# taz.de -- Portrait Reinhard Erös: Der Taliban-Flüsterer | |
> Reinhard Erös ist Arzt, Soldat und bayerischer Gemütsmensch und kennt | |
> überdies noch Afghanistan wie seine Westentasche. Und er hat schon vor | |
> vielen, vielen Jahren mit den Taliban verhandelt. | |
Bild: Buddhistische Kunst in Bamiyan. Im Jahr 2001 zerstörten Taliban hier die… | |
Über zwei Stunden lang hat Reinhard Erös geredet. Es ist sein zehnter | |
Vortrag diese Woche. Das kalte Licht des Alten Auditoriums der Universität | |
Göttingen beißt kurz vor zehn Uhr abends in den Augen. Nach so einem langen | |
Bildervortrag möchte mancher aus dem Publikum auch einmal etwas sagen. | |
Raschid zum Beispiel ist betrübt über den Zustand seines Landes. Er meldet | |
sich und hebt an: "Ich bin in Afghanistan geboren …" Oh nein, so etwas - | |
jetzt nicht. Nicht mit Erös. "Ich höre mir jetzt doch kein Referat über | |
Afghanistan an! Stellen Sie eine Frage!", schnauzt er den Mann an. Dieser | |
hat immerhin die Wäschewanne voller Bücher über Erös Afghanistan-Abenteuer | |
mit hergetragen, damit sie verkauft werden können. Er sagt, er komme sofort | |
zu seiner Frage, aber … - keine Chance. | |
"Nee! Ende!" Erös mächtiger Leib im schwarzen Pulli bebt, er greift seine | |
Tasche sowie seine formlose Lederjacke und steuert auf die Hörsaal-Tür zu. | |
Doch da fängt ein anderer Zuhörer seine Aufmerksamkeit ein, der - das | |
Publikum atmet auf - knapp genug fragt: Ob Erös schon an die Nutzung von | |
Solarthermie für Warmwasser in Afghanistan gedacht habe? Nein. "Aber machen | |
Sie es, fahren Sie hin!", ruft Erös. Und: "Lachen Sie nicht so. Das mag ich | |
nicht!" | |
Einen Augenblick später, bei Wein und Spaghetti, die der gelernte Arzt und | |
Soldat Erös kleingeschnitten vom Teller abräumt, ist er schon wieder ganz | |
bayerischer Gemütsmensch. Raschid wird nachher sagen, nein, er sei jetzt | |
nicht sauer - "Afghanistan, das ist so wichtig, Herr Erös hat so viel getan | |
…" | |
Reinhard Erös duldet generell wenig Widerspruch. Eine falsche Frage, und | |
schon werden die Augen schmal und die Stimme laut. "Es gibt keine dummen | |
Fragen, aber Dümmlinge, die Fragen stellen!" Ganz sicher aber duldet Erös | |
kaum einen anderen Afghanistan-Experten neben sich. Warum auch? Er beweist | |
seit 25 Jahren, wie gut er das Land kennt, wie sehr er es liebt und wie | |
viel er dort bewegt. Erös hat mit seiner Frau Annette die "Kinderhilfe | |
Afghanistan" aufgezogen. Mittlerweile sind auch die erwachsenen fünf Kinder | |
mindestens Teilzeit-eingespannt. Veit ist 30, er wird den Laden einst | |
übernehmen, sagt der 62-jährige Erös. | |
Seit 1998 baut und betreibt die "Familieninitiative" vom kleinen | |
Mintraching bei Regensburg aus ausschließlich aus privaten Spendengeldern | |
Schulen, Kliniken und inzwischen auch ein zweites Waisenhaus im Osten | |
Afghanistans - dort, wo die Paschtunen leben, das Volk, aus dem sich die | |
Taliban und die Aufstandsbewegung gegen die internationalen Truppen | |
rekrutieren. | |
Staatliches Geld will Erös nicht haben: "Von Leuten, die nur sagen: ,Kommen | |
Sie zu unseren Bürozeiten wieder, und sechs Durchschläge bitte' - pah!" | |
Seinen Spendern verspricht Erös, dass jeder Cent die Projekte in den | |
Ostprovinzen Nangahar, Chost und Laghman erreicht. Unzählige Bilder hat er | |
in seinem Laptop von afghanischen Kindern bei Schuleröffnungen, von jungen | |
Frauen vor den Monitoren in den neuen Computerschulen in Dschalalabad und | |
Eslamabad, alles soweit möglich besorgt mit Kräften vor Ort. Und mit | |
Zustimmung der Taliban. | |
"Wenn Dorfälteste auf mich zukommen und sagen: ,Bau uns auch eine Schule', | |
