# taz.de -- Wie die DDR Rock'n'Roll stoppen wollte: Leute, tanzt den Lipsi! | |
> Mit einer sozialistisch angehauchten Schrittfolge sollte vor 50 Jahren | |
> ein Standardtanz die Ausbreitung des Rock n Roll in der DDR verhindern. | |
> Das ging gründlich schief. | |
Bild: Da war der Lipsi schon wieder gestorben: FDJ-Kapelle bei "Weltfestspielen… | |
Nein, es war kein Judo, wie es die Mädels und Jungs auf dem Dessauer | |
Friedensplatz den vorbeischlendernden Passanten weismachen wollten. Sie | |
tanzten, die Musik dazu kam aus dem Kofferradio, die zackigen Bewegungen | |
aus der Hüfte: Rock n Roll in der DDR anno 1958. | |
Doch die Gruppe um Anführer Felix tanzte zu laut, zu schnell, zu weit | |
auseinander - zumindest aus Sicht von Stasi und Volkspolizei, die 88 | |
Jugendliche festnahmen. Sieben von ihnen, darunter auch Felix, wurde der | |
Prozess gemacht. | |
"Rock-n-Roll-Banden" wie die Dessauer gab es damals überall im Land. In Ost | |
wie West. Doch für die DDR-Politiker waren sie nicht nur ein Ärgernis, | |
sondern Anlass zum Kampf mit eigenen tänzerischen Mitteln. Eingeläutet mit | |
einem Schlachtruf wie Vogelgezwitscher: | |
Heute tanzen alle jungen Leute | |
Im Lipsi-Schritt, nur noch im | |
Lipsi-Schritt | |
"Heute" ist 1959: DDR-Chanteuse Helga Brauer besingt die Kriegseröffnung | |
auf dem Tanzparkett. Die Sozialistische Einheitspartei will den Feind, den | |
Rock n Roll, zurückschlagen, der hatte kurz zuvor Elvis Presley in Stellung | |
gebracht, zum Militärdienst in die Bundesrepublik. Der King sollte mit | |
einem Tanz aus der Zone rausgehalten werden: dem lateinamerikanisch | |
angehauchten Standardtanz "Lipsi". | |
Das klang nach Ananas, Baströcken, Limbo und Südsee, war aber nur eine | |
Abkürzung des Entstehungsortes: Lipsia, Leipzig, Sachsen - nichts mit | |
Südfrüchten und Exotik. Vorgestellt wurde der Lipsi auf der | |
Tanzmusikkonferenz im brandenburgischen Industriestandort Lauchhammer. | |
Allen hat der Takt sofort gefallen Sie tanzen mit im Lipsi-Schritt | |
"Allen" ist relativ. Das wusste Helga Brauer aber noch nicht, als sie 1959 | |
vor den Parteioberen antrat. Übersetzt hieß das nämlich so viel wie - | |
niemandem. "Über den Lipsi haben wir uns immer lustig gemacht", erinnert | |
sich die Leipzigerin Loni Nowak. Der Sechsvierteltakt mit der sorgsam | |
sozialistisch ausgewählten Schrittfolge war längst nicht so spritzig wie | |
der Rock n Roll, "den wir tanzen wollten und getanzt haben", sagt Nowak, | |
damals 15 Jahre alt. Gerade das juvenile Auseinandertanzen beim Rock n Roll | |
sollte verhindert werden. Das führte schließlich zu Sittenverfall, meinten | |
die SED-Granden. Damit standen sie nicht allein, auch Eltern und Medien im | |
Westen warnten vor Bill Haley, seinen Comets und anderen Rebellen. | |
Ausschreitungen im Anschluss an Rock-n-Roll-Filme und -Konzerte in ganz | |
Europa waren Beweis genug für den schlechten Einfluss. Der durfte nicht | |
nach drüben schwappen. Dafür sollte der Lipsi sorgen. | |
Die Partei gab sich alle Mühe, eine Lipsi-Epidemie auszulösen: Sie suchte | |
die besten Lipsi-Tänzer sowie die schmissigste Lipsi-Kapelle des Landes, | |
ließ die Tanzschritte drucken, Lehrfilme drehen und presste mit Eifer | |
Lipsi-Platten, während das DDR-Label Amiga den Tanz anpries wie das | |
Fernsehen heute eine Popcorn-Maschine oder den George-Foreman-Grill: "Na, | |
sehen Sie, Lipsi scheint gar nicht so schwer zu sein. Versuchen auch Sie | |
diesen neuen Tanz. Sie werden begeistert sein. Schon jetzt erreichen uns | |
zahlreiche Dankschreiben, in denen die verblüffend schnelle Heilung vom | |
Rock-und-Roll-Fieber anerkannt wird." | |
Doch die Lipsi-Krankheit war nicht halb so ansteckend wie das lästige | |
Rock-n-Roll-Fieber. "Die allem Allzuparteilichen eigene Langeweile, die | |
provinzielle Müdigkeit sind unverkennbar in dieser Mischung von | |
lateinamerikanischer Cha-Cha-Vitalität und deutscher Walzerseligkeit", | |
