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# taz.de -- Digitale Bohème, ein Abgesang: Wir nennen es Blase
> Eine alternative Lebensform jenseits von Festanstellung und freiem
> Schaffen ist nicht möglich und war es nie. Ein Abgesang auf das Gerede
> von der "digitalen Bohème".
Bild: Sascha Lobo, gesehen bei der webciety, einer Teilkonferenz der CeBit 2010.
Die Zahl der Arbeitenden, die von ihrem Lohn kaum leben können, steigt
immer weiter. Einige Berufsgruppen haben langjährige Erfahrungen mit der
Situation. Die freischaffenden Kreativen und Künstler zum Beispiel waren in
ökonomischer Hinsicht schon immer die Deppen der Nation. Nicht ohne Grund
gibt es das Klischee vom brotlosen Schöpfer wertvoller Ideen ohne Gewinn.
Das Durchschnittseinkommen liegt hier in der Regel in der Nähe der
Armutsgrenze, viele kommen gerade so über die Runden oder sind auf
Nebenjobs angewiesen. Durch das Internet sollte sich eigentlich vieles zum
Positiven geändert haben. Die digitale Vernetzung ermögliche gerade den
freischaffenden Kreativen völlig neue Möglichkeiten des Wirtschaftens, hieß
es. Doch die Realität sieht, wie so oft, ganz anders aus.
In der virtuellen Welt werden zwar massig kreative Energien freigesetzt,
doch den wenigsten Künstlern, Autoren und Netzwerkern flattert das Geld
durch den digitalen Posteingang hinein. Die Zahl der Autoren und
"Content-Produzenten" hat sich in den letzten Jahren vervielfacht, doch die
meisten davon verrichten ihr Tagewerk umsonst. Damit einhergehend gibt es
praktisch überhaupt keine Lohnuntergrenzen mehr, was Jobs in der
sogenannten Kreativwirtschaft angeht, obwohl diese immer wieder als
Wachstumsbranche bezeichnet wird.
Vielerorts arbeiten nicht nur die Praktikanten für lausige Gehälter
unterhalb des Existenzminimums. Zahlreiche hippe Projekte hantieren mit
geringem Budget und können nur kleine Honorare auszahlen, locken aber mit
den "coolen Referenzen". Nur kann sich dafür keiner etwas kaufen. Auch die
Revolution des Selbermachens, die auf neue Formen der Kooperation setzen
und neue Nischen bedienen will, entpuppt sich vielerorts als Blase.
Das ist nicht mal überraschend, denn in der vordigitalen Welt war es wenig
anders. "Independent" zu sein hieß leider meist auch, verzichten zu müssen,
und zwar unter anderem auf Geld. Die Freiheit des selbstbestimmten Lebens
hat ihren Preis.
Im Netz werden Gratismentalität und Informationsüberflutung mittlerweile
nicht mehr nur von konservativer Seite beklagt, sondern auch von einstigen
Internetpionieren wie Jaron Lanier, also denjenigen, welche die digitale
Revolution angezettelt haben. Die technischen Innovationen haben die
Aneignung der Produktionsmittel angeblich für jedermann möglich gemacht,
doch ist das erwirtschaftete ökonomische Kapital in der Regel wesentlich
geringer als das soziale. Die Freunde im virtuellen Netzwerk zahlen einem
aber weder Miete, Essen noch Krankenversicherung.
"Wenn alles Immaterielle gratis ist, werden wir zu digitalen Bauern, die
für Lords der digitalen Wolken wie Google oder YouTube kostenlose Inhalte
bereitstellen", beklagte sich Lanier unlängst in einem Interview mit der
FAZ.
Lanier fordert ein "Mikrozahlungssystem", wonach jeder Zugriff auf das
Produkt jedes Anbieters habe, für eine verschwindend geringe Gebühr.
Ungeklärt blieb, nach welchem Verteilungsschlüssel das Ganze funktionieren
soll. In der Blogosphäre wurde Lanier nach seinem Vorstoß schon als "neuer
Konservativer" kritisiert, der lediglich alte Grabenkämpfe ausfocht und die
Seiten gewechselt habe: "Wir", die echten Kreativen, die echten
Journalisten, welche Inhalte, Werte schafften, gegen "die Anderen", die
Internetideologen, die jene entmachteten und alles umsonst wollten, lautete
die Replik des Netzwertig.com-Blogs. Doch so einfach ist es wohl nicht.
Ökonomisch gesehen war es immer schon eine Milchbubenrechnung, zu glauben,
man könne eine Arbeit nur um ihrer selbst willen machen. Das funktionierte
am besten bei jenen finanziell abgesicherten Bürgerkindern, die sich
floppende Projekte erlauben konnten und die Verluste von den Eltern
abgefedert bekamen.