dann sage ich: ,Habt ihr mit den Taliban gesprochen? Nee? Dann holt die | |
her, ohne die bauen wir gar nichts.'" Das ist auch die Botschaft im Titel | |
seines ersten Buchs "Tee mit dem Teufel": Wer in der Hölle arbeitet, muss | |
ab und zu mit dem Teufel ein Tässchen Tee trinken. Möglicherweise schleift | |
sich bei jemandem, der als Arzt schon gegen die Sowjettruppen Mitte der | |
1980er-Jahre im Elend Ostafghanistans um Menschenleben gekämpft hat, die | |
Definition von "Teufel" ab. | |
Doch trotz seiner bemerkenswert kurzen Zündschnur bis zum jeweils nächsten | |
Wutanfall ist Erös ja vor allem eines: ein Realpolitiker. Vielleicht, wenn | |
man seine schier unglaublichen Abenteuer in den beiden Büchern nachliest, | |
ein Realpolitiker mit leichtem Hang zum vermeintlich Unmöglichen. | |
Geschickt variiert Erös seinen Afghanistan- und Werbevortrag je nach | |
Publikum. Vor Studierenden der katholischen Hochschulgemeinde setzt er den | |
Akzent auf christliche Motivation und liefert Zahlenkolonnen darüber, was | |
ein US-Entwicklungshelfer in Afghanistan verdient im Vergleich zu | |
afghanischen Medizinprofessoren. | |
Vor Gymnasiasten in Berlin lässt er das weg und trichtert ihnen ein, dass | |
sie das Politikmachen nicht den Mittelmäßigen überlassen dürfen. Vor | |
Polizisten, Soldaten und Geheimdienstlern in Hannover ("Schalten Sie sofort | |
Ihre Mobiltelefone aus!") zeigt er das Bild von sich mit ihrem Dienstherrn, | |
dem Innenminister Thomas de Maizière: ein guter Kumpel aus alten Tagen, | |
offenbar kein Mittelmäßiger. Die Uniformierten sollen gleich wissen, dass | |
Erös einer von ihnen ist, und zwar ein Besonderer. | |
Thomas de Maizière gehört zu Erös vorzüglichen Kontakten aus Studienzeiten. | |
Genussvoll breitet Erös gegenüber Journalistinnen, die politisch nicht ganz | |
auf seiner Linie sind, eine seiner Lieblingsanekdoten aus dem | |
Medizinstudium aus. 1972, als die Studentenrevolte auch die Freiburger | |
Universität erreicht hatte, "drangen dann diese Marsianer auch in unsere | |
Vorlesung ein und wollten über Vietnam diskutieren". | |
Erös war vorm Studium "Fernspäher" bei der Bundeswehr gewesen, gehörte also | |
einer spezialisierten Aufklärungseinheit an, die später im Kommando | |
Spezialkräfte (KSK) aufging. Einem Fernspäher-Offizier aber zwinge man kein | |
"linkes Politgelaber" in der Physiologievorlesung auf. Denen habe er es | |
aber gezeigt. "Nasenbeine und Frontzähne gingen drauf, aber es hat sich | |
gelohnt!" | |
Gegen den "Affenzirkus" der Linken, aber auch gegen die blutleeren, | |
schleimkonservativen Nichtskönner bei den Burschenschaften gründete Erös | |
die "Liste Unabhängiger Studenten". Später war er auch beim RCDS - "wir | |
hatten die hübschesten Mädchen!" -, war auch ein Jahr Wahlkampfmanager | |
eines CDU-Abgeordneten. Parteiklüngelpolitik hat ihn dann aber angeekelt. | |
Über Erös Frauenbild müsste der Mantel postfeministisch-barmherzigen | |
Schweigens gedeckt werden, wenn nicht so deutlich wäre, dass Erös | |
Männerbild ihm den Zugang zur afghanischen Kriegergesellschaft erleichtert. | |
Geradezu singend erzählt er in der Berliner Schulaula vom brutalen | |
afghanischen Volkssport Bushkasi, dem "Ziegenzerren": Lederpeitschen zieht | |
man dem Gegner durchs Gesicht, um ihm den Ziegenkadaver vom Pferd aus | |
abzujagen. "Das sind noch Männer!", ruft er den Berliner Schülerinnen zu - | |
die verlegen ihre Haarsträhnen zwirbeln, auf ihre Trend-Turnschuhe gucken | |
und offensichtlich denken: Geschmackssache. | |
"Fast pathologisch widerstandswillig" nennt Erös die Paschtunen. Er knüpft | |
