# taz.de -- Literaturnobelpreis für Herta Müller: Eine Autorin der Migration | |
> Die deutsche Schriftstellerin Herta Müller erhält den Nobelpreis für | |
> Literatur. Die Deutschrumänin ist eine großartige Chronistin des Alltags | |
> in der Diktatur. | |
Bild: Die zwölfte Frau mit dem Literatur-Nobelpreis: Herta Müller. | |
Nobelpreisverleihungen habe immer etwas von Pferdewetten. In den Tagen vor | |
der Entscheidung werden englische Buchmacher zurate gezogen, wer denn wohl | |
das Rennen macht. Das ist nicht unbedingt das passende Ambiente für | |
Literatur, doch immerhin lagen die Quotenauguren diesmal richtig: Herta | |
Müller war - neben dem israelischen Autor Amos Oz - die Topfavoritin. Dass | |
sie gewonnen hat, ist dennoch eine große Überraschung. Nach Günter Grass | |
und Elfriede Jelinek geht der Preis damit innerhalb von zehn Jahren zum | |
dritten Mal an die deutschsprachige Literatur - als ob die Welt nicht | |
größer wäre. Es ist noch nicht lange her, dass deutsche Literatur als ganz | |
besonders langweilig und im Ausland unverkäuflich galt. Das scheint sich | |
gründlich geändert zu haben. | |
Doch Herta Müller ist nicht so eindeutig die "deutsche Schriftstellerin", | |
als die sie nun gefeiert wird. Die Begründung der Schwedischen Akademie | |
deutet es an. Ihr Werk, so heißt es da, zeichne "mittels Verdichtung der | |
Poesie und Sachlichkeit der Prosa Landschaften der Heimatlosigkeit". Herta | |
Müller kam 1987 im Alter von 30 Jahren aus Rumänien nach Deutschland. Das | |
ist ein schlichter Satz, doch so einfach, wie er sich anhört, ist er nicht. | |
In Rumänien ist sie in einem kleinen, deutschsprachigen Dorf im Banat | |
aufgewachsen, im Nachbardorf sprach man Ungarisch, außen herum Rumänisch. | |
Für sie war die Landessprache eine Fremdsprache, die sie erst gelernt hat, | |
als sie mit 20 in die Stadt ging, nach Temesvar, wo sie Germanistik und | |
Rumänistik studierte. "Fremdheit" und "Heimat" und "Muttersprache" waren | |
von Anfang an problematische Begriffe. Die Herkunftswelt des Dorfes | |
erscheint in ihren Texten keineswegs als Idyll oder als Rückzugsraum, eher | |
als Ort, den man fliehen muss. | |
Sie arbeitete dann als Dolmetscherin in einer Maschinenfabrik. Nach zwei | |
Jahren wurde sie entlassen, weil sie sich weigerte, mit der Securitate | |
zusammenzuarbeiten. Ihre Berichte über endlose Verhöre, Hausdurchsuchungen, | |
Demütigungen und die systematische Produktion von Angst gehören zum | |
Eindrücklichsten, was sich darüber lesen lässt. Die Erfahrung des | |
Drangsaliertwerdens durch den Geheimdienst - und da ist "Erfahrung" ein zu | |
schwaches Wort - prägt ihr Schreiben bis heute. Auch wenn sie nun schon | |
mehr als 20 Jahre in Deutschland lebt, ist ihr diese Geschichte gegenwärtig | |
geblieben. Man kann - das lehren die Bücher von Herta Müller - einen | |
geografischen Raum verlassen, aber trotzdem einer bestimmten Zeit und ihren | |
Eindrücken verhaftet bleiben. Deshalb ist die Durchdringung der Gegenwart | |
durch die Vergangenheit eines ihrer großen Themen geblieben. | |
Die Hartnäckigkeit, mit der sie daran festhält, hat ihr auch Kritik | |
eingetragen: zu monothematisch, zu monoman seien ihre Bücher. Immer nur | |
Securitate und Diktatur - reicht das für ein Schriftstellerleben? Für sie | |
sind solche Vorwürfe ein Hinweis auf die eigene Unzugehörigkeit. In ihrem | |
Essayband "Der König verneigt sich und tötet" schrieb sie 2003: "Die | |
Trennung von Vergangenheit und Gegenwart, die Auffassung von Zeit, | |
besonders in der Literaturkritik gehorcht sie in Deutschland räumlichen | |
