# taz.de -- Frankfurter-Schule-Chronist zur Wahl: "Wie Adorno schon sagte" | |
> Grüne oder Linke? Die Qualen der Wahlen - ein Gespräch mit Alex | |
> Demirovic, Vorstandsmitglied der Rosa-Luxemburg-Stiftung und Chronist der | |
> Frankfurter Schule. | |
Bild: Wohin mit den Kreuzchen am Sonntag? | |
taz: Herr Demirovic, was sagt der "nonkonformistische Intellektuelle" zu | |
den bevorstehenden Bundestagswahlen? | |
Alex Demirovic: Na ja, vielleicht - wie die Nonkonformisten von der | |
Bild-Zeitung: Gähn. Die führenden Politiker vermeiden im Wahlkampf | |
Polarisierungen. In der wirtschaftlichen Krisensituation versucht man die | |
Probleme eher runterzuspielen. | |
Der ruhige, nicht populistisch geführte Wahlkampf hat doch auch Vorteile, | |
gerade da man eine große Krise steuern muss? | |
Das hat mit Blick auf die Krisensteuerung Vorteile. Doch der Preis dafür | |
ist, dass über die gesellschaftliche Zukunft und die Strategien zur | |
Bewältigung der Krise oder zur Vermeidung zukünftiger keine demokratische | |
Diskussion stattfindet. | |
Die große Koalition hat Abwrackprämien oder Bankenstützungsfonds | |
eingerichtet, hätte das die Opposition tatsächlich anders gemacht? | |
Welche Opposition? FDP, Grüne oder Linkspartei? Der Automobilindustrie | |
wurde durch die Politik Kurzarbeit und eine Überbrückung ermöglicht. Das | |
ist wichtig. Aber gleichzeitig hat die große Koalition damit auf Jahre eine | |
bestimmte Technologie und Entwicklung festgeschrieben. | |
Das hätte anders laufen können? | |
Ja, zumindest teilweise. So hätte man auf Strukturfördermaßnahmen | |
orientieren können, stärker in Richtung dezentraler erneuerbarer Energien, | |
alternativer Mobilität, Nachfragestärkung bei sozial Schwachen. | |
Die Wirtschaftspresse sagt, die Rezession sei durchschritten. | |
Aber auf welch niedrigem Niveau! Statt einem Negativwachstum von Minus 6 | |
hat man jetzt eines von Minus 5 Prozent. Wir haben viele Insolvenzen und ab | |
Herbst dürfte die Arbeitslosigkeit ansteigen. Die langfristigen stagnativen | |
Folgen der Krise sind noch gar nicht erfasst. Mit denen werden wir aber | |
noch einige Jahre zu tun haben - wenn sich die Wirtschaft überhaupt auf das | |
Niveau vor der Krise erholt. | |
Warum kann ausgerechnet die Westerwelle-FDP von der Krise politisch | |
profitieren? | |
Wirtschaftsliberal orientierte Wähler fühlen sich bei SPD und CDU nicht | |
mehr richtig aufgehoben. SPD und CDU behaupten, wieder stärkere soziale | |
Akzente setzen und den Staat stärken zu wollen. Sogar in der CDU gibt es | |
mittlerweile Tendenzen in Richtung soziale Gerechtigkeit und Mindestlohn. | |
Die Rettungsmaßnahmen der Regierung sind ein Signal dafür, dass der Staat | |
ökonomisch nun wieder stärker interveniert. | |
Wirtschaftsliberale würden eher mal eine Bank kaputtgehen lassen? | |
Ja. Aus der Sicht von Wirtschaftsliberalen führen die öffentlichen | |
Stützungsmaßnahmen zu Wettbewerbsverzerrungen und tragen zur nächsten Krise | |
bei. | |
Was ist Ihre Meinung? | |
Klar führt dies zu Wettbewerbsverzerrungen. Man sollte solche Unternehmen, | |
die sich falsch verhalten haben, durchaus Bankrott gehen lassen. | |
Ein Bankrott der Hypo Real Estate in Deutschland, so heißt es, hätte die | |
Wirtschaft um noch mehr als die zugeschossenen Milliarden geschädigt? | |
Man muss abwägen. Aber wer definiert, was systemnotwendig ist? Man hätte | |