schrieb die Hamburger Zeit im April 1959. "Die DDR-Kulturpolitiker waren | |
kleinbürgerliche Spießer, die haben nicht begriffen, dass der Rock n Roll | |
ein Lebensgefühl einfing, das sich nicht künstlich erzeugen lässt", | |
konstatiert Bernd Lindner, der über die DDR-Jugend am Leipziger | |
Zeitgeschichtlichen Forum forscht. "Wenn eine finnische Zeitung schrieb, | |
dass der Lipsi ein schöner Tanz ist, dachten die Herren, der Durchbruch des | |
Lipsi stünde kurz bevor - schließlich hatte man den Lipsi zum weltweiten | |
Patent angemeldet." Provinzieller Größenwahn. | |
Rumba, Boogie, Cha-Cha-Cha | |
Davon warn schon so viele da | |
Darum hatte sich auch ein Mann | |
so einfach über Nacht | |
Diesen neuen Rhythmus erdacht | |
Der Mann, der sich einfach so über Nacht den Lipsi erdacht hatte, war Rene | |
Dubianski, Komponist, und ebenso aus Leipzig wie das Tanzlehrerpaar Christa | |
und Helmut Seifert, die die Schrittfolge choreografierten, sowie Walter | |
Ulbricht, der den Befehl gab. Die Tanzschule Seifert existiert auch heute | |
noch. Doch die Geschichte des Lipsi sieht Tanzlehrer Bodo Seifert | |
verkniffen. Darüber sprechen will er nicht. Obgleich die Seiferts dafür den | |
Kunstpreis der DDR bekamen. "Nichts gegen Dubianski oder die Seiferts, der | |
Tanz war gut, aber die Liedzeile bringt es auf den Punkt: Standardtänze | |
gabs schon genug", sagt Lindner, "15- bis 20-jährige Jugendliche wollten | |
etwas anderes, etwas Neues." | |
Ulbricht sah im Lipsi dennoch die Möglichkeit, die Jugend über die Grenzen | |
der Schulen und Betriebe hinaus zu kontrollieren. Dort musste angesetzt | |
werden, erkannte auch die SED-Kreisleitung in Halle. Außerhalb der | |
Arbeitszeit lag "die Hauptfront des Kampfes gegen Eckensteherei, Rowdy- und | |
Bandentum". Für die hallesche Kreisleitung waren das "Erscheinungen des | |
Klassenkampfes", denn die Dessauer Rock n Roller waren selbstverständlich | |
eine kriminelle Vereinigung. Hatten sie doch mit Felix einen Boss und | |
zahlten mehr oder weniger regelmäßig in eine Kasse, um Fahrten zu | |
Tanzveranstaltungen - damals noch ohne Lipsi - zu organisieren. | |
Nicht nur die Dessauer Kriminellen waren anders, als der sozialistische | |
Jugendliche zu sein hatte: "Mit hoher Arbeitsmoral, starkem | |
Staatsbewusstsein, unbeugsamer Vaterlandsliebe und | |
Verteidigungsbereitschaft." Dazu kulturvoll, gebildet und bescheiden. Mit | |
der Monotonie des "yeah yeah yeah", dessen Abschaffung Walter Ulbricht | |
einst forderte, und dem Tragen von Nietenhosen - wie es die Dessauer dreist | |
taten - waren diese Kriterien nicht zu erfüllen. "Wer Rock n Roll hörte, | |
wollte kein blaues Hemd, sondern blaue Jeans", sagt Lindner. "Nur | |
überzeugte FDJler tanzten Lipsi", erzählt Nowak, "also niemand aus meinem | |
Freundeskreis." | |
Doch nicht nur die Jugend enttäuschte die Partei. Auch der Lipsi, mit dem | |
das Zentralkomitee hoffte, Devisen im Ausland einzufahren, spielte dort | |
eine noch geringere Rolle als in der DDR. Als Helga Brauer mit dem | |
"Messe-Lipsi" den Durchbruch in den USA postulierte ("Kinder riefen einfach | |
toll, dieser Tanz ist wonderful"), hatte sich der Tanz "Made in Germany" | |
endgültig lächerlich gemacht. | |
Die DDR stellte nach einem Jahr die große Propagandapresse ab. Mit dem | |
"Orion" versuchten es Partei und FDJ später zwar noch einmal gegen den | |
Twist, doch mit geringerem Aufwand und gleichem Misserfolg. "Die | |
DDR-Politiker haben es immer wieder geschafft, sich der Solidarität der | |
Jugend zu entledigen", erklärt Lindner, "das fing mit solchen Sachen wie | |
dem Lipsi an, führte zu einer totalen Abwendung vom Staat und zum | |
Mauerfall." So hat der Tanz am Ende doch viel erreicht. | |
7 May 2009 | |
## AUTOREN | |
Jürn Kruse | |
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DDR | |
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