# taz.de -- Under-Cover-Bericht zum Kölner Archiv (Tag vier): „Das wird noch… | |
> Unser Autor berichtet von der „Erstversorgung“ der geretteten Kölner | |
> Archivalien. Wenn Rechnen tröstet: Von Quantität und Qualität der | |
> Katastrophe. Vierter und letzter Tag. | |
Bild: Ein Restauratorin reinigt ein historisches Dokument. „Zehn Leute, gute … | |
Horoskop von Donnerstag, 9. April, Kölner Stadt-Anzeiger: „Heute könnte es | |
etwas rauer zugehen als sonst. Für jeden Kuchenkrümel müssen Sie sich | |
wahrscheinlich ordentlich ins Zeug legen.“ | |
13.45 Uhr. Ankunft mit dem Shuttlebus. Wer uns wohl heute verpflegt? Die | |
Malteser müssten wieder dran sein, wie schön! Aber an der Halle steht kein | |
cremefarbener Lieferwagen. Es steht überhaupt kein Lieferwagen da. Niemand | |
sei gekommen, sagen die von der Frühschicht. 30 Leute ohne Mittagessen. | |
14 Uhr. Schichtbeginn, letzter Tag, letzte Station. An Packtischen laden | |
wir alles in Archivkartons um, was andere Helfer uns auf großen Wagen aus | |
den Wärmekammern heranschieben: Akten und Urkunden, Kopiare und Amtsbücher, | |
alle möglichen Teile aus den berühmten 818 Kölner Nachlässen, auch | |
Broschüren und Fotos, lose Zettel und Schnipsel. Wir verwandeln sie wieder | |
in Schachtelinhalt, wohl die Zustandsform von Schriftgut, die allen | |
Archivaren die vertrauteste und sicherste ist. | |
Geredet wird nicht viel unter den Masken und in der Hitze. Die großen | |
Wärmekammern mit ihren sechzehn Bautrocknern sind nur durch Plastikplanen | |
abgetrennt. Oft sind das Kollern der Wagenräder auf dem Betonboden und das | |
Rascheln des Papiers beim Umbetten die einzigen Geräusche in den Weiten | |
unserer Etage. Stetig kommt neuer Nachschub. „In einer Art Schlafwandel der | |
Gewohnheit erneuert sich das, ein schweigsames von-Hand-zu-Hand-Gehen“, | |
schrieb Martin Kessel in seinem Roman Herrn Brechers Fiasko von 1932. | |
Das Verstauen tröstet. Meine Fassungslosigkeit der vergangenen Tage beruhte | |
auf dem Umstand, die Qualität der Katastrophe, das Durcheinander von Ganz-, | |
Halb- und Unzerstörtem, nicht mit der der Quantität der Katastrophe, der | |
schieren Menge an Schriftgut, in Übereinklang bringen zu können. Jetzt, am | |
Packtisch, hilft das Rechnen. | |
Die vielen Schachteln mit Kölnflocken und Einzelblättern, zerknautschten | |
Stehordnern und aufgequollenen Bücher haben die Bestände des Stadtarchivs | |
ziemlich aufgeplustert, um zwanzig Prozent, schätze ich. Aber eine | |
Plastikwanne enthält auch rund zwanzig Prozent mehr Material, als auf einen | |
Regalmeter geht. Das mag sich ausgleichen. Grob kalkuliert also: Ein | |
Wanneninhalt entspricht einem Regalmeter in der alten, kompakten Lagerung | |
des Stadtarchivs. 27 Regalkilometer hatte das Archiv. An den Packtischen | |
sind wir gerade bei Wanne 3000, also Kilometer drei. Dann kommen noch | |
24.000 Wannen. Hoffentlich. Jede Wanne weniger würde für acht Kartons | |
Totalverlust stehen. | |
15 Uhr. Mittagessen ist da. Auch das soll abgearbeitet werden. Unwillig | |
unterbrechen wir die Arbeit. Schutzanzüge wieder ausziehen. Schweinebraten | |
mit Kartoffelklößen. | |
„Woran lag denn die Verzögerung?“ | |
„Wir standen im Stau.“ | |
„Drei Stunden?“ | |
„Mit dem Essenmachen hat was nicht geklappt.“ | |
Sagen wir es so: Im Gegensatz zu den evangelischen Johannitern halten die | |
katholischen Malteser das köllsche Ideal des entspannten Umgangs mit | |
Pflicht und Ausrede aktiv aufrecht. Insofern erhöbe ich jetzt gegen eine | |
vollständige Säkularisierung beider Orden im Westfälischen Frieden von | |
1648, spätestens aber im Reichsdeputationshauptschluss von 1803, keine | |
nachträglichen Einwände. | |
15.30 Uhr. Wir kommen nur langsam voran. Uns sind die großen Kartons | |
ausgegangen, in denen sonst vor allem die Stehordner landen. Die müssen wir | |
nun händisch mit Packpapier umhüllen und zukleben. Eine Pein für | |
Grobmotoriker wie mich, die kein Buch ordentlich einwickeln können. Mein | |
Gegenüber, die Stadtarchäologin, mit der ich am ersten Tag hierher fuhr, | |