teilweise andere Maßnahmen ergreifen, die Rettung und die Garantien an | |
Bedingungen knüpfen können. Wenn man in die USA schaut, dann hat man dort | |
das Problem, dass die Banken und nicht die Konsumenten gerettet werden. Es | |
müssten die vielen hunderttausend verschuldeten Familien geschützt werden | |
und nicht die Banken. In Deutschland und den anderen Staaten müssten die | |
Banken auf ihre Kernaufgaben zurückgeführt werden, hochriskante | |
Spekulationen müssten durch Regulation eingeschränkt werden. Aber das | |
ungelöste Problem bleibt: Kann es Banken und Versicherungen ohne | |
Spekulation geben? | |
Sie stehen der Partei Die Linke nahe, sind im Vorstand der | |
Rosa-Luxemburg-Stiftung. Hätte man Sie als Westlinken nicht eher bei der | |
grünennahen Böllstiftung erwarten dürfen? | |
Das hat mit einer langen Entwicklung der Grünen und der Böllstiftung zu tun | |
… | |
Sind Sie selbst Mitglied der Linkspartei? | |
Nein. | |
Warum versprechen Sie sich von der Linken mehr als von den Grünen? | |
Das sozial-ökologische Projekt von Fischer und Lafontaine in den 80ern fand | |
ich unterstützenswert. Aber das wurde von Rot-Grün an der Regierung nicht | |
verfolgt. Der Glaube, durch Markt und technologische Erneuerung die | |
gesellschaftliche Veränderungen herbeizuführen, ist dort stark verbreitet. | |
Das halte ich für falsch. In der Linkspartei artikulieren sich hingegen | |
neue Elemente von Bewegungen und Gewerkschaften. | |
Aber ist es nicht so, dass sich in der Opposition Kritiken vollmundiger | |
formulieren lassen als von der Regierungsbank? | |
Auch in der Opposition haben sich die Grünen nicht von der Politik | |
verabschiedet, die sie sieben Jahre lang als Regierungspartei verfolgt | |
haben. Sicher, auch eine Linkspartei in Regierungsverantwortung würde | |
vieles nicht umsetzen können. Linke müssen sich ohnehin fragen, was sie | |
langfristig über parlamentarische Politik erreichen können. | |
Tatsächlich? Wie viel alte DDR steckt in der Linken (Ost), wie viel | |
weltfernes Sektierertum in der Linken (West)? | |
Es gibt jede Menge alten Osten auch in den anderen Parteien. Was in der | |
Linkspartei derzeit stattfindet, begreife ich als große Chance: dass man | |
die Erfahrung des Realsozialismus und seine Fehler in der Linken | |
diskutiert. Üblicherweise wird die DDR als totalitär abgewertet. Die | |
Versuche, antifaschistisch und in der Tradition der Aufklärung eine andere, | |
emanzipatorische Wirtschaftsform zu erproben, mag vielleicht wirklich nur | |
von einer Minderheit verfolgt worden sein. Aber es hat sie gegeben, | |
überzeugte Sozialisten und Kommunisten. Deren Erfahrungen sind bedeutsam. | |
Natürlich gibt es auch solche, die stehen geblieben sind. Aber schauen Sie: | |
Auch bei den Grünen gab es anfänglich Konservative. Parteien sind eben | |
widersprüchlich. | |
Ich weiß nicht, diese Mischung aus früherem autoritären Staatskommunismus | |
und westlichen Restbewegungskadern - dagegen sind die Grünen doch geradezu | |
immer noch ein antiautoritäres Projekt? | |
Na ja, die Grünen sind doch von der Logik des Parlamentarismus und des | |
Machterhalts geprägt und haben sich über viele Jahre an einigen wenigen | |
Personen im Zentrum der Macht orientiert, ohne diese zu kontrollieren. | |
Das klingt sehr polemisch. Ist Antikapitalismus für Sie heute eine | |
politische Kategorie? | |