damit an die Historiensaga vom unbesiegbaren, unkontrollierbaren | |
Afghanistan, dem Friedhof der Supermächte, an. Die Glaubwürdigkeit und den | |
Respekt, den Erös als Arzt und Elitesoldat aus dem konservativen Lager | |
genießt, nutzt er, um ebendort die ketzerische Botschaft hineinzutragen: | |
Euer Militäreinsatz nützt nichts, er macht nur alles schlimmer. Euer vieles | |
Geld geht an die Gangster, die es nach Dubai schaffen. Ihr habt Vertrauen | |
verspielt, ihr habt die größte Volksgruppe gegen euch aufgebracht. | |
Und siehe da, das gleiche Rezept funktioniert auch in der anderen Richtung: | |
Als Elitesoldat und Arzt, der in den 1980er-Jahren gegen den Willen der | |
sowjetischen Besatzer operierte, oft heilte, manchmal aber auch nicht | |
retten konnte, erwarb er sich Glaubwürdigkeit und Respekt auch bei den | |
besonders Religiösen, bei Fanatikern, auch bei Hardcore-Taliban. Ihnen sagt | |
er, wenn die ihre Waffen gerade einmal beiseitegelegt haben: Ihr müsst eure | |
Kinder, auch die Mädchen, zur Schule gehen lassen. Sie brauchen eine | |
Chance, das Land nach vorn zu bringen. | |
Erös hat, viele Jahre bevor ein deutscher Politiker erstmals verlangte, | |
dass Verhandlungen mit Taliban möglich sein müssten, bereits verhandelt. | |
Blut an den Händen ist nichts, was ihn schreckt. Mit der platten Rundmütze, | |
dem farblosen Pakol, auf dem Kopf und dem inzwischen weißen Vollbart ist | |
auf den Gruppenfotos nicht sofort zu erkennen, wer die Einheimischen sind | |
und wer der deutsche Helfer - na ja, seine Leibesfülle verrät ihn. Afghanen | |
sind dünn. | |
Selbstverständlich gehe es vielen Afghanen heute besser als in zehn Jahren | |
Sowjet-Besetzung und in sechs Jahren Taliban-Regime. Aber ebenso | |
selbstverständlich sei mit dem Nato-Einsatz von vornherein so viel falsch | |
gemacht worden, wie falsch zu machen war. | |
Schulen, säkulare Schulen, immer mehr Schulen bauen für die 50 Prozent der | |
afghanischen Bevölkerung unter 15 Jahren, damit sich die jungen Menschen | |
dem Sog des radikalislamischen, dschihadistischen Wahns entziehen können: | |
Das ist die einzige Antwort, die Erös einfällt, und weil er ein | |
Aufschneider, ein Besessener, ein Nimmermüder, ein Chauvi, ein Politiker | |
und ein – nun ja: ein Kämpfer eben ist, arbeitet er daran mit aller Kraft, | |
mit allen seinen Mitteln. | |
Es ist seine höchstpersönliche Antwort, und er weiß, dass nicht jeder ihn | |
nachahmen kann, erst recht nicht ein Staat, der ja notwendig bürokratisch | |
ist. Aber was mit dem internationalen Militäreinsatz geschehen soll, ob er | |
nötig ist - oder auch nicht? Kommt der nächste Bürgerkrieg, der nächste | |
Taliban-Terror, wenn die Nato geht? Er weiß es nicht. "Die Karre ist im | |
Dreck – und der Motor im Eimer. Ich kann Ihnen nicht sagen, wie man sie da | |
rauskriegt und ins Laufen bringt", sagt Erös. | |
28 Jan 2010 | |
## AUTOREN | |
Ulrike Winkelmann | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Bundeswehr-Aufstockung: SPD-Zustimmung erwartet | |
Die SPD stellt eine Zustimmung zu dem verändertem Mandat in Aussicht, wenn | |
2011 der Truppenabzug aus Afghanistan beginnt. Die Koalition behält sich | |
jedoch vor, den Abzug zu verzögern. | |
Neue Afghanistan-Pläne: Abzug eventuell schon 2011 | |
Berlin bietet mehr Truppen, aber auch mehr zivilen Aufbau – und eine kleine | |
Abzugsperspektive: 2011 könnte der Abzug beginnen, 2014 will man "die | |
Verantwortung übergeben". | |
Afghanistan-Konferenz: Mehr Aufgaben für Kabul | |
Bei der Afghanistan-Konferenz in London werden Sicherheit, | |
Regierungsführung und Entwicklung sowie regionale Unterstützung verhandelt. | |
Ein Überblick. |