# taz.de -- Tagebuch einer Bahnreise: "Wie wisch ju ä pläsent Johnny" | |
> Neue Bekanntschaften schließt man während einer Bahnfahrt leicht, | |
> besonders, wenn diese mehrere Tage dauert. Ein Tagebuch über das Leben | |
> auf der Schiene. | |
Bild: Beim Bahnfahren lernt man viele nette Leute kennen. | |
Sonntag | |
Liebes Tagebuch, | |
ich schreibe Dir heute aus dem Reisezentrum der Deutschen Bahn. Ich habe | |
grade viel Zeit zu schreiben, denn ich will mir einen Fahrschein kaufen. | |
Die circa 500 anderen Leute, die außer mir hier sind, wollen das ebenfalls, | |
drum habe ich mir, um die Wartezeit zu überbrücken, ein bisschen Arbeit und | |
was zu lesen mitgebracht: "Harry Potter", Band 1-7. | |
Die Deutsche Bahn hat schon wieder ein neues Preissystem. Wenn man seinen | |
Fahrschein z. B. drei Tage vor Abfahrt des Zuges bucht, kostet er weniger. | |
Ich bin deshalb schon seit vorgestern hier. Leider bin ich seitdem noch | |
nicht an die Reihe gekommen, aber dafür kenne ich die meisten anderen hier | |
schon mit Vornamen. Mit einigen bin ich inzwischen gut befreundet. Ab und | |
zu lade ich sie in mein Zelt ein, und wir kochen uns was Leckeres auf | |
meinem Campigkocher. Ich hoffe, mein Konservenvorrat reicht noch bis | |
nächsten Dienstag, da fährt nämlich mein Zug. | |
Nächster Dienstag | |
(früher Morgen:) | |
Liebes Tagebuch, | |
es könnte sein, dass ich heute doch noch rechtzeitig drankomme. Sie haben | |
nämlich einen zweiten Schalter aufgemacht. So kriege ich zwar keinen | |
supergünstigen Frühbucher-Sparpreis mehr, dafür aber vielleicht - und das | |
ist ja auch nicht schlecht - meinen Zug. | |
(früher Nachmittag:) | |
Liebes Tagebuch, | |
der Bahnbedienstete am Schalter hat mir meinen Fahrschein netterweise doch | |
zum supergünstigen Frühbucher-Sparpreis verkauft. Mein Zug hat nämlich | |
schätzungsweise drei Tage Verspätung. Zum Glück, denn vom gesparten Geld | |
kann ich meinen Konservenvorrat wieder auffrischen. | |
Freitag | |
Liebes Tagebuch, | |
als ich vorhin in den Zug eingestiegen bin, haben mir alle vom Bahnsteig | |
gewunken. Es war herzzerreißend, aber es ist tröstlich zu wissen, dass ich | |
sie bei meiner Rückkehr in zwei Wochen eh fast alle wiedersehen werde. Mein | |
Zelt habe ich einem armen Geschäftsmann geschenkt, der versucht hatte, sich | |
seinen Fahrschein am Automaten zu lösen. | |
Der ICE, mit dem ich jetzt fahre, ist sehr voll, doch ich habe einen | |
Stehplatz vor dem Klo ergattern können. Hier kann ich mich schön anlehnen, | |
zumindest solange die Klotür sich nicht öffnet. Aber die fünf Leute, die | |
drin sind, kommen eh selten nach draußen; es sei denn, es muss mal jemand | |
aufs Klo. | |
Samstag | |
Liebes Tagebuch, | |
wegen der maroden Gleise fährt der Zug langsamer, als er eigentlich könnte. | |
Das macht aber nichts. So können wir in aller Ruhe die malerische | |
Landschaft genießen. Das Wetter ist traumhaft, und es sind viele | |
Fahrradfahrer unterwegs. Sie winken uns immer fröhlich zu, wenn sie an uns | |
vorbeifahren. | |
Vor jedem Bahnhof gibt der Zugchef über Lautsprecher die Anschlusszüge der | |
letzten paar Monate durch, die wir auch fast alle noch erreichen. Er | |
wünscht allen Fahrgästen, die aussteigen, zum Abschied noch einen schönen | |
