# taz.de -- Comeback von Kiss: Mit Kriegsbemalung im Mittelfeld | |
> Ohne Schminke hätte Kiss wahrscheinlich nur drei Alben eingespielt, die | |
> sich auch noch schlecht verkauft hätten. Auch beim neuen Werk fehlen | |
> schlicht die Brüller – trotzdem erfüllt es seinen Zweck. | |
Bild: Kiss ist es nie in erster Linie um die Musik gegangen. | |
Chuck Klosterman hat Kiss in seiner wunderbaren Hair-Metal-Apologie "Fargo | |
Rock City" zur "zweiteinflussreichsten Band aller Zeiten" erklärt, gleich | |
nach den Beatles. Nicht etwa wegen ihrer musikalischen Qualitäten, die | |
würden laut Gene Simmons sowieso in der Regel überschätzt, sondern allein | |
wegen der Schminke. | |
"Ohne Schminke hätte die Band wahrscheinlich nur drei Alben eingespielt, | |
die sich auch noch entsetzlich schlecht verkauft hätten (obwohl ich den | |
leisen Verdacht habe, dass die Kritiker, die Kiss heute hassen, sie dann | |
als ,rauen, bahnbrechenden Vorläufer des New York Punk' bejubelt hätten). | |
Jedenfalls brachten die vier ein paar Millionen Kids dazu, Gitarren in die | |
Hand zu nehmen und sich als etwas ausgeben zu wollen, das sie nicht waren. | |
Und genau das ist Rock n Roll in 99 Prozent aller Fälle." | |
Nur versucht der meistens, zumindest wenn es sich um Rock im emphatischen | |
Sinne handelt, gerade die Kluft zwischen Realität und Imago einzuebnen. | |
Kiss hingegen unterliefen das probate Authentizitätsversprechen von | |
vornherein und in einer grandiosen Konsequenz. Die Band hatte den | |
Brechtschen V-Effekt gewissermaßen ab Proberaum eingebaut und wies immer | |
wieder mit circensischen Einlagen - Zungenakrobatik, Blut- und | |
Feuerspuckereien, raketenschießenden Gitarren und Goldfischen in den Hacken | |
ihrer gewaltigen Plateauschuhe - und nicht zuletzt mit ihrer | |
Comichelden-Maskerade auf ihre totale Künstlichkeit hin. | |
Wenn man Gene Simmons gerade erschienenes Glaubensbekenntnis "Sex Money | |
Kiss" liest, das sich als knochenhartes calvinistisches Motivationsbuch und | |
neoliberaler Wirtschaftsratschläger tarnt, um einmal mehr auf ebenso | |
schamlose wie penetrante Weise Selbstapotheose zu betreiben, dann könnte | |
man bei ihnen geradezu eine Authentizität zweiter Ordnung in Anschlag | |
bringen. | |
Kiss ist es nie in erster Linie um die Musik gegangen - und man hat auch | |
nie einen Zweifel daran gelassen, dass die Rockband nichts weiter als ein | |
Wirtschaftsunternehmen für sie ist, das nur so lange Bestand hat, wie es | |
entsprechende Renditen abwirft. Vielleicht sind das nicht mal die übelsten | |
Voraussetzungen für eingängige, massenkompatible Popmusik. | |
Die Klassiker-Galerie der Band jedenfalls ist bis unters Dach gefüllt mit | |
dummdreisten ("Love Gun"), blödsinnigen ("Shout It Out Loud"), niederste | |
Instinkte befriedigenden ("Christine Sixteen"), durch und durch | |
sexistischen ("Calling Dr. Love"), einfach betörenden Buschklopfern, deren | |
effektive Eindimensionalität immer schon die Massen ebenso begeistert wie | |
die Kritik verprellt hat. Insofern gab es wohl kaum jemanden aus dieser | |
Zunft, außer Klosterman und mir, der dem neuen Album wirklich | |
entgegengefiebert hätte. | |
