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# taz.de -- Europas Sozialdemokraten in der Krise: War es das mit links?
> Selten ging es für Sozialdemokraten so mies aus wie an diesem Sonntag bei
> der Europawahl. Für diesen historischen Absturz gibt es drei Gründe.
Bild: "Mehr SPD für Europa" wollte die SPD - die Wähler wollen lieber etwas w…
Man fragt sich: War's das mit links? Seitdem die sozialdemokratischen und
sozialistischen Parteien vor rund hundert Jahren überall in Europa das
allgemeine, gleiche Wahlrecht durchgesetzt haben, sah es bei Wahlen selten
so zappenduster für sie aus wie am vergangenen Sonntag.
Fast überall gab es für sie ein Monsterminus - in Deutschland, Österreich,
Frankreich, Großbritannien, Italien, in den Niederlanden. Rechtspopulisten
und Protestparteien schlossen zu den Sozialdemokratien auf, da und dort
überholten sie sie sogar. Kaum wo übersprangen die Mitte-Links-Parteien die
20-Prozent-Marke wesentlich.
Und was auch in dieses Bild gehört: Die "linkeren" Linksparteien, wie etwa
die deutsche "Linke", sind selten die Nutznießer des Niedergangs. Allein
die Grünen gewinnen fast durchweg, in Frankreich mit Frontmann Dany
Cohn-Bendit sogar spektakulär. In Dänemark konnte die links-grüne
Sozialistische Volkspartei sogar im Protestmilieu zulegen.
Gewiss, das Bild ist nicht völlig einheitlich: In Griechenland gingen die
Sozialdemokraten als Sieger aus den Wahlen hervor, in Spanien rutschten sie
zwar auf Platz zwei ab, halten aber immer noch bei 38 Prozent der Stimmen.
Vor knapp zehn Jahren sah es noch ganz anders aus: Es herrschte
dot.com-Boom, Wirtschaftsanalytiker glaubten, es wäre endlich die Formel
für die krisenfreie Ökonomie entdeckt und Europa war fest in der Hand
"modernisierter" Sozialdemokraten. Von den damals 15 EU-Staaten waren elf
sozialdemokratisch regiert, mit Tony Blair, Gerhard Schröder, Lionel
Jospin, Romano Prodi und Göran Persson stellten die Mitte-Links-Parteien in
Europa die politischen Zentralfiguren, die auch habituell so etwas wie
Leit-Typen waren. Aber das ist lange vorbei.
Warum aber jetzt so ein Absturz? Dafür gibt es im Wesentlichen drei Gründe.
Zum Ersten ist das Folge gerade der "Modernisierung", der die
sozialdemokratischen Parteien in den vergangenen zehn Jahren unterzogen
wurden. Flexibilisierung der Arbeitswelt, das Loblied auf die Effizienz
freier Märkte und auf den schlanken Staat haben sich auch die
Sozialdemokraten antrainiert.
Ihr Führungspersonal versuchte "modern" zu wirken, und das war gestisch oft
nicht mehr vom Habitus der globalen "Winner Classes" zu unterscheiden. Weil
die Manager Leitfiguren waren, wollten sozialdemokratische Politiker gerne
"Manager der Politik" sein. Und das war nicht nur Gestik: Sozialdemokratien
"verschlankten" den Sozialstaat, oder, weniger euphemistisch gesagt, boxten
Hartz-IV durch und herrschten die Loser mit ihren Parolen vom "Fordern und
Fördern" an. In ihrer Außendarstellung setzten sie lieber auf
Werbeagenturen als auf den Aktivismus ihrer altväterlichen Parteigänger.
Die Wirtschaftskrise verschlägt deshalb gerade den Sozialdemokraten die
Sprache. Plötzlich scheint alles, was sie in den vergangenen zehn Jahren
verzapften als hohl, aber sie können deshalb ja auch nicht zum Jargon der
Vor-Modernisierungs-Sozialdemokratie zurückkehren. In der Praxis versuchen
sie es ein bisschen, was sie erst recht unglaubwürdig macht. Konzise Idee
haben sie ohnehin keine. Und das spüren die Leute.