Tag und bedankt sich bei ihnen für das Reisen mit der Deutschen Bahn. Aber | |
aussteigen tut eigentlich kaum jemand, denn dazu sind ja nur die in der | |
Lage, die einen Stehplatz in unmittelbarer Nähe zu einer Tür ergattert | |
haben - und das sind ja meistens die, die grade erst eingestiegen sind. | |
Anschließend übersetzt der Zugchef seine gesamte Durchsage immer nochmal | |
auf Englisch. Schließlich war der ICE der "official transport partner" für | |
die Fußball-Europameisterschaft vom letzten Jahr. Für die hatte sich | |
England zwar gar nicht qualifiziert, für die Weltmeisterschaft 2006 aber | |
schon. Und tatsächlich, hier an Bord befinden sich noch einige | |
Endspielbesucher, die damals in Berlin zugestiegen sind. Unter ihnen sind | |
auch ein paar Engländer, sie verstehen aber kein Wort von dem, was der | |
Zugchef sagt. Er sagt nämlich Sätze wie "Szänk ju foa träwelling wis | |
Deutsche Bahn" oder "Wie wisch ju ä pläsent Johnny". | |
Neben mir steht ein Engländer, der Johnny heißt. Er freut sich jedes Mal, | |
auch wenn er den Rest der Ansage nicht versteht, über die persönliche | |
Begrüßung. Dies sei in England nicht so, erklärt er mir. Er fange an, | |
Deutschland immer mehr zu mögen. Er könne sich sogar vorstellen, hier zu | |
leben, zumal eh nicht klar sei, ob er seine Heimat jemals wiedersehen | |
werde. | |
Der Zugchef macht schon wieder eine Durchsage. Diesmal möchte er uns auf | |
den gastronomischen Service an Bord des Zuges aufmerksam machen und | |
empfiehlt uns ein paar Gerichte von der Speisekarte, die für uns im | |
Speisewagen vom freundlichen Service-Team aufgetaut werden, z. B. ein | |
Croissant mit Butter und Honig für 7,90 Euro. Das hört sich verlockend an, | |
aber die meisten Passagiere haben eh nur D-Mark dabei, und zum Speisewagen | |
zu gelangen ist sowieso unmöglich, denn hier ist absolut kein Durchkommen. | |
Auch nicht für den Schaffner, deshalb erleichtern wir ihm die Arbeit und | |
kontrollieren unsere Fahrscheine gegenseitig. Hin und wieder brauchen wir | |
ihn aber doch, wenn es darum geht, Fahrscheine für die Passagiere | |
nachzulösen, die seit der Abfahrt des Zuges hier geboren wurden. | |
Montag | |
Liebes Tagebuch, | |
der Zug ist vorhin mitten in der Nacht wieder mal auf offener Strecke | |
stehen geblieben. | |
Der Zugchef hat gerade über Lautsprecher durchgegeben, die Ursache für die | |
kleine Verzögerung im Betriebsablauf sei diesmal kein überraschend | |
eingetretener Lokführerstreik, sondern ein brennender Triebwagen. | |
Um der ansteigenden Hitze im Inneren des Zuges entgegenzuwirken, werden vom | |
freundlichen Service-Team gekühlte Getränke verteilt. Leider ist nur noch | |
Kaffee da. Immerhin. | |
Der Strom ist grade ausgefallen. Doch der Flammenschein spendet genügend | |
Licht, so dass ich Dir diese Zeilen noch schreiben kann: | |
Liebes Tagebuch, ich bin so froh, dass ich nicht mit dem Auto gefahren bin. | |
Ich hätte sonst nie so viele liebe, nette Menschen kennen gelernt. Selten | |
erlebe ich eine Reise so bewusst, intensiv und naturverbunden. Schön, dass | |
es in dieser schnelllebigen Zeit noch so etwas gibt wie die Deutsche Bahn. | |
31 Jul 2009 | |
## AUTOREN | |
Bodo Wartke | |
## TAGS | |
Kabarett | |
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