# taz.de -- Roma in Frankreich: "Wir sind doch kein Vieh" | |
> In einem Waldstück südlich von Paris leben 30 Roma-Familien. Als die | |
> Polizei sie mit einen Stempel auf die Haut markiert, ist die Empörung in | |
> Frankreichs Politik groß. | |
Bild: Romalager am Stadtrand von Paris. | |
PARIS taz | Der Mann mit dem dunklen Schnauzbart und der Stirnglatze hebt | |
beide Hände über den Kopf. Er winkt den Fremden zu, die auf der Landstraße | |
gehen. "Kommt näher", bedeutet seine Geste: näher an das Lager in dem | |
bereits herbstfeuchten Wald, wo Dutzende von Wohnwagen dicht beieinander | |
stehen. Aus Vorräumen aus Plastikplanen, Pressspan und Blech steigt Rauch | |
auf. Es duftet nach gebratenem Schweinefleisch. An einem Ast baumelt ein | |
Sack Kartoffeln. Eine Frau fegt den Erdboden mit einem Strohbesen. Von | |
einem aufgebockten alten Renault sind die Reifen demontiert. Aus der Ferne | |
wirkt das Areal in dem Waldstück 45 Kilometer südlich von Paris wie ein | |
Campingplatz. Bei genauerem Hinsehen fällt auf, dass fließendes Wasser, | |
Strom, Telefonleitungen und andere Anschlüsse an die Gesellschaft fehlen. | |
Am frühen Morgen des 28. August - einem Freitag - haben Schläge auf die | |
Wohnwagenwände die Bewohner des Lagers geweckt. Dazu laute Rufe: | |
"Aufstehen!" Und: "Kontrolle!" Draußen warten Gendarmen. Verlangen | |
Ausweise. Fragen die schlaftrunkenen Menschen, wie lange sie in Frankreich | |
sind. Und drücken jedem einen Stempel auf Unterarm oder Handrücken. | |
Der Mann mit dem Schnauzbart, von Beruf Schrotthändler, zeigt auf die | |
Außenseite seines linken Handrückens, von dem die Spuren der Markierung | |
inzwischen verschwunden sind. "Hier haben sie den Stempel hingedrückt", | |
erzählt er, "es war ein blauer Stempel. Mit drei Strichen." Die Roma aus | |
Rumänien haben unzählige Personenkontrollen erlebt. Manche haben Räumungen | |
hinter sich, bei denen ihre Unterkünfte mit Bulldozern zerstört wurden. | |
Andere sind bereits mehrfach aus Frankreich abgeschoben und in | |
Charterflügen nach Rumänien transportiert worden. Doch mit feuchter Tinte, | |
wie an jenem Freitagmorgen, sind sie noch nie behandelt worden. Die | |
Gendarmen stempeln alle Roma ab. Bloß Babys und Kleinkinder nicht. | |
"Warum tun sie das?", fragt in gebrochenem Französisch Olimpia. Sie hat | |
ihren Strohbesen in den Waldboden gerammt und stützt sich darauf: "Wir sind | |
doch kein Vieh." Zwei Wochen zuvor hatte einer ihrer Nachbarn just diese | |
Frage an die Gendarmen gestellt. "Damit die Kollegen später wissen, dass | |
wir euch schon kontrolliert haben", lautete die Antwort. | |
## Wie im Zweiten Weltkrieg | |
Die Kennzeichnung der Menschen wäre wohl eine zusätzliche Schikane in dem | |
ohnehin schikanenreichen Leben der Roma aus Rumänien geblieben. Und niemand | |
außerhalb ihrer Gemeinschaft hätte davon erfahren. Wenn nicht Yves Bouyer | |
wäre, der zufällig zwei Tage später einen Besuch in der Siedlung im Wald | |
macht. Der pensionierte Arbeiterpriester Bouyer erkennt sofort die schwere | |
Symbolik. Er ist schockiert. Die Kennzeichnung erinnert den 77-Jährigen "an | |
den Zweiten Weltkrieg". | |
Zusammen mit seiner Bürgerinitiative Solidarité avec les familles | |
