# taz.de -- Interview Europäisches Sozialsystem: "Wir brauchen den Druck der S… | |
> Der SPD-Politiker Jo Leinen und der Politikwissenschaftler Fritz W. | |
> Scharpf diskutieren über die Möglichkeiten einer EU-Sozialpolitik und die | |
> sozialpolitische Macht des EU-Gerichtshofs. | |
Bild: Fritz W. Scharpf: "Es ist normal, wenn Lohnkostenunterschiede genutzt wer… | |
taz: Eine der wichtigsten Forderungen der SPD im Europawahlkampf ist eine | |
gemeinsame EU-Sozialpolitik. Herr Leinen, haben die fünf Jahre seit der | |
Osterweiterung nicht gezeigt, wie groß gerade die sozialen Unterschiede in | |
der Union geworden sind? | |
Jo Leinen: Natürlich gibt es Unterschiede, doch es gibt auch eine | |
gemeinsame Grundlage: Alle 27 Nationen in der EU teilen dieselben Werte. | |
Wir haben eine über zweitausendjährige gemeinsame Geschichte, und die | |
Meinungen darüber, wie eine Gesellschaft funktionieren soll, sind nicht | |
allzu weit voneinander entfernt. Außerdem: Die Unterschiede zwischen den | |
Staaten werden kleiner. Das Lohngefälle von Polen und Tschechien zu uns war | |
1:15 vor 15 Jahren, 1:10 vor zehn Jahren und 1:5 vor fünf Jahren. Und wenn | |
Sie heute in Warschau oder Prag eine Arbeit annehmen, haben sie fast schon | |
Löhne wie bei uns - aber auch Preise wie bei uns. | |
Sind die Unterschiede in der Union wirklich so gering, Herr Scharpf? Im | |
Unterschied zu Herrn Leinen halten Sie eine EU-Sozialpolitik für | |
wünschenswert, aber unmöglich. | |
Fritz W. Scharpf: Ökonomisch gesehen haben die osteuropäischen Länder | |
tatsächlich aufgeholt. Das ist normal, wenn Lohnkostenunterschiede genutzt | |
werden können - auf Kosten der Länder mit höheren Lohnkosten. Und natürlich | |
stimmt es, dass es in Europa gemeinsame Traditionen und Werte gibt. Aber | |
die europäischen Staaten haben ihre Sozialpolitik national entwickelt und | |
dabei ganz unterschiedliche Strukturen und Niveaus durchgesetzt. Wenn man | |
etwa Großbritannien mit Schweden oder Dänemark vergleicht, zeigen sich so | |
radikal unterschiedliche Vorstellungen von dem, was der Staat tun soll, | |
dass eine gemeinsame europäische Sozialpolitik völlig ausgeschlossen ist. | |
Leinen: Aber durch die Finanz- und Wirtschaftskrise hat sich die Lage | |
grundsätzlich verändert. Inzwischen wird auch in Großbritannien anerkannt, | |
dass der Staat eingreifen muss. Natürlich haben wir unterschiedliche | |
Ausprägungen des Sozialstaats in den 27 Ländern. Aber die Grundprinzipien | |
sind überall gleich. Als die Idee der Währungsunion vor über 30 Jahren | |
geboren wurde, da schien auch sie völlig unrealistisch zu sein. Italien | |
hatte eine viel höhere Inflationsrate als Deutschland. Doch die | |
Währungsunion gelang, weil der Druck groß genug war. Und diesen Druck im | |
Kessel spüren wir nun auch bei den sozialen Sicherungssystemen. | |
Scharpf: Auf die Finanzkrise würde ich nicht hoffen. Der dramatische | |
Anstieg der Schuldenlast in den nationalen Haushalten könnte die EU | |
allenfalls veranlassen, die Verminderung von Soziallasten zu verlangen. Im | |
Übrigen ist der Druck im Kessel zum großen Teil durch die Politik der EU | |
selbst erzeugt worden. Die europäische Integration hat mit einer | |
Arbeitsteilung begonnen: Europa ist zuständig für die wirtschaftliche | |
Integration, die Mitgliedstaaten bleiben zuständig für die soziale | |
Integration. Die wirtschaftliche Integration ist zuerst durch den | |
Binnenmarkt und dann durch die Währungsunion vorangetrieben worden. Dies | |
