# taz.de -- Frank Castorf über seinen Lieblingsautor: "Das Krankheitsbild ist … | |
> Die Geschichte eines Ausgestoßenen ist auch die seiner Feinde: Regisseur | |
> Frank Castorf über den Dichter Jakob Michael Reinhold Lenz, dessen | |
> "Soldaten" er in Berlin inszeniert. | |
Bild: Frank Castorf vor der Berliner Volksbühne. | |
Das Intendantenbüro der Berliner Volksbühne ist überheizt, Frank Castorf | |
laboriert an einer schweren Erkältung. Wir wollen ausnahmsweise nicht über | |
die Dauerkrise der Volksbühne reden, sondern über seinen derzeitigen | |
Lieblingsautor: Jakob Michael Reinhold Lenz, 1751 bis 1792, von dem er | |
gerade das dritte Stück inszeniert. Castorf, der gefürchtete Trash-Fan und | |
Schänder edler Dichtung, präsentiert sich als genauer Leser, der es mit | |
jedem Ideologen der Werktreue aufnehmen kann. Der bekennende Zyniker | |
Castorf wird bei Lenz ungewohnt melancholisch. | |
taz: Herr Castorf, nach Wolfgang Rihms "Lenz"-Oper in Wien und dem | |
"Hofmeister" in Zürich inszenieren Sie jetzt mit den "Soldaten" Ihr drittes | |
Lenz-Stück. Was interessiert Sie so an Jakob Michael Reinhold Lenz, diesem | |
etwas irrlichternden Dramatiker aus dem 18. Jahrhundert? | |
Frank Castorf: Heiner Müller hat mal erzählt, wie er mit Peter Brook am | |
Berliner Ensemble Brechts "Hofmeister"-Bearbeitung gesehen hat. Brook | |
sagte, wenn es Artauds Theater der Grausamkeit gibt, dann ist es das, "Der | |
Hofmeister" von Lenz. | |
Da wird die Geschichte einer Kastration erzählt: Der Hofmeister, der zu | |
arm, ist, um zu heiraten, entmannt sich selbst. | |
Der Schnitt durch das eigene Fleisch, die Selbstverstümmelung ist der | |
Preis, um in dieser Gesellschaft schmerzfrei zu überleben, um | |
gesellschaftsfähig zu werden, das Leben in der Selbstverleugnung. Es gab im | |
18. Jahrhundert ernsthafte Reformdebatten, die die Kastration für | |
Junggesellen vorgeschlagen haben, aber Selbstverleugnung ist auch heute | |
gängige Überlebenstechnik. | |
Seit wann sind Sie Lenz auf der Spur? | |
Meine Sicht auf Lenz ist stark geprägt von einem Standardwerk, das ich an | |
der Uni gelesen habe, "Büchner und seine Zeit" von Hans Mayer, ein Buch, | |
das leider etwas in Vergessenheit geraten ist. Büchner beschreibt in seiner | |
Erzählung "Lenz" anhand von Aufzeichnungen des Pfarrers Oberlin, bei dem | |
Lenz untergekommen war, jemanden, der zweifellos genialisch-infantile, | |
schizophrene Züge hat. Das ist eine frühe Bestandsaufnahme der Krankheit | |
Schizophrenie. Meine Sicht auf Lenz ist natürlich auch die Wut auf das | |
Idealische Schillerscher Prägung. Manchmal ist es wichtiger, eine | |
Hundehütte zu zeichnen, als ganze Ideengemälde zu entwerfen. Dann ist es | |
die Wut darüber, wie Goethe in "Dichtung und Wahrheit" seinen Jugendfreund | |
Lenz denunziert. Lenz wird durch die Sichtweise von Goethe zum Narren | |
gemacht, jemand, der sich immer daneben benimmt. | |
Goethe wirft Lenz "Selbstquälerei" und "formloses Schweifen" vor. | |
Ja. Aber das Krankheitsbild ist auch politisch. Als Lenz 1876 den | |
arrivierten Goethe in Weimar besucht, lässt Goethe ihn ausweisen, man weiß | |
nicht genau, was vorgefallen ist, Goethe spricht nur von Lenz "Eselei". | |
Lenz schreibt danach, er sei "ausgestoßen aus dem Himmel als ein | |
Landläufer". Das ist der Bruch in seinem Leben. | |
Danach irrt er zu Fuß durch halb Deutschland, ohne Geld, bis er seine | |
ersten schizophrenen Schübe bekommt. Goethe hat eine politische Karriere am | |
Hof vor; die revolutionären Sturm-und-Drang-Jugendfreunde, Klinger, Wagner, | |
