# taz.de -- Haiti nach dem Beben: Kampf um Lebensmittel | |
> Wasser für die Opfer des Erdbebens ist da, aber die Menschen haben kein | |
> Geld, um Essen zu kaufen. Bei der Verteilung von Hilfsgütern kommt es zu | |
> Tumulten. | |
Bild: Viele Haitianer bekommen jetzt das erste Mal sauberes Trinkwasser nach de… | |
PORT-AU-PRINCE taz | Versorgungsprobleme hat Port-au-Prince nicht. Auf den | |
Straßen rund um das Stadtzentrum, die nicht so stark von den Erdbebenwellen | |
betroffen wurden, werden Obst und Gemüse angeboten. Fliegende Händler | |
bieten auf der Rue Delmas 2 wieder Kohle und Körperpflegemittel an, als ob | |
nicht gewesen wäre. | |
In Pétionville knapp zehn Kilometer oberhalb der haitianischen Hauptstadt | |
ist Marktstimmung wie vor zehn Tagen als in Haiti die Erde bebte. | |
Marchants, Marktfrauen, preisen lauthals Porreestangen und Karotten an. | |
Junge Männer drängeln sich wie eh und je "dlo, dlo", "Wasser, Wasser", | |
schreiend, durch die quirlige Rue Geffrard. Der Preis hat sich allerdings | |
von früher einem Gourde (etwa 2 Cent) in nur wenigen Tagen vervierfacht. | |
"Es geht so", sagt eine Händlerin, die Spaghettis, Tomatenmark und Speiseöl | |
verkauft, "aber viele haben kein Geld." | |
Wer die Route de Delmas herunterfährt, lernt die andere Realität Haitis und | |
seiner Einwohner kennen. An den rechts und links abzweigenden Hofeinfahrten | |
und Freiflächen hängen vielfach Plakate. In bis vier Sprachen bitten darin | |
die Menschen um Hilfe, um Wasser und Lebensmittel. | |
Solche Transparente sah man vor einer Woche nur vereinzelt, jetzt fallen | |
sie inzwischen ständig ins Auge. "Wir haben Hunger!" und "Wir brauchen | |
Hilfe!" | |
Das Rote Kreuz spricht von drei Millionen Menschen, die direkt von dem | |
Erdbeben betroffen sind. Sie haben oft nur das nackte Leben retten können. | |
Die Menschen haben kein Geld mehr, mit dem sie etwas zu essen kaufen | |
könnten. Die Lebensmittelpreise sind zudem gestiegen. | |
Ein weiteres Problem ist auch, dass die Banken noch geschlossen sind und | |
dass viele Filialen beim Beben zerstört wurden. Das Bankgeschäft ist fast | |
vollständig zum Stillstand gekommen, Bankautomaten waren auch vor der | |
Katastrophe eine Rarität im Land. Einzelne Geldinstitute öffnen | |
mittlerweile stundenweise, und sofort bildeten sich wie vor der Scotiabank | |
in Pétionville lange Schlangen von Menschen, die sich mit Bargeld versorgen | |
wollen. Auch wohlsituierte Haitianer sind ohne Geld, weil sie nicht an ihre | |
Konten kommen. Dazu kommt, dass etwa beim Einsturz der Zentrale der | |
Citibank sämtliche Kontounterlagen zerstört wurden. | |
Die Versorgung der Obdachlosencamps mit Wasser funktioniert inzwischen, | |
sogar ohne Polizeischutz und Ordnungshüter. Die Menschen stellen sich wie | |
in der katholischen Schule in Delmas 33 ordentlich in Reihe an, um pro | |
Familie 20 Liter sauberes Wasser zu bekommen. "Aber Wasser ist im Moment | |
nicht so wertvoll wie Nahrungsmittel", sagt Simone Pott von der Deutschen | |
Welthungerhilfe. | |
Was das heißt, bekamen die Mitarbeiter der Nichtregierungsorganisation am | |
Donnerstag zu spüren, als sie von drei Lastkraftwagen aus Lebensmittel für | |
rund 6.000 Menschen für die kommenden zwei Wochen auf dem Gelände der | |
katholischen Schule ausgaben. Es war die erste größere | |
Lebensmittelverteilaktion in der zerstörten Stadt. | |
Keine 15 Minuten hielten die drei Reihen, in denen sich Frauen und Männer | |
drängten, um jeweils 22,5 Kilogramm Reis sowie einen Eimer mit 2 Litern Öl, | |
4,5 Kilogramm Bohnen und Salz für ihre Familien zu erhalten. | |
Das Chaos brach über die Mitarbeiter der Welthungerhilfe herein. Die sechs | |
Blauhelmsoldaten kümmerten sich reichlich wenig um eine ordnungsgemäße | |
Verteilung, und die vier haitianischen Polizisten verfolgten das Geschehen | |
als Zaungäste. | |
"Wir haben keine Chance", schimpfte etwa Wislande, eine junge Frau. Ein | |
paar Männer hatten ihr den Sack Reis von der Schulter und den Eimer mit den | |
restlichen Lebensmitteln entrissen. Ihr blieb nur eine zerrissene | |
Plastiktüte mit einer Handvoll Bohnen. | |
Als dann auch mehrere Gruppen junger Männer auftauchten, waren die | |
Sicherheitskräfte zu schwach, für Ordnung zu sorgen. Zum Teil mit Gewalt | |
rissen die Männer den Verteilern die Waren aus der Hand, stiegen auf die | |
Fahrzeugdächer, um schneller an die Nahrungsmittel zu kommen. Frauen und | |
Kinder hatten keine Chance mehr. "Es ist eine Schande", schimpfte eine | |
Frau. Andere schämten sich für das Verhalten ihrer Landsleute. | |
Dabei hatte die Welthungerhilfe extra dieses Lager ausgesucht, um | |
Auseinandersetzungen zu verhindern. Ein dort funktionierendes Komitee, das | |
sich um das Zusammenleben kümmert, sollte die Lebensmittelverteilung | |
regeln. "Wir hatten die Wahl, unter nicht optimalen Bedingungen mit der | |
Verteilung zu beginnen oder es sein zu lassen", erklärt Michael Kühn, | |
Regionalkoordinator der Welthungerhilfe in Haiti. Aufgrund der | |
Ernährungssituation habe sich die Welthungerhilfe entschieden, trotz der | |
Sicherheitsbedenken die Verteilaktion zu beginnen. | |
"Bedürftig waren alle, auch jene, die sich genommen haben, was eigentlich | |
für andere bestimmt war", sagt auch Simone Pott, die Sprecherin der | |
Organisation. | |
22 Jan 2010 | |
## AUTOREN | |
Hans-Ulrich Dillmann | |
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