# taz.de -- Berlinale - Shutter Island: In der Hochzeit des Kalten Krieges | |
> Scorsese kann sich in "Shutter Island" nicht entscheiden, ob seine | |
> Horroreffekte eher das Fürchten oder das Schmunzeln lehren sollen. Als | |
> Zaubertrick wirkt das Konzept plausibel. | |
Bild: Hält den Zuschauer über 138 Minuten bei der Stange: Leonardo DiCaprio (… | |
Ein Schiff durchbricht undurchdringlichen Nebel. Hochbewaffnete | |
Sicherheitskräfte geleiten zugeknöpfte Gesetzeshüter durch eine brachiale | |
Festungsanlage. Im Garten zupfen irre blickende Irre sinnlos an Blüten | |
herum. In grimmen Grotten vegetieren vertierte Kreaturen, während Wasser | |
aus den Gewölberitzen tropft. Im Herrenzimmer entdecken wir Max von Sydow | |
als dämonelnden deutschstämmigen Psychoanalytiker erst, als wir die andere | |
Seite des Sessels zu sehen bekommen, in dem er bis dahin ganz still | |
gesessen hat. | |
Martin Scorsese hat offenbar wenig Hemmungen, auch eher abgestandene | |
Horroreffekte abzurufen. Die implizite Begründung dafür scheint doppelt | |
genäht: Einerseits ist dies ein Film über alte Filme. Der Garten aus dem | |
"Kabinett des Dr. Caligari" trifft Samuel Fullers psychiatriekritischen | |
"Shock Corridor", dazwischen prasselt viel Noir-Regen auf Gothic-Dächer. | |
Andererseits spielt der Film in der Hochzeit des Kalten Krieges. Damals | |
verständigte man sich via Horroreffekte, gothisierende Frauenschicksale | |
oder aus der Vergangenheit zuschlagende Schicksalsmonster über etwas, das | |
man nicht kapieren oder offen aussprechen konnte: über Machtverhältnisse | |
und Sexualität, aber eben auch über die Atombombe. | |
Vor allem aber weiß Scorsese natürlich, dass ein Weg von Dr. Caligari zu | |
Hitler führt; bis zur Befreiung des KZ Dachau, bei der der von Leonardo | |
DiCaprio gespielte, Aufklärung suchende US-Marshall selbst traumatisiert | |
wurde. | |
"Shutter Island" ist aber nicht nur ein Film, der von heute aus auf eine | |
historische politische Psychologie schaut. Er kann sich nicht entscheiden, | |
ob er mit seinen Tricks aus Horror und Noir verspielt umgehen oder ihnen | |
die Verantwortung für unsere Anteilnahme übertragen will. Sollen wir uns | |
vor einem Kerl fürchten, der sich dämonisch in einem Sessel versteckt, oder | |
sollen wir über dieses gute alte Stereotyp schmunzeln und uns fürderhin | |
nicht mehr fürchten? | |
Beides wäre nicht gut: Historistisch-ironische Schmunzelware muss mehr zu | |
bieten haben, als sich bloß zu erkennen zu geben, wenn sie denn nach dem | |
hundertvierunddreißigsten Tarantino überhaupt noch satisfaktionsfähig | |
werden kann. | |
Das Gleiche gilt für die andere Möglichkeit: die Addition aller Traumata | |
der Jahrhundertmitte zu einer menschenverachtenden Großbosheit. Die hier | |
angedeutete Verschwörung nimmt aber nur ernst, wer auch mit langen Messern | |
auf saarländische Ministerpräsidenten losgeht, weil die für "unterirdische | |
Menschenfabriken" verantwortlich seien. | |
Für Scorsese müsste also das Offenhalten dieser beiden Möglichkeiten | |
naturgemäß im Vordergrund stehen. Dafür dürften sie aber beide nur durch | |
die Stärke der jeweils anderen relativiert werden und nicht durch die | |
eigenen Schwächen wie Kindergruseleffekte oder Weltverschwörungen. | |
Natürlich korrespondiert diese Unentschiedenheit mit einer anderen: Was ist | |
real, was ist Traum? Wer ist hier verrückt, wer ist die Gehirnpolizei, wer | |
ist Dr. Caligari? Der Umgang mit dieser Frage wird wesentlich von | |
sogenannten Narrative Special Effects bestimmt: überraschende Wendungen, | |
Totgeglaubte, die Pfeife schmauchend aus Turmzimmern treten, und | |
promovierte Höhlenbewohnerinnen, die im Jahr 1954 schon das Wort "Gulag" | |
kennen. | |
Aber wenn es etwas gibt, was diese Massenmörderpistole zusammenhält, ist es | |
die Leistung von Leonardo DiCaprio, 138 Minuten so überrascht, angefressen, | |
empört, kaputt, auch schlau genug auszusehen, um den Zuschauer trotz allem | |
via Identifikation bei der Stange zu halten. Die Idee, dass ein Film nicht | |
von den Fünfzigern handelt, sondern sich mit Schauspielern, Kameras und | |
Skripttechniken von heute selbst in ein Produkt schaurig muffigen | |
McCarthyismus verwandelt, wird dank seines Spiels wenigstens als | |
Zaubertrick plausibel. | |
Ob DiCaprio verrückt ist oder nicht, hängt aber unter anderem auch von der | |
Korrektheit seiner Erinnerung an Dachau ab. Der Zuschauer wird mit dem | |
Eindruck entlassen, die Befreiung habe zwar so stattgefunden wie erinnert, | |
die anschließende Revanche-Erschießung von SS-Männern durch US-Soldaten | |
aber sei geträumt. | |
Man weiß aber, dass es sie gegeben hat. Die Umkehrung von Kracauer: von | |
Hitler zu Caligari? Ein amerikanischer Gegenwartsstar, der keinen Spaß am | |
gemütlichen Nazikillen hat, sondern daran psychisch zerbricht? Ein | |
glorioser Antibastard? | |
15 Feb 2010 | |
## AUTOREN | |
Diedrich Diederichsen | |
## TAGS | |
Kino | |
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