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# taz.de -- Indiens Schulsystem wird generalüberholt: Wohlstandsgefälle bleib…
> Auch nach Einführung der Schulpflicht sind viele Fragen offen. Die
> Hauptprobleme Kinderarbeit und Wohlstandsgefälle bleiben weiter bestehen.
Bild: Die rund 17 Millionen Straßenkinderarbeiter in Indien besuchen bisher fa…
DELHI taz | Zigtausende Autos, Busse, Motor- und Fahrräder drängeln den
ganzen Tag lang lärmend über die breite Hauptverkehrsader im Zentrum von
Delhi. Vor einer großen Straßenüberführung direkt neben einem der
wohlhabendsten Viertel der Stadt gehen Straßenkinder im Stau von Auto zu
Auto und halten teure Hochglanzmagazine in die Höhe. Es ist beinahe 40 Grad
heiß, die staubige Luft ist durchsetzt von beißendem Abgasgeruch. Die
meisten Autopassagiere, viele sind mit dem eigenen Fahrer unterwegs,
schauen gelangweilt weg.
Diese Szene im Zentrum der indischen Hauptstadt verdeutlicht, wie
frappierend die Armut in dem 1,2-Milliarden-Einwohner-Land immer noch ist.
Von einem geregelten Schulalltag, wie ihn in Europa jedes Kind kennt, sind
Delhis Straßenkinder unendlich weit entfernt. Doch nun hat das Unterhaus
des indischen Parlaments in der vergangenen Woche ein neues Gesetz
verabschiedet, nach dem alle Kinder im Alter von 6 bis 14 Jahren die Schule
besuchen sollen. Die Schulpflicht gilt ab spätestens 2012.
Vor allem die Bundesstaaten werden in die Pflicht genommen, in den Bau
sogenannter Nachbarschaftsschulen zu investieren. Die bisher gültige Praxis
von Auswahlverfahren und - häufig illegalen - Aufnahmegebühren an
staatlichen Schulen wird untersagt. Privatschulen sollen ein Viertel ihrer
Schulplätze Kindern aus benachteiligten Familien zur Verfügung stellen.
Die Gesetzesinitiative geht auf das Jahr 2002 zurück. Damals schrieb die
Regierung in einer Verfassungsänderung das Recht auf Bildung fest.
Umgesetzt werden sollte es innerhalb eines "Zeitraums von zehn Jahren".
Doch viel zu lange, schreibt P. Radhakrishnan, Professor am Institut für
Entwicklungsstudien an der Universität Chennai, habe die Politik viel zu
wenig für die Bildung getan: "Diese grobe Vernachlässigung erklärt Indiens
Rückständigkeit in Sachen Bildung." Vor diesem Hintergrund sei die
Einführung des Gesetzes "von großer nationaler Wichtigkeit".
Ein Drittel der Bevölkerung Indiens ist unter 18 Jahre alt - das sind rund
400 Millionen Menschen. Von diesen besuchen offiziell 5 bis 12 Millionen
überhaupt keine Schule, Menschenrechtsorganisationen gehen davon aus, dass
es mehr als 30 Millionen sind. Dennoch hat sich in den vergangenen zehn
Jahren bereits einiges getan: Dank der Arbeit von Hilfsorganisationen und
Bildungsinitiativen einzelner Bundesstaaten werden heute neun von zehn
Kindern eingeschult, schreibt die Weltbank in einem Bericht.
Doch jedes zweite Kind scheidet wieder aus der Schule aus, bevor es die
fünfte Klasse erreicht. Vier von zehn Erwachsenen können weder lesen noch
schreiben. Daher liegt Indien im aktuellen Education for All Development
Index der Organisation der Vereinten Nationen für Erziehung, Wissenschaft
und Kultur (Unesco) unter insgesamt 129 Staaten auf dem 102. Platz, hinter
Nicaragua und Kenia. Danach folgen nur noch die ärmsten Staaten
Zentralafrikas. Der Index bewertet die Verbreitung und die Qualität von
primärer Schulbildung, das Geschlechtergleichgewicht und die
Alphabetisierungsrate bei Erwachsenen.
Das neue Gesetz setzt zu einer Generalüberholung des Schulsystems an.
Bislang gehört es an den staatlichen Schulen zum Alltag, dass Schulklassen
überfüllt und die Lehrer schlecht ausgebildet sind und häufig fehlen. Ein
Viertel aller Unterrichtsstunden ist laut einem Bericht der Weltbank im
Jahr 2004 ausgefallen.
Daher sollen Beamte in Zukunft kontrollieren, dass keine Kinder von Schulen
abgewiesen werden und Lehrer zur Arbeit erscheinen. Die bislang mit
autokratischen Befugnissen ausgestatteten Schulleiter werden weitgehend
entmachtet: Sie dürfen nicht mehr über die Aufnahme von Schulkindern
entscheiden. Verwaltungsräte aus Eltern, Lehrern und Beamten sollen
überwachen, dass es bei der Vergabe der Schulplätze mit rechten Dingen
zugeht.
Bislang gleicht der Versuch, in einer indischen Großstadt einen Schulplatz
an einer staatlichen Schule zu ergattern, häufig der Suche nach einer Nadel
im Heuhaufen. "Es war extrem schwierig", sagt Rekha Abraham. Die 38-Jährige
sitzt im Wohnzimmer ihrer Dreizimmerwohnung im Jangpura, einem Stadtteil
von Delhi, in dem vor allem die Mittelschicht lebt.
