Vor meiner Abreise hatte mir Freund Christoph, Experte für | |
Arbeitssicherheit, die Vorschriften eingeschärft. Schutzanzüge des Typs | |
5/6. Atemmasken der Stufe PPF2. Einweg-Handschuhe. Alles für „nicht | |
gezielte Tätigkeiten im Umgang mit biologischen Arbeitsstoffen“ – vulgo: | |
feuchte und verpilzte Papiere. Haben wir hier auch alles erhalten. | |
Nur ist die Stadt nicht von selbst darauf gekommen, fortlaufend die Staub- | |
und Sporenbelastung zu messen. Hätte sie das getan, könnten wir uns die | |
ganze Aufregung sparen. Wenigstens wird die heutige Aufregung künftig ein | |
paar Dummies vor sich selbst schützen. Öfters haben Leute ganz ohne | |
Mundschutz gearbeitet. Eine trug einen schicken dunkelblauen Stoff-Overall, | |
die langen roten Haare frei darüber. Leider verschwindet jetzt auch die | |
farbige Funktionswäsche der Kölner unter den weißen Schutzanzügen. | |
Im Bombenangriff vom 15. März 1945 auf Hannover sank ein Motorschiff mit | |
20.000 Archiveinheiten (500 Regalmetern) evakuiertem Schriftgut aus dem | |
Hauptstaatsarchiv Düsseldorf. Geborgen, aber unsachgemäß getrocknet und | |
verschimmelt, verblockten die Bände zu harten Klötzen, die seither | |
„Kahnakten“ heißen. 1976 begann ihre Restaurierung, anfangs mit sechs, | |
jetzt noch mit drei Stellen. Derzeit sind die letzten 2000 Bände in | |
Behandlung. | |
14.15 Uhr. Heute wechsle ich auf einen neuen Arbeitsplatz. Im Obergeschoss | |
der Halle stecken wir alle gereinigten und trockenen Archivalien zur | |
Sicherheit in Wärmekammern und verpacken sie anschließend in Archivkartons. | |
Aber was für ein Durcheinander! Felder mit Wannen voller Archivgut, | |
dazwischen Paletten, fertig zum Abtransport, Transportwagen verstopfen die | |
Durchfahrten. Ich nehme mir mein Horoskop zu Herzen und plane die Wege neu. | |
Anfahrt der Wagen von hinten, Bereitstellungräume vorne, Lagerflächen | |
dazwischen. | |
14.30 Uhr. 200 Wannen voller Archivalien kommen an. Ich schlage der | |
Restauratorin vom Dienst vor, wie wir sie platzieren können, damit sie | |
heute nicht stören und morgen schnell geleert werden können. | |
15.15 Uhr. Vier Arbeiter erledigen das. Sowas gefällt mir. | |
Am 21. Oktober 1961 brannte die Burg Trausnitz mit dem Staatsarchiv für | |
Niederbayern ab; drei Feuerwehrleute starben. 10.000 Archiveinheiten waren | |
betroffen, von denen je ein Drittel total zerstört, unrettbar beschädigt | |
oder restaurierbar war. 1000 Einheiten aller Erhaltungsstufen haben die | |
Archivare schlicht vergessen, 250 Kartons, rund 50 Regalmeter. Erst | |
kürzlich kamen sie in einem Magazin wieder zum Vorschein. Sie werden | |
verfilmt, eine Restaurierung ist zu teuer. | |
16 Uhr. Kaffeepause, Diskussion über die Digitalisierung. In den Tagen nach | |
dem Einsturz, als manche Chaoten behaupteten, alles sei vernichtet, bildete | |
sich eine kleine Initiative, um ein Digitales Stadtarchiv zu gründen. Sie | |
forderte die Besitzer von Kopien kölnischer Archivalien auf, sie auf einer | |
Website ins Internet einzustellen. | |
Nur – das ist Geklecker. Mehr als 10 Millionen Aufnahmen aus dem | |
Stadtarchiv existieren auf Mikrofilm, darunter die nahezu gesamte | |
Überlieferung vor 1815. Mehr als 6000 Filme, um deren sichere Aufbewahrung | |
im berühmten Barbarastollen im Schwarzwald in den letzten Wochen viel | |
Aufhebens gemacht wurde. Völlig unnötig, die Filme jetzt dort | |
herauszuholen: Ein kompletter Satz liegt in Köln an einem sicheren Ort. Die | |
verschütteten Exemplare, die wir manchmal entstauben, sind nur | |
Arbeitskopien davon. | |
Das sind doch Informationen, die auf eine städtische Webseite gehören! Die | |
Kaffeetrinker haben das erst von mir erfahren. Ich muss mit den Ergebnissen | |
meiner journalistischen Recherchen vorsichtig sein und sage ihnen, ich | |
hätte es irgendwo gelesen. Bin für sie ein Verlagsangestellter, der für | |
Kontakte zu Druckereien zuständig ist. Wer von den Helfern dies liest: | |
Sorry für die eine oder andere Notlüge. | |
Kopien dieser Filme sind schnell gemacht. Ein Mikrofilmlesesaal könnte der | |
erste Teil eines wieder in Betrieb gehenden Stadtarchivs sein. Die | |
Aktivisten vom Digitalen Archiv sollten sich auf die Zeit konzentrieren, | |
die zwar unspektakulär ist, auf die es jetzt aber wirklich ankommt: alles | |
ab 1815. | |
Die Mikrofilme ebenfalls online zu stellen – das wäre was. Aber dafür | |
braucht man als Datenspeicher ein ganzes Rechenzentrum, eine Software mit | |
passender Benutzeroberfläche, Lupen- und Diashow-Funktion. Nur eine Million | |