Na ja, was heißt schon gefiebert, aber ein bisschen erwartungsvoll oder | |
schaulustig war man doch. "Psycho Circus", das letzte reguläre Studio-Album | |
mit neuem Material, ist schon über zehn Jahre alt, und das ging gar nicht | |
mal voll in die Hose. Dafür aber Paul Stanleys obszön schmierige | |
Soloproduktion "Live To Win" vor drei Jahren. Es wäre also wieder mal ein | |
positives Signal fällig. Und entschieden handgemeiner geht es auf "Sonic | |
Boom" denn auch zur Sache. Man trägt zudem wieder Kriegsbemalung, obwohl | |
die Ur-Mitglieder Peter Criss und Ace Frehley einmal mehr gegen richtige | |
Musiker - Eric Singer und Tommy Thayer, die schon länger auf der | |
Gehaltsliste stehen - ausgetauscht worden sind. Zu Recht. | |
Anders als der Lethargiker Criss hat Singer noch in den typisch | |
verschleppten Groove-Nummern genügend Punch in den Stöcken. Leadgitarrist | |
Thayer hingegen ist ein mit allen Wassern gewaschener Stilmimetiker. Er | |
muss die nichtswürdige Frehley-Kopie spielen, also macht er das - nur | |
artikulierter, bundreiner und doppelt so gut, um das mithörende Original zu | |
beschämen. An ihnen liegt es also nicht, dass die Kiss-Historiografen | |
dermaleinst dieses Album im ohnehin schon ziemlich stark besetzten | |
Mittelfeld situieren werden. Es fehlen schlicht die Brüller. | |
Der Auftaktsong "Modern Day Delilah" geht in die richtige Richtung, hat | |
Verve, eine hübsche Klimax, bleibt dann aber auf halbem Weg stehen. Da | |
fehlt der Chorus-Hook, der alles klar machen würde. "All The Glory" ist | |
noch so ein Anwärter. Eric Singer macht den Ringo, intoniert so rührend | |
unbedarft, dass es fast schon schön ist, und anschließend spielt Thayer das | |
größte Frehley-Solo aller Zeiten. Wer zwischen den Noten lesen kann, der | |
hört, wie er sich dabei kaputtlacht. Der Rausschmeißer "Say Yeah" lässt | |
dann nochmal aufhorchen, hier scheint alles zu stimmen - bis auf den | |
Umstand, dass Stanley den dräuend heranwalzenden Erkennungsriff von | |
Springsteens "Radio Nowhere" geklaut hat. | |
Drei Songs, das reicht nicht mal für die Kiss Army zum Sattwerden. Und die | |
ist spartanische Marschverpflegung durchaus gewohnt. Aber ihren Zweck wird | |
auch dieses Album natürlich wieder erfüllen. Die Hallen werden voll sein, | |
die Merchandise-Stände leergekauft - und wenn der Veranstalter noch ein | |
paar Nullen dranhängt und für getrennte Umkleideräume sorgt, lassen sich | |
auch Criss und Frehley sicher noch einmal überreden. Aber was ist | |
eigentlich mit den Kiss-Action-Figuren, müssten die nicht längst mal wieder | |
aufgelegt werden? Und mit dem geplanten Broadway-Musical könnte es auch | |
langsam mal vorangehen, nicht zu vergessen das "Kiss my ass"-Klopapier … | |
Kiss sind "wandelnde Metaphern", meint Chuck Klosterman. Da hat er recht. | |
Nämlich für das trotz allem und immer noch wie geschmiert funktionierende | |
Schweinebusiness. | |
Kiss: "Sonic Boom" (Roadrunner) | |
Gene Simmons: "Sex Money Kiss". Aus dem Amerikanischen von Kirsten | |
Borchardt. Heyne, München 2009, 320 S., 12 Euro | |
30 Nov 2009 | |
## AUTOREN | |
Frank Schäfer | |
## TAGS | |
Los Angeles | |
Kolumne Durch die Nacht | |
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