# taz.de -- Martin Scorseses "Hugo Cabret": Vieldimensionale Kinogeschichte | |
> Ein Junge, ein Metallmann und viele Uhren. In "Hugo Cabret" nutzt | |
> Regisseur Scorsese die 3-D-Technik bravourös, um einen alten Meister zu | |
> preisen: George Méliès. | |
Bild: Handwerklich und ästhetisch auf höchstem Niveau: "Hugo Cabret". | |
Die Luft ist selten klar in "Hugo Cabret": Ständig steigt Dampf auf, | |
wirbelt Staub hoch, quillt Rauch, sprühen Funken, fällt Schnee. Natürlich | |
nicht grundlos. Es ist sein erster 3-D-Film – und wie nicht anders zu | |
erwarten, fällt ihm mehr zu der (für ihn) neuen Technik ein, als lediglich | |
ständig spitze Gegenstände in Richtung Zuschauer ragen zu lassen. | |
Durch die verschiedenen Schwebepartikel wird bei Scorsese selbst die Luft | |
zum dreidimensionalen Raum. Auch technisch wurde 3-D bislang kaum besser | |
umgesetzt: Anders als bei vielen anderen stereoskopischen Filmen sind die | |
Bilder von Kameramann Robert Richardson auch mit aufgesetzter Brille immer | |
noch kontrastreich und hell. | |
Das Besondere an "Hugo Cabret" ist aber weniger, dass 3-D handwerklich und | |
künstlerisch auf bislang höchstmöglichem Niveau umgesetzt wurde, sondern | |
wie Form und Inhalt hier miteinander verknüpft sind. Denn nur zu Beginn und | |
ganz oberflächlich ist "Hugo Cabret" gemäß der Vorlage – das gleichnamige | |
Kinderbuch von Brian Selznick – ein Film über einen Waisenjungen, der im | |
Paris des Jahres 1931 eine neue Familie findet. | |
## Als würde Spielberg Dickens verfilmen | |
Das ist die Fassade, mit der Scorsese ein möglichst zahlreiches | |
Familienpublikum ins Kino zu locken versucht. Worum es ihm eigentlich geht, | |
ist eine Auseinandersetzung mit einem Thema, das ihm wie kein anderes am | |
Herzen liegt: Filmgeschichte und deren Bewahrung. Hier steckt Scorsese mehr | |
Leidenschaft hinein als in die schematisch bleibende Kindergeschichte, die | |
ein wenig wirkt, als habe Steven Spielberg Charles Dickens verfilmt. | |
Titelfigur ist ein zwölfjähriger Junge, der im Dachgewölbe des Pariser | |
Montparnasse-Bahnhofs lebt. Seit sein Vormund verschwunden ist, kümmert er | |
sich allein um die vielen Bahnhofsuhren. Sein Schatz ist ein nicht | |
funktionstüchtiger mechanischer Mensch, den er von seinem verstorbenen | |
Vater geerbt hat. | |
Als Hugo mit Hilfe der Adoptivtochter eines Spielzeugladenbesitzers den | |
Metall-Mann wieder zum Leben erweckt, malt der ruckelnd das Plakat des | |
ersten Science-Fiction der Filmgeschichte: George Méliès' "Die Reise zum | |
Mond" (1902). Damit beginnt eine Reise in die Vergangenheit, die ins Studio | |
des Kinopioniers führt und zu den Dreharbeiten seines berühmtesten Films. | |
## Pionier der Kinogeschichte | |
Der ehemalige Zauberkünstler Méliès hatte schon früh das Potenzial des | |
Mediums erkannt, die Grenzen der Realität hinter sich zu lassen. Mit viel | |
Erfindungs- und Ideenreichtum erschuf er fantastische Welten, ohne die die | |
folgende Kinogeschichte gar nicht denkbar wäre. | |
Doch bereits im Ersten Weltkrieg geriet der Vater der Wunsch- und | |
Traummaschine Kino in Vergessenheit. Hunderte seiner Filme wurden von der | |
Armee konfisziert und zu Schuhabsätzen verarbeitet. Bereits zu seinen | |
Lebzeiten war ein Großteil seines Werks vernichtet und Méliès ein | |
gebrochener Mann. Diese wahre Geschichte liefert den eigentlichen | |
emotionalen Kern von "Hugo Cabret". | |
Schon seit Jahrzehnten engagiert sich Scorsese mit seiner Film Foundation | |
für die Erhaltung des Kinoerbes. Mit "Hugo Cabret" hat er jetzt erstmals | |
einen Film gedreht, der sein Anliegen auch einem Multiplex-Publikum | |
vermitteln will. Dass er sein Plädoyer für die Rettung der Vergangenheit | |
mit Hilfe modernster Technik formuliert, ist dabei nur auf den ersten Blick | |
paradox. | |
## Allgegenwärtige Uhren | |
Anders als James Cameron, bei dessen Zurück-zur-Natur-Fantasie "Avatar" | |
Form und Inhalt in völligem Widerspruch zueinander standen, zieht sich | |
Scorsese nicht auf eine nostalgische Weltsicht zurück. Schließlich wäre der | |
junge Méliès der Erste gewesen wäre, der 3-D und die digitale Technik mit | |
all ihren – in doppelter Hinsicht – fantastischen Möglichkeiten umarmt | |
hätte. | |
Daher sind die allgegenwärtigen Uhren in "Hugo Cabret" auch nicht einfache | |
Symbole für Vergänglichkeit. Scorsese benutzt sie ebenso positiv als | |
Metaphern für die Kamera- und Projektionstechnik des analogen Kinos. Gleich | |
in der ersten Einstellung sieht man Hugo, wie er durch ein Loch im | |
Ziffernblatt einer Uhr auf das Treiben im Bahnhof schaut, als wäre er ein | |
Kameramann, der die Szenerie durch einen Sucher beobachtet. | |
Visuell wird die kleinteilige Mechanik der Uhrwerke außerdem immer wieder | |
mit dem komplexen, aber geregelten Großstadtleben parallel gesetzt. Paris | |
zeigt Scorsese hier ähnlich wie vor Kurzem Woody Allen als mythischen | |
Geburtsort der ersten Moderne: Sitzt da nicht James Joyce im Kaffee? Spielt | |
dort nicht Django Reinhardt Gitarre? Hängt hier nicht ein Bild von Braque | |
an der Wand? Damals wollten die Künstler die Tradition noch hinwegfegen, | |
Scorsese plädiert mit "Hugo Cabret" für eine Aussöhnung von Vergangenheit | |
und Zukunft. | |
"Hugo Cabret". Regie: Martin Scorsese. Mit Ben Kingsley, Sacha Baron Cohen | |
u.a. USA 2011, 126 Min. | |
8 Feb 2012 | |
## AUTOREN | |
Sven von Reden | |
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