roumaines, die den Familien humanitär und rechtlich zur Seite steht, wendet | |
sich Bouyer an die Medien. Den Journalisten fällt es schwer zu glauben, | |
dass eine solche Markierung tatsächlich stattgefunden hat. Doch bei der | |
örtlichen Gendarmerie erfahren sie, die Methode sei "das praktischste | |
Mittel, um zu vermeiden, dass dieselbe Person zweimal kontrolliert wird". | |
Die Sache dringt bis in das Kabinett des Ministers für Immigration und | |
nationale Identität vor. Eric Besson, dessen Ministerium sich sonst in | |
Presseerklärungen - mit Zahlen und bunten Schaubildern - der erfolgreichen | |
Abschiebung von "illegalen Ausländern" rühmt, pfeift dieses Mal seine | |
Gendarmen zurück. Am 7. September veröffentlicht er ein Kommuniqué: Das | |
"Stempelsystem" dürfe nur noch von Diskotheken benutzt werden, die | |
sichergehen wollen, dass ihre Kunden bezahlt haben. Für "Kontrollen von | |
Ausländern" hingegen, so der Minister, sei das System "inopportun". Besson | |
nennt die Stempelung "unpassend". | |
Die 30 Familien in dem Waldstück zwischen den beiden Gemeinden | |
Corbeil-Essonnes und Ormoy stammen aus dem rumänischen Timisoara. Aber ihr | |
Leben und das ihrer Kinder sehen sie in Frankreich. "Rumänien ist für uns | |
die Hölle", sagt der Schrotthändler mit dem Schnauzbart. "Für uns gibt es | |
dort keine Arbeit, keine Schulen, keine Medizin", ergänzt Olimpia, die Frau | |
mit dem Strohbesen. "Ich bin Europäerin", sagt sie, "ich bleibe." | |
Seit dem Beitritt von Rumänien und Bulgarien in die EU am 1. Januar 2007 | |
können die Staatsangehörigen beider Länder ungehindert nach Frankreich | |
einreisen. Doch zugleich sieht eine Pariser Übergangsregelung bis 2013 vor, | |
dass sie nur in Ausnahmefällen Arbeitsgenehmigungen und langfristige | |
Aufenthaltsgenehmigungen erhalten. Wer diese Dokumente nicht hat, kann nach | |
Ablauf von drei Monaten aus Frankreich abgeschoben werden - es sei denn, er | |
weist nach, dass er die nötigen Mittel für seinen Lebensunterhalt hat. | |
Das Ministerium von Besson macht von dieser einfachen Abschiebemöglichkeit | |
nach Rumänien und Bulgarien intensiven Gebrauch. Von den insgesamt 29.700 | |
"illegalen Ausländern", die im vergangenen Jahr abgeschoben worden sind, | |
stammte ein Drittel aus Rumänien und Bulgarien. Ihre Aufenthaltsorte in | |
Frankreich sind der Polizei bekannt. Sie braucht nur hinzugehen und die | |
"Aufforderung zum Verlassen des Territoriums" zu verteilen. | |
Arbeiterpriester Bouyer nennt dieses Vorgehen mit einem bitteren Lächeln | |
"die Statistik erfüllen". | |
Auch mehrere Familien aus dem Lager im Wald sind schon abgeschoben worden. | |
Die "Beihilfe für die freiwillige Rückkehr" in Höhe von 300 Euro haben sie | |
mitgenommen. Und anschließend unter anderem dafür verwendet, nach | |
Frankreich zurückzukommen. Während ihrer Abwesenheit sagen die Nachbarn: | |
"Sie sind zu Besuch in Rumänien." | |
## Manchmal in die Schule | |
Dass die Markierungen auf ihren Armen Schlagzeilen gemacht haben, erfahren | |
die Menschen im Wald erst, als Journalisten vor ihren Wohnwagen auftauchen. | |
Misstrauisch fragt ein junger Mann: "Was haben wir davon, dass wir mit | |