beobachtet meine Mühe. | |
Die Arbeit dauert doppelt so lange wie sonst, und solche Pakete lassen sich | |
nicht gut stapeln. Unser Kölner Schriftführer, der in einem zugestaubten | |
Laptop sorgfältig Packzettel, Kartonnummern und Palettenzahlen nachhält, | |
schimpft: „Nää, nää, nää. Unn jestern warmer so schnell.“ Dennoch: Nur | |
einmal in vier Schichten fehlt Material, kein schlechtes Ergebnis. | |
In den Abläufen habe ich auch nur ein einziges Problem entdeckt. Die | |
Archivalien werden auf einem Zettel notiert, wenn sie gesäubert in die | |
Wannen gelegt werden. Aus den Wannen werden zehn Kartons. Um später etwas | |
zu finden, müssen im schlechtesten Fall alle zehn Kartons geöffnet werden. | |
Würde der Inhalt erst an unseren Packtischen erfasst, wäre er genau einer | |
Schachtel zuzuordnen. Das dürfte den geordneten Rückfluss der Archivalien | |
in die Magazine des neuen Stadtarchivs sehr erleichtern. | |
16.30 Uhr. Alle auf unserer Etage haben die Kaffee- und Kuchenpause | |
vergessen und durchgearbeitet. Keinen Krümel haben die anderen uns übrig | |
gelassen. | |
Noch eine Rechnung. 27 Regalkilometer enthielt das Archiv. Nach | |
wochenlanger Zeitungslektüre, vielen Gesprächen, eigener Beobachtung im EVZ | |
und einer Presseführung über die Einsturzstelle scheint mir, dass drei | |
Viertel der Bestände kaum oder nur mäßig (bis zum Knicken, aber noch ohne | |
Reißen) beschädigt sind. Auffällig gut sind dabei die älteren Bestände | |
davongekommen, die liegend und in Kartons aufbewahrt wurden. Die | |
Wasserschäden sind zwar ärgerlich, aber Tinte war bis zur Mitte des 19. | |
Jahrhunderts wasserfest und verläuft nicht. Schlimmer sind die Pilze, die | |
sich von der Zellulose des Papiers ernähren wollen. | |
Das restliche Viertel des Kölner Schriftguts wird wohl schwer beschädigt - | |
gerissen, zerrissen, zerquetscht, zerrieben - oder vernichtet sein. Die | |
größten Schäden haben die vielen Regalkilometer Ordner mit Verwaltungsakten | |
nach 1945 erlitten. Sie waren noch nicht endgültig archiviert und standen | |
aufrecht in den Regalen, als die Decken herunter kamen. | |
Die Schäden an Substanz und Aura sind aber nur ein Teil der Verlustbilanz. | |
Ein anderer Teil betrifft die Leistung der Archivare von Köln, die über ein | |
Jahrhundert lang ihre Bestände geordnet und erschlossen haben. Diese | |
Struktur wiederherzustellen dauert vermutlich ebenso lang wie der Neubau | |
des Archivs. Die Ordnung der Akten ab 1945? Fragezeichen. „Zehn Stellen | |
zusätzlich, insgesamt. Aber gehen Sie damit mal zu einem Stadtkämmerer“, | |
meinte der Chef eines Hauptstaatsarchivs, den ich deswegen anrief. | |
Und die Restaurierung? „Zehn Leute, gute Werkstätten, zwanzig Hilfskräfte, | |
dann sind die in zehn Jahren damit durch“, schätzt ein mit dem Zustand der | |
nassen Kölner Archivalien vertrauter Fachmann am Telefon. Aber noch ist | |
überhaupt nicht zu erkennen, dass die Stadt hinreichend Personal für die | |
Beseitigung der Folgen des Unglücks bewilligt, das sie zu verantworten hat. | |
Gerade zwei Stellen des gehobenen Archivdienstes, Teilzeit „gerne“, sind | |
frisch ausgeschrieben. | |
18 Uhr. Abendessen der Malteser, eine gute Minestrone, nicht genug Brot für | |
alle. Eine Pet-Flasche fällt um, Sprudel spritzt über den Tisch. | |
„Wasserschaden!“, ruft ein Scherzbold. Ein Moment Totenstille im Raum, dann | |
Gelächter. Über die Schrecksekunde, nicht über den Witz. | |
Am Tisch: Zwei Volunteers von Ford Köln, die sich für diese | |
Nachbarschaftsarbeit haben freistellen lassen, „daran erkennt man die | |
amerikanische Firma“. Eine junge Medienangestellte, die gerade das Abitur | |
nachmacht und bis zu den Prüfungen im Mai etwas Zeit hat. Ein | |
Papyrologenpärchen von der Uni Bonn, das schon half, als das Schutzdach | |
über der Einsturzstelle noch nicht stand; damals kamen die Archivalien mit | |
frischen Regenwasserschäden Tag und Nacht herein und wurden im | |
Dreischichtbetrieb abgearbeitet. Er: „Euer Mittelalter ist für uns Jüngste | |