hat die nationalen Sozialsysteme immer mehr unter Druck gesetzt. | |
Aber könnte eine EU-Sozialpolitik nicht den Druck aus dem Kessel nehmen? | |
Scharpf: Entweder macht die EU jetzt einen ganz großen Sprung nach vorne - | |
indem man die nationalen Sozialsysteme harmonisiert und durch ein | |
europäisches System ersetzt. Das erscheint politisch ausgeschlossen. Oder | |
man setzt Grenzen für die wirtschaftliche Integration. Durch die | |
Finanzkrise haben wir ja erkannt, wie schnell wirtschaftliche | |
Liberalisierung und Deregulierung in die Katastrophe führen können. Diese | |
Grenzen zu setzen ist wichtiger als dem utopischen Ziel einer gemeinsamen | |
Sozialpolitik für 27 Staaten nachzulaufen. | |
Die Forderung von Herrn Scharpf ist: Weil die EU die Sozialpolitik | |
vernachlässigt hat, muss man jetzt die Nationalstaaten stärken. | |
Leinen: Richtig ist, dass die Römischen Verträge vor über 50 Jahren die | |
Idee des Binnenmarktes im Auge hatten. Wer allerdings damals geglaubt | |
hatte, man könnte die Wirtschaft integrieren und die Sozialpolitik national | |
belassen, der saß einem großen Irrtum auf. Bereits in den Sechzigerjahren | |
ist die Europäische Gemeinschaft in der Sozialpolitik gesetzgeberisch tätig | |
geworden, um die Freizügigkeit der Arbeitnehmer abzusichern. | |
Was genau hat die EU denn geregelt? | |
Leinen: Inzwischen gibt es zahlreiche europäische Gesetze zum | |
Arbeitsschutz. Arbeitnehmer können ihre Pensionsansprüche mitnehmen, wenn | |
sie ihr Gastland wieder verlassen. Eingeführt wird die EU-Gesundheitskarte, | |
mit der man in dem Land, in dem man studiert oder arbeitet, zum Arzt gehen | |
kann, und es wird zu Hause bezahlt. Wer jetzt den Rückwärtsgang einlegen | |
und die Grenzen wieder hochziehen will, wird scheitern. Weil es nicht geht | |
und weil es auch nicht notwendig ist. | |
Scharpf: Die sozialrechtliche Gleichstellung der Wanderarbeiter ist ja noch | |
keine gemeinsame europäische Sozialpolitik. Bei den Verhandlungen über die | |
Römischen Verträge hat der französische Premierminister Guy Mollet in der | |
Tat gefordert, dass man zuerst die sozialen Systeme harmonisieren soll, ehe | |
man die Wirtschaft integriert. Man hat sich dann zwar auf eine gemeinsame | |
Agrarpolitik verständigt, aber eine gemeinsame Sozialpolitik hat | |
Bundeskanzler Adenauer den Franzosen ausgeredet, weil er meinte, die | |
europäischen Sozialmodelle seien sich so ähnlich, dass man eine | |
Harmonisierung nicht brauche. Das traf für die ursprünglichen sechs | |
Mitgliedstaaten ja auch zu. | |
Herr Leinen, wie könnte eine gemeinsame EU-Sozialpolitik aussehen? Die SPD | |
hat erst kürzlich mit den Gewerkschaften ein Positionspapier dazu | |
vorgestellt. | |
Leinen: Wir wollen, dass die Europa-Verträge eine soziale | |
Fortschrittsklausel enthalten. In einem solchen Sozialprotokoll muss der | |
Grundsatz verankert werden, dass die sozialen Grundrechte Vorrang vor den | |
wirtschaftlichen Grundfreiheiten im Binnenmarkt haben. Das heißt, die | |
Niederlassungsfreiheit darf nicht zur Aushebelung des Streikrechts oder der | |
Tarifverträge missbraucht werden. Eine Vertragsänderung ist aber nicht die | |
leichteste Übung, wie man am Lissabon-Vertrag sehen kann. Wir haben daher | |
eine zweite Idee, die schneller umgesetzt werden kann: die Änderung der | |
Entsenderichtlinie von 1996. Denn die ist offensichtlich falsch | |
interpretiert worden. So hat der Europäische Gerichtshof den Minimalschutz | |
in einen Maximalschutz umgekehrt … | |
… Sie meinen in einen Maximalschutz des Arbeitgebers … | |