Ihnen sprechen?" | |
Die 43-jährige Olimpia versucht, die Aufmerksamkeit für ihre Familie zu | |
nutzen. Sie hat Timisoara mit Mann und Kindern schon im Jahr 2003 | |
verlassen. Seither arbeitet das Elternpaar in der Pariser Metro. Sie | |
bettelt. Er spielt Akkordeon. Die beiden Kinder, zehn und zwölf Jahre alt, | |
gehen manchmal in die Schule. Manchmal nicht. Obwohl in Frankreich die | |
Schulpflicht für alle gilt, lehnen gleich mehrere Gemeindebehörden ihre | |
Einschulung ab. Mit Begründungen wie: "Ihr Kind ist nicht geimpft." Oder: | |
"Sie haben keinen festen Wohnsitz." | |
In ihren sechs Pariser Jahren hat Olimpia sowohl im Norden, als auch im | |
Osten und im Süden gelebt. Sie kennt die französische Hauptstadt aus der | |
Perspektive der Wellblechhütten am Rande von Industriezonen, der Parkplätze | |
großer Einkaufszentren und der illegalen Siedlung im Wald. Immer wieder | |
haben Bürgermeister oder Privatleute erfolgreich gegen die provisorischen | |
Unterkünfte geklagt, in denen sie lebte. Immer wieder ist die Familie nach | |
der Räumung umgezogen. In dem Waldstück zwischen Corbeil-Essonnes, wo auch | |
sie Ende August gestempelt wurde, ist Olimpia erst vor zwei Monaten | |
angekommen. Vorerst ist das Lager ein sicherer Ort: Im Hochsommer hat ein | |
Gericht die Räumungsklagen der Bürgermeister der beiden Nachbargemeinden | |
Corbeil-Essonnes und Ormoy abgewiesen. | |
In Olimipias Wohnwagen hängen blütenweiße Vorhänge am Fenster. Zwei breite | |
Betten füllen den Hauptraum. Der Boden ist mit Teppich ausgelegt. Im | |
Vorraum stehen Plastikbottiche. Das Wasser muss die Familie in Kanistern | |
von der einen Kilometer entfernten Wasserstelle in Corbeil-Essonnes holen. | |
"Natürlich möchte ich in einer richtigen Wohnung wohnen. Natürlich wäre es | |
mir lieber, als Putzfrau zu arbeiten, als in der Metro zu betteln", sagt | |
Olimpia, "aber mich nimmt niemand." | |
Viele Kinder leben in dem Lager. Die meisten - darunter der kleine Doran | |
und Soltan - würden gerne in die Schule gehen. Aber nur ein einziges Kind | |
hat es geschafft. Der neunjährige Emanuel lebt seit sieben Jahren in | |
Frankreich. Er hat einen wachen Blick. Und spricht besser Französisch als | |
die meisten Erwachsenen im Lager. Und vor allen Dingen hat er eine Oma, die | |
bereit ist, Berge zu versetzen. Die kleine Frau, die einen großen, goldenen | |
Jesuskopf als Halsschmuck trägt, ist immer wieder zu den Behörden gegangen. | |
Schon vor Jahren hat sie dafür gesorgt, dass ihr kranker Mann in Frankreich | |
Medikamente bekommt. Jetzt kommt ihre Hartnäckigkeit ihrem Enkel zugute. | |
An diesem Nachmittag, während die anderen Kinder seines Alters draußen über | |
Pfützen springen, macht Emanuel seine Hausaufgaben in dem hellblauen | |
Wohnwagen im Wald, den er mit Eltern und Großeltern teilt. Stolz zeigt er | |
Schulhefte und Stifte. Aber auf einem Foto in einer Zeitung möchte er nicht | |
erscheinen: Er hat Angst, dass seine Kameraden aus der Schule in | |
Corbeil-Essonnes ihn erkennen könnten. | |
16 Sep 2009 | |
## AUTOREN | |
Dorothea Hahn | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Rassismus | |
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