Kriterien. Eigentlich sind es Zugehörigkeitskriterien. Wenn ich über zehn | |
Jahre Zurückliegendes aus Rumänien schreibe, heißt es, ich schreibe (noch | |
immer) über die Vergangenheit. Wenn ein hiesiger Autor über die | |
Nachkriegszeit, das Wirtschaftswunder oder die 68er Jahre schreibt, liest | |
man es als Gegenwart. Das hiesige Vergangene, wie weit es auch zurückliegen | |
mag, bleibt Gegenwart …" | |
So ist es eben dieser geschichtliche Raum der rumänischen Diktatur, der | |
ihre Gegenwart definiert und der sie von der "hiesigen" Literatur trennt. | |
Sie habe keine Wahl, sagt sie: "Ich bin am Schreibtisch nicht im | |
Schuhladen. Ich muss mich im Schreiben dort aufhalten, wo ich innerlich am | |
meisten verletzt bin, sonst müsste ich doch gar nicht schreiben." | |
Und doch ist sie mit ihren Erfahrungen nicht allein. Unterdrückung, | |
Vertreibung, Flucht sind Grunddispositionen des 20. Jahrhunderts. Wenn | |
Herta Müller als "Chronistin des Alltagslebens in der Diktatur" gilt, ist | |
sie doch weit mehr: eine Schriftstellerin, die so kompromisslos wie keine | |
andere die Existenzbedingungen im Zeitalter der Großideologien zur Sprache | |
bringt - zu einer Sprache, in der all der Schrecken, den sie erlebte und | |
den sie nicht loswerden kann, in poetischen Bildern aufgehoben ist. | |
Nichts wird beschönigt oder auch nur gemildert in ihren Texten. Kein | |
Schrecken geht verloren in ihrem düsteren Erzählton. Und doch sind die | |
Bilder, die sie findet, immer wieder von einer Schönheit, an der sich der | |
verstörte Leser kräftigen kann. Wenn es bei Herta Müller eine Art | |
Geborgenheit gibt, dann in der Sprache selbst. Besonders deutlich wird | |
dieses Verfahren in ihrem aktuellen Roman "Atemschaukel", der im Jahr 1945 | |
einsetzt: Müller berichtet darin von der Deportation der Rumäniendeutschen | |
nach dem Zweiten Weltkrieg und ihrem Schicksal in der Stalin-Zeit. Diesmal | |
ist es nicht ihre eigene Vergangenheit, sondern die des 2006 gestorbenen | |
Lyrikers Oskar Pastior, mit dem sie befreundet war und der ihr in | |
zahlreichen Gesprächen diesen Stoff überließ. | |
Herta Müller ist eine Autorin der Migration. Auch damit steht sie nicht | |
allein, und der Nobelpreis zeichnet sie stellvertretend für viele aus. | |
Gerade die deutschsprachige Literatur hat sich in den vergangenen Jahren | |
massiv verändert, weil zahlreiche Autoren aus anderen Ländern und Sprachen | |
dazugestoßen sind. Sie bringen nicht nur ihre Herkünfte und ihre | |
Geschichten mit, sondern oft auch einen fremden, distanzierten Blick auf | |
unsere hiesige Gesellschaft. | |
Für die Literatur ist das ein Vorteil, für die Betroffen nicht unbedingt, | |
und auch Herta Müller wehrte sich in einem Essay über den "fremden Blick" | |
gegen das romantische Missverständnis, an dem Literaturkritiker und | |
Schriftsteller gemeinsam stricken. "Den fremden Blick als Folge einer | |
fremden Umgebung zu sehen, ist deshalb so absurd, weil das Gegenteil wahr | |
ist", schrieb sie dort: "Er kommt aus den vertrauten Dingen, deren | |
Selbstverständlichkeit einem genommen wird." Davon, wie die Dinge (und auch | |
die Menschen) sich entziehen, handelt ihr Werk. Herta Müller hatte den | |
fremden Blick, lange bevor sie nach Deutschland kam. Sie wollte, sie hätte | |
ihn loswerden können. Weil ihr das nicht gelang, musste sie schreiben. Das | |
ist unser Glück. | |
Die Durchdringung der Gegenwart mit Vergangenheit ist eines ihrer großen | |
Themen geblieben | |
8 Oct 2009 | |
## AUTOREN | |
Jörg Magenau | |
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