Ja. Das heißt, tarifvertraglich abgesicherte Zusatzleistungen und andere | |
Vergünstigungen müssten nicht zugestanden werden. Das war überhaupt nicht | |
so gedacht. Schon in den Neunzigerjahren mit Blick auf die Erweiterung | |
durch die neuen Länder sollte der Grundsatz gelten: "Gleicher Lohn für | |
gleiche Arbeit." Daher sind die Urteile des EuGH nicht zu akzeptieren. | |
Könnte so die von Ihnen geforderte Begrenzung der wirtschaftlichen | |
Integration aussehen, Herr Scharpf? | |
Scharpf: Es ist sehr zu begrüßen, dass die Sozialdemokraten und auch die | |
Gewerkschaften endlich mit ihrer undifferenzierten Europabegeisterung | |
aufhören und zur Kenntnis nehmen, wie stark die europäische Rechtssprechung | |
das Liberalisierungsprojekt der EU in Bereichen vorangetrieben hat, in | |
denen die Herrschaft des Marktes von der Politik nie gewollt worden war. | |
Die soziale Fortschrittsklausel ist für mich aber nicht viel mehr als eine | |
Defensivmaßnahme, die den Richtern am EuGH signalisieren soll: "Seid | |
vorsichtig, wenn Ihr in die nationalen sozialen Sicherungssysteme | |
interveniert." Das ist begrüßenswert. Aber das ist noch keine europäische | |
Sozialpolitik und die Frage war ja, was stellen Sie sich als Gegenstand | |
einer europäischen Sozialpolitik vor. | |
Leinen: In der SPD haben wir seit Jahren über die Frage nachgedacht: Wie | |
kann mit Blick auf die Osterweiterung in der EU der wirtschaftliche und | |
soziale Zusammenhalt garantiert werden? Wir wollen - entsprechend dem | |
monetären Stabilitätspakt - jetzt einen sozialen Stabilitätspakt. Es muss | |
eine EU-Vereinbarung durchgesetzt werden, dass jeder Mitgliedstaat | |
entsprechend seiner Wirtschaftskraft einen Sockelbetrag für soziale | |
Leistungen wie für Bildungsmaßnahmen bereitstellen muss. | |
Einen solchen sozialen Stabilitätspakt haben Sie, Herr Scharpf, in Ihrem | |
Buch "Regieren in Europa" gefordert. Das war vor zehn Jahren. Doch erst | |
jetzt wird diese Forderung von der Sozialdemokratie aufgegriffen. | |
Scharpf: Tatsächlich ist in den vergangenen zehn Jahren hier praktisch | |
nichts passiert. Weil auch bei Ländern auf der gleichen ökonomischen | |
Entwicklungsstufe die Sozialquote enorm unterschiedlich ist. In Schweden | |
zum Beispiel liegt sie bei deutlich über 30 Prozent, in England kaum über | |
20 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Deswegen kommt man vermutlich auf | |
diesem Weg nicht weiter. Stattdessen sollte man jetzt darüber nachdenken, | |
bei welchen sozialen Themen sich die Europäer einig werden können - trotz | |
aller unterschiedlichen Strukturen. | |
Könnte ein europaweiter Mindestlohn so ein Thema sein? | |
Scharpf: Ja, aber hier ist die Diskussion lange falsch geführt worden. Die | |
Gewerkschaften strebten einen einheitlichen Mindestlohn für alle 27 | |
Mitgliedstaaten an. Das war offensichtlich nicht konsensfähig. Dagegen wäre | |
eine europäische Einigung auf relative Standards nicht von vornherein | |
ausgeschlossen. Diese könnten einen einheitlichen Prozentsatz des | |
Durchschnittslohns eines jeden einzelnen Landes als Mindestlohn festlegen. | |
Das wäre ein ungeheurer Fortschritt. | |
Leinen: Sie haben recht. Wir werden nicht einen Sozialstaat im | |
herkömmlichen Sinne organisieren können, weil die Sozialkassen nationale | |
Kassen sind, die kann man gar nicht europäisieren. Die Rentenversicherung | |
ist national organisiert, die Krankenversicherung oder die | |
Arbeitslosenversicherung. Was wir auf europäischer Ebene leisten können, | |
