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# taz.de -- Sport in der Schule: Angst vorm Schwitzen
> Die Annahme von einem natürlichen Bewegungsdrang ist passé. Weil Kinder
> ihre Neugier anderswo stillen, sind besondere Sportpädagogen gefragt.
Bild: Dietrich Kurz, Professor für Sportwissenschaft an der Universität Biele…
"Wie soll das denn gehen?" Die meisten der gut 30 Männer und Frauen in der
Sporthalle können sich nicht vorstellen, dass funktioniert, was der
Übungsleiter von ihnen will. Paarweise sollen sie sich ein paar Meter
voneinander entfernt aufstellen. Sie halten eine Gardinenstange von etwa
einem Meter Länge, die sie mit beiden Händen an den Enden greifen. Mit der
Stange sollen sie sich einen Gymnastikball gegenseitig zuspielen. Das
klappt zunächst gar nicht. Irgendwann funktioniert es dann doch ganz gut.
"Jetzt machen wir das Gleiche mit einem Tennisball", sagt der Übungsleiter.
"Also irgendwann ist wirklich mal gut", sagt eine drahtige Frau um die 50.
Als ihr und ihrem Partner die Übung endlich gelingt, lächelt sie und will
gar nicht mehr aufhören. "Das sind Erfolgserlebnisse, die motivieren", sagt
Rainer Voigt nach der Übungsstunde. Er ist Sportlehrer an einer Berliner
Hauptschule. An diesem Tag hat er einen Workshop zur Lehrerfortbildung
geleitet, den der Landessportbund für Grundschullehrer organisiert hat.
Thema: Koordinationstraining.
Der Sportunterricht an den Grundschulen hat nicht den besten Ruf. Das liegt
vor allem daran, dass der im Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB)
organisierte Sport gegen deren Bewegungsangebot wettert: Zu wenig
ausgebildete Sportlehrer arbeiteten in der Primärstufe des Schulsystems.
Mehr als die Hälfte des Sportunterrichts an Grundschulen werde von
"fachfremden Lehrkräften" gestaltet, so steht es in der Schulsportstudie,
die der DOSB 2006 vorgestellt hat. "Kein Wunder", sagt dazu Susann Werner,
die die Workshops organisiert hat, "das liegt am Klassenlehrerprinzip. Das
heißt aber noch lange nicht, dass die Lehrer schlechten Sportunterricht
machen." Zwar kennt auch sie Berichte über Lehrer, die Schüler sinnlos
Runde um Runde laufen lassen. Doch die große Nachfrage nach Fortbildungen
zeige, dass das Fach Sport auch von den "normalen Klassenlehrern" ernst
genommen wird.
Dabei geht es schon lange nicht mehr um Übungen am Reck. Es geht um
Bewegungskompetenz. Dietrich Kurz, Professor für Sportwissenschaft an der
Universität Bielefeld, versucht, den 300 Workshopteilnehmern in Berlin zu
erklären, warum so viele Kinder Bewegungsmuffel sind. "Früher haben wir
geglaubt", sagt er, "dass es einen natürlichen Bewegungsdrang bei Kindern
gibt. Heute gehen wir davon aus, dass es nur so etwas wie eine natürliche
Neugier gibt." Und während die Neugier früher auf dem Schulweg, beim
Spielen und Toben im Freien gestillt worden sei, reiche dafür heute ein
Computerspiel aus.
Die Folge: Lehrer an Grundschulen müssen Sportunterricht für eine überaus
heterogene Gruppe von Kindern anbieten. Kurz hat eine Querschnittstudie in
Nordrhein-Westfalen betreut, aus der unter anderem hervorgeht, dass 7
Prozent der Kinder, die am Beginn der fünften Klasse stehen, so gut wie gar
nicht mit einem Ball umgehen können. Sie können weder Werfen und Fangen,
beherrschen das Dribbeln mit der Hand nicht und können sich einen Ball auch
nicht mit dem Fuß zupassen. In Großstädten und dort in Gegenden, in denen
vor allem sozial Schwächere leben, ist der Anteil derjenigen, denen
bestimmte Bewegungskompetenzen fehlen, noch weitaus höher. "Diesem Problem
müssen wir uns stellen", redet Kurz den Grundschullehrern ins Gewissen:
"Das ist unsere Aufgabe." Kurz spricht davon, dass man allen Kindern die
Möglichkeit der "sozialen Teilhabe" geben müsse. Wo Förderbedarf gesehen
werde, müsse individuell auf jeden Schüler eingegangen werden.