Ihr Sohn Tejas, drei Jahre und neun Monate alt, tobt durch das Zimmer. "Man
muss jetzt schon einen Platz in einer Vorschulklasse finden. Später hat man
kaum noch eine Chance", erklärt Rheka. Vier Monate haben sie und ihr Mann
Jitendra Nath gesucht. Oft hätten sich um 100 Plätze 3.000 Familien und
mehr beworben. "Wir haben sogar daran gedacht, in einen anderen Stadtteil
umzuziehen, wo es mehr Schulen in den Nähe gibt", sagt Rekha Abraham.
Besonders heikel seien die Vorstellungsgespräche gewesen, die nach dem
neuen Gesetz vollständig entfallen sollen. "Da müssen die Eltern dem
Schulleiter alle möglichen Fragen beantworten. Versteckt sind die natürlich
daran interessiert, wie viel die Eltern verdienen." Besonders schockiert
hat sie die Frage eines Schulleiters, ob ihr Sohn denn schon "unter
Kontrolle" sei, erzählt Abraham.
Denn Tejas ist ein Problemkind: Der Junge weist Anzeichen von Autismus auf.
Das habe sämtliche Schulleiter abgeschreckt. Erst an einer christlichen
Schule einige Stadtteile weiter hat die Familie Glück gehabt und nach
mehreren Monaten einen Schulplatz für ihren Sohn gefunden. Geld musste die
Familie nicht bezahlen.
Für Kinder wie Tejas wird sich die Lage nach dem neuen Gesetz nur bedingt
verbessern, die Aufnahme behinderter Kinder ist für die Schulen nicht
verpflichtend. Bildungsminister Kapil Sibal versuchte Kritik daran mit dem
Hinweis zu entkräften, es würden "spezielle Schulen" für behinderte Kinder
eingerichtet.
Doch selbst eine umfassend durchgesetzte Schulpflicht dürfte das
Hauptproblem in Indiens Gesellschaft kaum ändern: das riesige
Wohlstandsgefälle, das immer stärker wird. Das neue Gesetz garantiert
lediglich einen Schulplatz bis zur achten Klasse. Danach können staatliche
weiterführende Schulen wieder Aufnahmegespräche führen. Privatschulen
dürften sich der Schüler, die sie aufnehmen mussten, in den meisten Fällen
entledigen.
Ein weiteres großes Problem spricht das Gesetz überhaupt nicht an: Zwischen
den privaten und den staatlichen Schulen klafft ein immenser
Qualitätsunterschied. Während die Privatschulen in der Wissensvermittlung
mit europäischen Schulen durchaus mithalten können, fällt das Niveau an
öffentlichen Schulen oft drastisch ab. Forscher der US-Universität Harvard
haben in einer Studie 6.000 indische Schüler befragt. Nach neun Jahren
Schulbesuch haben 30 bis 40 Prozent der Kinder die internationale Messlatte
für mathematisches Basiswissen nicht erreicht, fanden die Forscher heraus.
Demgegenüber stehen mehr als 300 Universitäten und 15.000 Hochschulen, die
jedes Jahr etwa doppelt so viele Ingenieure hervorbringen wie die
Universitäten und Hochschulen an den USA. Zwar erhalten Angehörige sozial
benachteiligter Gruppen über ein staatliches Reservierungssystem bevorzugt
Ausbildungsplätze an staatlichen Hochschulen, doch ob sie überhaupt dorthin
gelangen, ist eine andere Frage.
Ein kürzlich von den Vereinten Nationen veröffentlichter Bericht hat
ergeben, dass mittlerweile 40 Prozent aller unterernährten Kinder unter
fünf Jahren auf der Welt in Indien leben. Die Zahl der Menschen in Indien,
die an Hunger leiden, nimmt seit 1991 kontinuierlich zu. Heute sind es
bereits 200 Millionen. Die Weltbank geht davon aus, dass 42 Prozent der
Menschen in Indien von weniger als 1,25 US-Dollar pro Tag leben müssen -
während andererseits Indiens Milliardäre inzwischen die reichsten in ganz
Asien sind.
Daher ist es fraglich, ob 2012, wenn das Gesetz umgesetzt sein soll,
tatsächlich alle Straßenkinderarbeiter von den Hauptverkehrsadern der
Großstädte verschwunden sein werden und eine Schule besuchen. Denn Indien
hat die größte Zahl der Kinderarbeiter weltweit: 17 Millionen. Praktisch
keines dieser Kinder besucht eine Schule. Ein Gesetz gegen den Einsatz von
Kinderarbeit in ausgesuchten Bereichen der Wirtschaft, das 1986 erlassen
wurde, hat nur wenig am Los dieser Kinder geändert.
"Es gibt Vorhersagen, dass weltweit weitere 50 bis 90 Millionen Menschen
extrem armutsgefährdet sind", warnte kürzlich Koichiro Matsuura,
Generaldirektor der Unesco. Erwiesen sei, dass in wirtschaftlichen
Krisenzeiten die Kinderarbeit zunimmt, weil Eltern ihre Kinder dann aus der
Schulen nehmen und arbeiten schicken. Für Matsuura ist klar: "Es gibt keine
bessere Investition in die Gesellschaft als Bildung."
10 Aug 2009
## AUTOREN
Sascha Zastiral
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