Lenz, die zu ihm nach Weimar kommen, werden dieser Karriere gefährlich. | |
Also müssen sie liquidiert werden. | |
Der Karrierist Goethe panzert sich und spaltet mit seinen Jugendfreunden | |
seine eigene Jugend von sich ab? | |
Das macht er mit einer ungeheuren Intuition und Brutalität. Der Sturm und | |
Drang war der kurze Sommer der Anarchie, das muss vom Hofbeamten Goethe | |
ausgeschaltet werden. Goethe treibt Lenz in die Isolation. Das ist von | |
Goethe völlig konsequent gedacht, aus Überlebenswillen und Selbstschutz. | |
Deshalb auch seine Abwehrreflexe gegen Kleist, gegen Hölderlin, gegen die | |
Romantiker. Es gibt ja viele traurige Gestalten in der Literaturgeschichte | |
des 18. Jahrhunderts, Lenz ist in dieser Vereinsamung der traurigste, | |
schreibt Hans Mayer. | |
Gilt das für sein ganzes Leben? | |
Lenz stirbt als Obdachloser auf den Straßen Moskaus, in der Vereinsamung | |
und Vereisung, in der Anonymität. Er stirbt, wie es hieß, "von wenigen | |
vermisst und von keinem betrauert". Wenn dann jemand wie Büchner aufsteht | |
und diese großartige Erzählung "Lenz" schreibt, ist das eine Ehrenrettung. | |
Die Heftigkeit, mit der Goethe daran arbeitet, Lenz als Parodisten, als | |
Unikum zu denunzieren, ist verräterisch und grausam. Natürlich hatte Lenz | |
die Disposition zur Krankheit in sich, zur Schizophrenie. Aber seine | |
Krankheit hat auch mit Verletzungen zu tun. In seiner Soldatenzeit, als | |
Hofmeister der Barone von Kleist, haben ihn die Offiziere nackt aus dem | |
Fenster gehalten, die üblichen sadistischen Scherze, die man mit sozial | |
Schwächeren macht. "Der Hofmeister" und "Die Soldaten", das sind die ersten | |
Tragikomödien der deutschen Literatur, damals pure Gegenwartsstücke. Was | |
mich wirklich interessiert, sind zum Beispiel diese zerrissenen, kurzen | |
Szenen. In den "Soldaten" bestehen Szenen teilweise nur aus ein, zwei | |
Sätzen, das ist wie im Film. | |
Zerrissene Szenen eines zerrissenen Autors. | |
Ja. Lenz wird überall rausgedrängt, er hat nie eine richtige Stellung, er | |
ist sozial nicht kompatibel. Er träumt davon, die Zarin zu beraten und | |
entwickelt politische Reformideen. Das sind wahrscheinlich nur noch die | |
Stoßgebete eines Schizophrenen, der längst alle sozialen Bindungen verloren | |
hat, den man höchstens noch als genialischen Narren sieht. Das ist typisch | |
für die Lage deutscher Intellektueller: Wenn sie nicht Erfolg haben und | |
Karriere machen, werden sie närrisch und wunderlich, oder sie werden in die | |
Position des Gestörten getrieben, Hofnarren wie Gundling am preußischen | |
Hof. Es gibt den berühmten Satz "An ihm ist viel gesündigt worden" - und an | |
Lenz ist wirklich viel gesündigt worden. | |
Lädt Lenz als halb wahnsinniges, am Leben gescheitertes Genie zu kitschigen | |
romantischen Projektionen ein? | |
Das wäre ein falscher Blick. Er vermarktet sein Außenseitertum nicht. Er | |
ist nicht Kurt Cobain oder Rimbaud, der schon weiß, dass er mit der Flucht | |
nach Afrika als Waffenhändler an der Selbstmystifizierung arbeitet. Lenz | |
will ja mitmachen, er will dazugehören und geliebt werden, er will helfen | |
und durchstoßen zum Konsens der Gesellschaft, aber es gelingt ihm einfach | |
nicht. Sein Außenseitertum ist nicht kalkuliert. Er ist wirklich ein naives | |
Kind. Das ist das Bewunderungswürdige an der Oper von Rihm, in Musik | |
übersetzte Psychopathologie, eine geniale Darstellung dieser völligen | |
Verlorenheit und Einsamkeit. | |
Was sind das für Männergestalten in den "Soldaten", alle mit sexuellem | |
Überdruck, der sich in Zoten und Saufgelagen abreagiert, halb komische, | |