Natürlich gibt es in jedem Fall lokale Spezifika: Nach mehr als 12 Jahren
Labour-Regierung ist die britische Sozialdemokratie innerlich aufgezehrt,
der tapsige Premier Gordon Brown tut das seinige noch dazu. Die
französischen Sozialisten sind ein chronisch zerstrittener Haufen.
Österreichs SPÖ ein Trauerspiel. Aber diese sind nicht nur Fälle für sich,
sondern fügen sich in einen allgemeineren, strukturellen Zusammenhang.
Es gibt, dies ist die zweite Spur, einen Zusammenhang zwischen der
Wirtschaftskrise und dem Niedergang der Sozialdemokratie. Das Kernmilieu
der klassischen sozialdemokratischen Stammwähler - ohnehin ein
schrumpfendes Biotop - wählt diese Partei traditionell, weil es sich von
ihr etwas erhofft, und zwar oft weniger im allgemeinen, als sehr
persönlich: sicherere Jobs, höhere Löhne, ein belastbares soziales Netz für
den Notfall.
Im Moment haben diese potentiellen Wähler aber einfach nicht das Gefühl,
dass die Sozialdemokraten irgendetwas für sie tun können. Der Wähler weiß
in aller Regel: verliert er seinen Job, sind die Sozialdemokraten zwar
nicht daran schuld, sie werden daran aber auch nichts ändern, sofern er
nicht bei einer großen Autofirma arbeitet. Er kann an einer Stimmabgabe für
die Sozialdemokratie daher kaum etwas Nützliches erkennen.
Er wendet sich deshalb möglicherweise nicht einmal empört oder sonst wie
erschüttert von der Partei ab. Er geht einfach nicht wählen. Bei
Europawahlen, deren unmittelbarer Sinn sich nicht so leicht erschließt,
erst recht. Man soll deshalb auch nicht unbedingt in Superlative verfallen.
Europawahlen sind Europawahlen.
Das dritte Element zur Erklärung dieses Wahlausganges ist die
Legitimationskrise des europäischen Einigungsprozesses als solches. Es hat
sich offenbar in weiten Kreisen durchgesetzt, dass Europa ein Elitenprojekt
sei. Die Mahnungen sozialdemokratischer Politiker, die Europäische Union
müsse "sozialer" werden, bestärkt nur die Gewissheit, dass die Union heute
eben "unsozial" ist.
Diese Anti-Europa-Stimmung können die Sozialdemokraten aber unmöglich in
Wählerstimmen verwandeln. Während jene, die sich wesentlich als
proeuropäisch sehen, für liberale Christdemokraten und zunehmend für die
Grünen stimmen, wird der Sozialprotest von Anti-Eliten-Parteien eingesackt,
die oft, aber nicht immer sehr weit rechts stehen. Die Sozialdemokraten
lavieren dazwischen und werden aufgerieben.
Bei allen lokalen Eigenheiten gibt es heute einen pathologischen
"Internationalismus", etwas, was die zeitgenössischen Sozialdemokraten in
Europa eint: Man weiß nicht, wofür sie stehen, weil sie nicht wissen, wofür
sie stehen sollen. Die neoliberal gefärbte Modernisierungsideologie
funktioniert nicht mehr, eine andere Idee haben sie aber nicht zur Hand.
Sie sind unfähig, eine neue zu entwickeln, auch weil sie intellektuell
ausgezehrt sind.
Nicht zuletzt personell: Als Apparatpartei ist ihre Personalrekrutierung
seit sehr langer Zeit schon eine Negativauslese. Noch gibt es zwanzig
Prozent, die sie trotzdem wählen. Wären sie auf den Anteil derer
angewiesen, die sie nicht trotz ihrer Politik, sondern wegen ihrer Politik
wählen, die Fünf-Prozent-Marke wäre wohl eine ernste Hürde.
9 Jun 2009
## AUTOREN
Robert Misik
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