Euro würden es kosten, zehn Millionen Bilder zu digitalisieren. Aber | |
Programme und Infrastruktur brauchen viel mehr Zeit und Geld. Und dennoch | |
hat die Idee Charme. Sie braucht ja nicht in Köln umgesetzt zu werden, weil | |
die Archivare hier ja andere Sorgen haben ... „Hörn’Se auf“, bremst mich | |
einer, „die haben schon genug Probleme mit ihrer Autonomie. Denen redet | |
doch jetzt jeder rein.“ | |
Die Arno-Flut vom 4. November 1966 überschwemmte und verschmutzte auch mehr | |
als 20 der 60 Regalkilometer Schriftgut im Staatsarchiv von Florenz, dazu | |
30 Kirchenarchive und 1,2 Millionen Bücher der Nationalbibliothek. | |
Kurzerhand wurden die Bestände in Zigarrenfabriken und | |
Getreideverarbeitungsanlagen schnellgetrocknet. | |
18 Uhr. Heute sind wieder die Johanniter für unser Abendessen da. Gleich | |
zwei Behälter Kaffee, kein Tee. Das Scheibenbrot noch abgepackt. Ein | |
Nudelsalat mit so viel Mayonnaise, dass ihn die Hälfte von uns verschmäht. | |
Die andere Hälfte stochert mit Plastiklöffeln darin rum, Kellen gibt’s | |
nicht. Ist es so schwer, schmackhaftes Brot und einen Obst- oder | |
Gemüsesalat zu besorgen, der den Ernährungsgewohnheiten des frühen dritten | |
Jahrtausends entspricht? Alle Freiwilligen bleiben bescheiden und | |
freundlich. | |
Der Johanniter-Einsatzleiter droht: Wenn weiterhin so viele | |
Getränkeflaschen halb geleert oder gar nicht zurückkommen, werde künftig | |
nur noch die Hälfte geliefert. Eine Unverschämtheit, dies Freiwilligen zu | |
sagen, die vier Stunden im Schutzanzug geschwitzt haben. Die Stadt Köln | |
bezahlt die Johanniter für das, was sie hier präsentieren. Welcher | |
Rechnungshengst addiert wohl morgen, wieviel Pfandflaschen verschwunden | |
sind? | |
Sagen wir es so: Im Gegensatz zu den katholischen Maltesern halten die | |
evangelischen Johanniter ihr Ideal von Sparsamkeit und Kargheit aktiv | |
aufrecht. Insofern erhebe ich gegen die Trennung der beiden Orden im Jahr | |
1538 keine nachträglichen Einwände. | |
Die Birthler-Behörde, die die Akten der Stasi verwaltet, sitzt auf knapp | |
16.000 Säcken mit Papierschnipseln, von Stasi-Leuten 1989/90 aus sieben bis | |
acht Regalkilometern Akten gemacht. 25 Beschäftigte brauchten neun Jahre, | |
um den Inhalt von 335 Säcken zu rekontruieren. Jetzt sind es 400 Säcke. Mit | |
weiteren 400 soll ein Pilotverfahren die digitale Rekonstruktion per | |
Computer erlauben. Funktioniert es, könnten die restlichen 15.000 Säcke bis | |
2013 erschlossen sein. | |
Achtköpfig ist die Gruppe vom Uni-Archiv Aachen. Inmitten seiner | |
Studierenden verdrückt Geschäftsführer Klaus Graf schweigend seine Brote. | |
Er ist das Enfant terrible der deutschen Archivszene, ein Querulant und | |
Eiferer, der sich ständig im Ton vergreift. Aber sein Blog Archivalia ist | |
die einzige brauchbare Quelle für Nachrichten über den Einsturz, in diesen | |
Tagen Pflichtlektüre. Auch die Nachrichten aus L’Aquila am Ende dieser | |
Protokolle stammen von dort. Aber wer Grafs Beiträge kommentiert, muss mit | |
Antworten wie „Einfach mal die Fresse halten“ oder „Geschreibsel“ rechn… | |
Beim Brand der Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar am 2. September | |
2004 wurden 50.000 Bände zerstört. Von den 62.000 beschädigten hatten | |
34.000 Wasser- und Hitzeschäden; davon sind bisher 20.000 restauriert. Von | |
den 28.000 Bänden mit Brandschäden, den sogenannten Aschebüchern, sind 8000 | |
mit erhaltenem Textspiegel restaurierbar, bei den restlichen werden nur | |
handschriftliche Fragmente gesucht. Abschluss im Jahr 2015. | |
19 Uhr. Ein unansehnliches, zerdrücktes Exemplar von Martin Walsers Roman | |
"Halbzeit". „Wir werfen nichts weg.“ Beim Hinausfegen von Steinchen wird | |
auf dem Vorsatzblatt eine lange Widmung des Autors sichtbar. „Wir lesen | |
nicht.“ Aber wir organisieren. Die neuen Wege in der Halle bewähren sich. | |
20 Uhr. Wieder Nassgut-Alarm, 50 Kartons. Von allen Stationen strömen die | |
weißen Gestalten an die Reinigungstische. | |
21 Uhr. Heute werden wir damit nicht mehr fertig. 15 Kartons bleiben | |
liegen. Der Shuttlebus wartet nicht. | |
Nachricht von drinnen: Kater Felix droht Nierenversagen durch Dehydrierung, | |
berichtet Express. | |
Nachricht von draußen: Im Erdbebengebiet von L’Aquila jetzt 272 Tote. Im | |
Staatsarchiv lägen die Urkunden unter Bergen von Schutt, meldet Il Tempo. | |
16 Apr 2009 | |
## AUTOREN | |
Dietmar Bartz | |
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