Dass das nicht einfach ist, bei zwei bis drei Sportstunden in der Wochen
schier unmöglich, weiß Kurz. Er hat aber eine einfache Idee. "Geben Sie den
Kindern doch auch einmal Hausaufgaben im Sport auf!", rät er. Und in
Elterngesprächen müsse man doch nicht zwingend nur über das Lesen,
Schreiben und Rechnen sprechen. Kurz: "Sagen Sie den Eltern einfach mal,
welche Probleme die Kinder im Sportunterricht erkannt haben, auch wenn die
sich erst einmal gar nicht dafür interessieren." Der Sport hat es nicht
selten schwer in der Konkurrenz mit den kognitiven Fächern.
Auch der Umbau der Bildungslandschaft mit einem vermehrten Angebot an
Ganztagsschulen und dem Abitur nach zwölf Schuljahren machen den
Sportwissenschaftlern Sorge. Für Training am Nachmittag in einem
Sportverein bleibt oft keine Zeit mehr. Der DOSB wirbt für eine verstärkte
Zusammenarbeit der Sportvereine mit den Schulen. Kurz verzieht bei diesem
Thema das Gesicht: "Wenn die nur mehr allgemeine Bewegungsangebote hätten."
Die meisten Klubs engagieren sich vor allem deshalb an den Schulen, weil
sie Nachwuchs für ihre Sportarten rekrutieren wollen. Es geht aber um
sinnvolle "Bewegungsangebote". Das sieht auch Nils Neuber, Professor für
Sportwissenschaft an der Uni Münster so. Er beschäftigt sich seit drei
Jahren mit den Chancen des Sportunterrichts an Ganztagsschulen. Neuber
warnt vor einer "Abbildpädagogik, die wettkampfsportliche Standards eins zu
eins auf die Schule überträgt".
"Da hat sich sowieso einiges geändert", sagt Rainer Voigt, der die
Grundschullehrer in seinem Workshop mit immer neuen Koordinationsübungen
überrascht. "Wenn es schönes Wetter ist und du sagst zu den Jungs: Wir
gehen raus und spielen Fußball, dann winken die nur ab. Es könnte ja sein,
dass sie ins Schwitzen kommen." Auch an der Hauptschule, an der er
unterrichtet, geht es darum, die Kinder erst einmal in Bewegung zu bringen.
"Dass ich nicht eine dreiviertel Stunde lang Bälle mit dem Joghurtbecher
auffangen lassen kann, ist auch klar." Voigt spielt auf eine seiner
Koordinationsübungen an, die er eben vorgeführt hat.
Die Lehrer haben sich da bei jeder Übung gefragt, wie die Kinder reagieren
würden. "Wenn den Schülern die Bälle verspringen, dann herrscht doch nur
noch Chaos in der Halle", meint eine. Ein anderer hält die Übung mit den
Stöcken für nicht tauglich: "Die gehen sofort damit aufeinander los und
spielen Kung-Fu." Ein Lehrer, der in Berlin-Moabit fast reine
Migrantenklassen unterrichtet, hat dagegen mit den Stangen gute Erfahrungen
gemacht. Er ist als Musiklehrer ausgebildet. "Ich finde es sogar einen
Vorteil, dass ich kein Sportlehrer bin", sagt er. "Ich kann
unvoreingenommen in die Stunden gehen." Er lässt, so erzählt er, auch mal
einen Kasten aufbauen und beobachtet einfach, wie sich die Kinder darüber
hinwegbewegen. Wie, ist ihm nicht so wichtig. Hauptsache, sie bewegen sich.
23 Jun 2009
## AUTOREN
Andreas Rüttenauer
## TAGS
Grundschule
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