halb grausame Figuren? "Furchtbare Ehelosigkeit, was für Karikaturen machst | |
Du aus den Menschen", heißt es einmal. | |
Die Scherze sind sehr derb, das kenne ich aus meiner eigenen Armeezeit, man | |
genießt die gemeinsame Verrohung. Je mehr Saufen, desto besser. Aus | |
Langeweile tyrannisiert man sich gegenseitig, der Schwächste oder | |
Merkwürdigste in der Gruppe wird zum Opfer, das sind sexualsadistische | |
Momente. Einen so ungeschminkten Umgang mit Sexualstörungen kenne ich sonst | |
kaum aus der deutschen Literatur. Das hat was vom Keller in "Pulp Fiction", | |
wenn man runtergeht in die tieferen Regionen. Der beliebteste Freizeitsport | |
der Offiziere in Straßburg, wo Lenz war, war es, Bürgermädchen zu | |
verführen. Dieses Muster des adligen Verführers beschreibt Lenz im | |
Gegensatz zu Schiller oder Lessing in ihren bürgerlichen Trauerspielen mit | |
einer ungeheuren Trostlosigkeit. All diese Figuren mit ihren Hoffnungen | |
gehen zu Grunde. Marie, das verführte Bürgermädchen, endet als | |
Prostituierte, bettelnd und hungernd. Die Aussichtslosigkeit dieser Figuren | |
ist etwas, das einen runterziehen kann. | |
Setzt er dem etwas entgegen? | |
Wie einen Kontrapunkt setzt Lenz das grelle, irrationale Lachen, das in | |
jeder Szene da ist. Das ist wie von Beckett oder Pina Bausch, eine groteske | |
Modernität. Die harten Schnitte zwischen den Szenen haben fast etwas vom | |
Boulevard, wie später bei Feydeau, die Tür geht zu, die Tür geht auf, und | |
dazwischen werden ansatzlos und wie nebenbei ganze Biografien verwüstet und | |
die Unschuld dieses Bürgermädchens weggevögelt. Ich finde die Stücke von | |
Lenz so atemberaubend, weil sie keine falschen Hoffnungen aufkommen lassen. | |
Diese Kombination aus sozialer Genauigkeit und Groteske ist in der | |
deutschen Literatur ohne Vorbild. Erst Büchner in "Woyzeck" erreicht wieder | |
diese Dimension. | |
Mit seiner "Lenz"-Erzählung porträtiert Büchner auch seinen literarischen | |
Vorläufer als Dramatiker, oder? | |
Büchner kommt mit dem kühlen Blick des Naturwissenschaftlers anders als | |
Lenz zum fatalistischen Geschichtspessimismus: Machen wir uns nichts vor, | |
die Welt ist, wie sie ist, und sie ist nicht gut für den Menschen. Wir | |
leben in der klar erkannten Feindschaft zu den gesellschaftlichen | |
Verhältnissen. Büchners Danton hat die tiefere Erkenntnis, dass es sich | |
nicht mehr lohnt, zu kämpfen. Büchners "Woyzeck" ist ohne die Stücke von | |
Lenz nicht denkbar. Stolzius, der unglücklich verliebte Junge in den | |
"Soldaten", ist eine Woyzeck-Figur. Lenz hat wie Büchner die ungeheure | |
Fähigkeit, nicht den großen Handlungsschirm aufzuspannen, sondern einzelne | |
Vorgänge herauszunehmen, zu fragmentieren, um sie fast | |
naturwissenschaftlich bewusst zu machen. | |
Vergrößerte, ins Groteske getriebene Momentaufnahmen statt des Kontinuums, | |
der Diktatur des Plots - das ist sehr nah an der Erzählweise in Ihren | |
Inszenierungen. | |
Ja, klar. Brechts Bearbeitung des "Hofmeisters" macht nach dem Zweiten | |
Weltkrieg Tabula rasa, ein Spiegelbild der deutschen Misere, geschrieben | |
aus einer Perspektive der absoluten Negation. Ich finde, dass darunter bei | |
Lenz eine ungeheure Sehnsucht nach Harmonie liegt, eine naive | |
Liebessehnsucht, die er nicht leben konnte. | |
Noch mal die erste Frage: Was fasziniert Sie so an Lenz? | |
Dieser völlige Schmerz, gepaart mit einer Glückssehnsucht. | |
24 Feb 2010 | |
## AUTOREN | |
Peter Laudenbach | |
## TAGS | |
Oper | |
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