Geschichte.“ Sie: „Muss es ja auch geben.“ | |
Über den Slogan der Wohlmeinenden, dass Köln mit dem Einsturz „sein | |
Gedächtnis verloren“ habe, schütteln hier viele den Kopf. Wir tragen | |
zusammen: Erstens ist längst nicht alles vernichtet. Zweitens: Es gibt in | |
Köln auch andere Archive. Drittens: Die Akten wichtiger Behörden gehen auch | |
an andere Stellen. So gibt der Regierungspräsident von Köln an das | |
Landesarchiv in Düsseldorf ab; das soll übrigens demnächst in einen Bau im | |
Duisburger Hafen ziehen und gegen Rheinhochwasser geschützt sein, hm. | |
Viertens: Zum „Gedächtnis Kölns“ gehören auch die hiesigen Bibliotheken … | |
Museen, selbst die Baudenkmäler und der Grundriss der Stadt. Und fünftens | |
wird kein Archivar ernsthaft abstreiten, dass die Akten, die er betreut, | |
höchstens fünf Prozent der Lebenswirklichkeit in seinem | |
Zuständigkeitszeitraum ausmachen. | |
20.30 Uhr. Wir schieben Wagen, Wannen und Paletten in Gruppen zusammen und | |
räumen die Arbeitsplätze ab. | |
20.45 Uhr. Einsatz-Ende, Feierabend, Osterpause. Wie lange wird das hier | |
noch weitergehen? Im Hinausgehen ein letzter Blick in die | |
Reinigungsstation, in der ich vor vier Tagen mit Wanne 2809 angefangen | |
habe. Die letzte von heute trägt die Nummer 3412. | |
Rechnung Nummer drei: Sechshundert Wannen in vier Tagen, das entspricht 150 | |
Wannen oder 150 Regalmetern pro Tag. 27 Kilometer Archivalien hatten sie im | |
Archivgebäude, das bedeutet: 180 Werktage im EVZ. Ein Monat ist schon weg; | |
meine Berechnung passt zu dem, was der Archivar vom Dienst im Vorbeilaufen | |
ruft: „Das wird noch Oktober!“ | |
Sechs Wochen, bis die letzten Archivalien aus den Trümmern gezogen sind. | |
Sechs Monate, bis die Erstversorgung abgeschlossen ist. Sechs Jahre, bis | |
das neue Stadtarchiv voll benutzbar ist. Für die Restauratoren, bleiben wir | |
realistisch, Arbeit bis ans Ende aller Tage. | |
21 Uhr. Ich bin nicht enttäuscht, nach den vier Tagen nur mit einem | |
freundlichen Blick über die Maske hinweg verabschiedet worden zu sein. Mehr | |
kann man von den Kölnern doch nicht verlangen. Die Belastung durch die | |
Wucht des Ereignisses, durch den Aufbau eines funktionierenden Workflows | |
aus dem Nichts und durch den Dreischichtbetrieb der ersten zehn Tage hat | |
ihnen eine enorme Kraft abverlangt. Dann wochenlang immer neuen Gesichtern | |
hinter Schutzmasken Anerkennung zu zollen, und es geht ja noch Monate so | |
weiter? Eine psychologische Überforderung für beamtete Stadtarchivare des | |
höheren und gehobenen Dienstes, die dafür nun wirklich nicht ausgebildet | |
sind. | |
Ihnen kein explizites Lob abzufordern ist sogar professionell, weil ein | |
solcher Verzicht zeigt, dass man ihre Lage nachvollzieht. Es drückt ein | |
kollegiales Kompliment für ihre Arbeit aus. Zuständig für unsere formelle | |
und informelle Belohnung wäre die Stadt Köln. Der nützt unsere Arbeit | |
schließlich am Meisten. | |
21.30 Uhr. Abschied am Shuttlebus. „Ich hab’ noch war für euch.“ Uns | |
Nichtkölnern schenkt die Stadtarchäologin Reclam-Bändchen über Kölner | |
Architektur und Kunst, die sie in rotes Geschenkpapier eingepackt hat. Als | |
Widmung hat sie nur ein Wort hineingeschrieben: „Danke!“ Im Vorwort steht: | |
„Für Kölnerinnen und Kölner ist es die Stadt schlechthin, an der sie mit | |
einer solche Liebe hängen, dass jede Kritik, vor allem von Auswärtigen, | |
nahezu als Zumutung empfunden und zurückgewiesen wird – auch wenn intern | |
augenzwinkernd die Richtigkeit bestätigt wird.“ | |
Nachricht von drinnen: Kater Felix hat überlebt, weil er überfüttert war | |
und von sechs auf zweieinhalb Kilo abmagern konnte, erklärt Express. | |
Nachricht von draußen: 293 Tote in L’Aquila. Das Staatsarchiv im | |
Erdgeschoss des sonst weitgehend zerstörten Palazzo del Governo sei kaum | |
beschädigt, und seine vier Kilometer zugestaubte Bestände kämen in das | |
Archivdepot von Sulmona, berichtet Archivalia. | |
19 Apr 2009 | |
## AUTOREN | |
Dietmar Bartz | |
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