Ja. | |
Aber wäre es nicht klüger, auf Beteiligung und Chancengleichheit im | |
Kapitalismus hinzuarbeiten, als gegen das große Monster zu agitieren? | |
Ich würde dies nicht gegeneinander ausspielen. Es geht um Teilhabe und | |
Demokratisierung im Bestehenden. Aber in der Krise wird auch vieles | |
zurückgenommen. Demokratisierungs- und Entdemokratisierungsschübe gehen oft | |
Hand in Hand. | |
Ein Beispiel bitte? | |
Trotz starker Bürgerrechtsbewegungen wurde unter Rot-Grün das | |
Verbandsklagerecht eingeschränkt … | |
… dafür das Staatsbürgerecht reformiert, was vielen Migranten die vollen | |
Bürgerrechte brachte. | |
Einverstanden. Dennoch bleiben die Begrenzungen des Mitspracherechts in | |
Unternehmen und vielen anderen Bereichen eklatant. Um die Demokratie zu | |
schützen, müssen wir über die Grenzen unserer bestehenden Gesellschaft und | |
deren Institutionen hinausdenken. | |
Antikapitalismus mit dem Ziel der klassenlosen Gesellschaft, ist das nicht | |
ein überkommenes Heilsversprechen? | |
Ich würde das nicht als Heilsversprechen bezeichnen. Menschliches | |
Arbeitsvermögen zu einer Ware zu machen, ist zentral für den Kapitalismus. | |
Hunderte Millionen Menschen, mehr als je, sind dem heute unterworfen, viele | |
leben in Armut, viele werden überflüssig gemacht. Das ist entstanden, warum | |
sollte es nicht überwunden werden können? Ich teile die Kritik an den | |
Orthodoxien so mancher Linker. Wir können uns nicht außerhalb stellen, wir | |
leben in dieser Welt und sind Teil von ihr. Aber wie Adorno schon sagte, | |
man muss immer beides tun, das Bestehende verbessern und darüber | |
hinausgehen. | |
Lafontaine und Adorno, das sind doch extrem konträre Positionen. Adorno | |
hätte doch niemals Lafontaine gewählt? | |
Adorno war ohne Zweifel parteiskeptisch. Aber er sprach auch davon, dass | |
sich die Individuen engagieren sollten, weil sonst die Demokratie scheitern | |
müsste. Die lebt von der Spannung zwischen Allgemeinem und Individuellem. | |
Von sozialen Bewegungen und Parteien, die nach einer Transformation der | |
Verhältnisse suchen, hat Adorno vermutlich aber nicht einmal zu träumen | |
gewagt. | |
Adorno war ja nun auch alles andere als ein Etatist. Für ihn waren | |
Individualität und Selbsttätigkeit die Grundlage für Freiheit und | |
Kollektivität. Autoritäre oder rein ökonomisch gedachte Lösungsmodelle | |
vertrat er nicht. | |
Die Perspektive der Freiheit heißt: Autonomie der Individuen und des | |
menschlichen Zusammenlebens. Was Adorno wollte, ist die versöhnte | |
Menschheit. Etatismus ist dafür nicht hilfreich. Aber auch hier: Nach | |
diesem Maßstab wollen wir alle Parteien und Medien bewerten. | |
Gern, so aber auch die Positionen der Linkspartei. | |
Manches in der Linkspartei ist zu etatistisch orientiert. Doch die | |
Forderung nach Autonomie und Selbsttätigkeit kann auch neoliberal klingen. | |
Diese Erfahrung haben wir in den letzten Jahren doch gemacht. Wie über die | |
Kritik am Staat nicht unbedingt die Autonomie der Individuen gestärkt | |
wurde, sondern im Prinzip Kosten auf die "kleinen Leute" abgewälzt wurden. | |
Und das hat Adorno sicherlich nicht mit Freiheit gemeint. | |
25 Sep 2009 | |
## AUTOREN | |
Andreas Fanizadeh | |
Andreas Fanizadeh | |
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Transformation | |
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