ist die Vereinbarung von Mindeststandards. Das hat das Europaparlament zum | |
Beispiel bei den privaten Pensionsfonds gemacht. Hier gibt es europaweit | |
einheitliche Vorgaben, in welche Risikoanlagen investiert werden darf. | |
Die EU-Bürger sind mit der Harmonisierung von Standards aber nicht immer | |
einverstanden. Zum Beispiel bei der Dienstleistungsrichtlinie. | |
Leinen: Die wichtigste Entscheidung in dieser Legislaturperiode des | |
Europaparlaments war tatsächlich die Dienstleistungsrichtlinie. Grundlage | |
war der Vorschlag von EU-Kommissar Bolkestein mit einem neoliberalen | |
Ansatz: Es sollte das Herkunftslandprinzip gelten, das heißt, eine | |
polnische Firma hätte nach polnischen Regeln in Deutschland arbeiten | |
dürfen. Dank einer europaweiten öffentlichen Mobilisierung durch den | |
Europäischen Gewerkschaftsbund haben die Sozialdemokraten im Europäischen | |
Parlament eine Mehrheit zustande gebracht, um das Herkunftslandprinzip | |
durch das Ziellandprinzip zu ersetzen. Arbeit muss also nach den Regeln des | |
Landes verrichtet werden, in dem diese Arbeit stattfindet. Das heißt, im | |
europäischen Binnenmarkt muss die jeweilige nationale Sozialordnung | |
respektiert werden. Das war ein strategischer Sieg gegen die neoliberale | |
Ideologie des Laissez-faire und des ungezügelten Preiswettbewerbs. | |
Scharpf: Das Europaparlament hat das Herkunftslandprinzip zwar aus der | |
Dienstleistungsrichtlinie gestrichen, doch der Europäische Gerichtshof ist | |
bei seiner Rechtsprechung dem nicht gefolgt. | |
Leinen: Da haben Sie recht. Hier gibt es einen Rückschritt, eine negative | |
Überraschung, weil durch Richterurteile der politische Wille konterkariert | |
wird. | |
Herr Scharpf, kann die Politik die Richter stoppen? | |
Scharpf: Das Richterrecht ist vor politischen Korrekturen in der EU | |
sicherer als in jedem Nationalstaat. Dort, wo die Richter sich auf die | |
europäischen Verträge stützen, wäre eine Vertragsänderung nötig. Und auch | |
die Interpretation des einfachen Europarechts, etwa der Entsenderichtlinie, | |
kann nur korrigiert werden, wenn die Kommission eine Initiative vorlegt, | |
und wenn dann eine absolute Mehrheit im Parlament und eine | |
Zweidrittelmehrheit im Ministerrat dieser zustimmen. Diese Hürden sind zu | |
hoch. Gegen Urteile des EuGH, die die Abgrenzung zwischen europäischen und | |
nationalen Zuständigkeiten betreffen, sollte deshalb eine Berufung an den | |
Europäischen Rat zugelassen werden. | |
Leinen: Ich würde den EuGH nicht in dieser Weise abqualifizieren. Wir als | |
Politiker haben die Möglichkeit, die juristische Basis klarzustellen und zu | |
verändern. In den Verträgen wie in den Gesetzen gibt es zu viele Lücken. | |
Das müssen wir korrigieren, das wollen wir korrigieren. Das von uns | |
vorgeschlagene Sozialprotokoll könnte bereits Teil des nächsten | |
Europa-Vertrags werden. Das wird der Beitrittsvertrag mit Kroatien sein, | |
und der steht 2010 an. Wir brauchen allerdings eine öffentliche Debatte, | |
wir brauchen auch den Druck der Straße. Eine fortschrittliche Sozialpolitik | |
braucht Rückenwind, um sich gegen den zu erwartenden Widerstand der | |
Wirtschaft und der Konservativen durchzusetzen. | |
Scharpf: Die Vorstellungen von dem, was der Staat tun soll, sind so radikal | |
unterschiedlich, dass eine gemeinsame europäische Sozialpolitik völlig | |
ausgeschlossen ist. | |
INTERVIEW: SABINE HERRE | |
2 Jun 2009 | |
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Spanien | |
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