Es bleibt also eine gewisse Skepsis gegenüber all jenen fluffigen, schön
klingenden Schlagwörtern, mit denen sich das Prekariat so herrlich
glorifizieren lässt. In dem Stück "Mach es nicht selbst" aus dem aktuellen
Tocotronic-Album "Schall & Wahn" poltert Sänger Dirk von Lowtzow: "Was du
auch machst / mach es nicht selbst / auch wenn du dir den Weg verstellst /
was du auch machst / sei bitte schlau / meide die Marke Eigenbau / Heim-
und Netzwerkerei stehlen dir deine schöne Zeit / Wer zu viel selber macht /
wird schließlich dumm / ausgenommen Selbstbefriedigung".
Die Hamburger entstammen der Punkbewegung, einer der ersten Subkulturen,
die sich das Marke-Eigenbau-Prinzip auf die Fahnen geschrieben hatte. Punk
verhieß größtmögliche Selbstbestimmung. Selbstgemachte Fanzines statt
etablierter Medien, Indie-Labels statt Major, Nagelscherenhaarschnitt statt
Friseur. Bei Punk ging es aber nicht um Profite, sondern um eine bewusste
radikale Abgrenzung vom Massenmarkt, darum, ein Leben fernab der
Spießergesellschaft zu führen. Das Credo lautete, derb ausgedrückt: Die
Mehrheit braucht eine geschlossene Tür vor der Fresse. Das mag einer der
Gründe sein, warum sich das Prinzip Punk nicht in jederlei Hinsicht als
ökonomisches Erfolgsmodell verstehen lässt.
Holm Friebe und Thomas Range riefen 2008 in ihrem Buch "Marke Eigenbau" die
Revolution des Selbermachens aus, gegen die verkrusteten Strukturen des
Konzernkapitalismus. Sie beriefen sich auf Punk. Man stürze sich auf die
Produktionsmittel und kreiere "My Logo" statt Massenmarkt. Für ihr Buch
wurden die Autoren aber gerade von linker Seite heftigst kritisiert.
Ähnlich fiel auch schon das Echo auf den von Friebe mit Sascha Lobo
verfassten Vorgänger "Wir nennen es Arbeit" aus, der das selbstbestimmte
Leben jenseits der Festanstellung pries.
Problematisch wird es nämlich, wenn Schlagworte wie "digitale Boheme" und
"Marke Eigenbau" von den Marktradikalen vereinnahmt werden, um lediglich
Forderungen nach mehr Selbstverantwortung zu stützen. Aber der Markt kriegt
die Dinge eben nicht immer von alleine geregelt.
Gerade in der sogenannten Kreativbranche werden also weiter Dumpinglöhne in
Kauf genommen. Weil von den lächerlichen Honoraren keiner leben kann,
braucht es entweder begüterte Eltern, die einem den Status finanzieren -
oder die ökonomische Notwendigkeit treibt einen in den entfremdeten
Nebenjob. In den Call-Centern dieser Welt wimmelt es von Selbstbastlern,
Künstlern und Kreativen, deren eigentliche Profession hintanstehen muss.
Für subversive Ideen bleibt wenig Zeit, wenn man um die Miete kämpft. Die
Misere ist nicht neu, denn die Gelder waren auf der Welt immer schon falsch
verteilt - und kamen in den seltensten Fällen den Künstlern und Kreativen
zu.
"Wenn das Geld in die Werbung fließt und nicht zu den Kreativen und
Künstlern, dann befasst sich eine Gesellschaft mehr mit Manipulation als
mit Wahrheit oder Schönheit. Wenn Inhalte wertlos sind, dann werden die
Menschen irgendwann hohlköpfig und inhaltslos", konstatierte Jaron Lanier.
Umgekehrt wird ein Schuh draus. Denn die Schlauen unter den digitalen
Revoluzzern haben die Werbebranche längst als Geldgeber entdeckt und lassen
sich dafür bezahlen, Produkten die nötige Web-Credibility zu verleihen.
Werbung und Kunst sind in der Vergangenheit schon bizarre Allianzen
eingegangen, nicht erst seit Pop-Art, mit zum Teil grandiosen Ergebnissen.
Man denke nur an die "Keks ist Fortschritt"-Plakate, die Kurt Schwitters in
den Zwanzigern für die Firma Bahlsen gestaltet hat, mit der Aufschrift: "In
jedem Fall handeln sie recht, wenn sie sich mit Keks versehen." Künstler
brauchten immer schon Brotjobs, selbst die dadaistische Avantgarde hat sich
nicht von alleine finanziert. Doch sind Coups solcher Art im Web 2.0 bisher
auch die Ausnahme geblieben.
Vorläufig muss man sich noch mit Facebook-Anfragen von "Opinion Leadern"
herumschlagen, im Sinne von: "XY ist jetzt ein Fan von Wella Trendvision
Hairstyling und möchte, dass du auch ein Fan davon wirst." Das mag den
"Opinion Leader" in kreativer Hinsicht wenig gefordert haben, aber wenn er
oder sie dafür einen kleinen Obolus bekommen hat, dann scheint sich das
Netzwerken tatsächlich mal gelohnt zu haben. Nein, die haarige Anfrage kam
nicht von Sascha Lobo. Denn dann wäre es vielleicht Kunst gewesen.
18 Mar 2010
## AUTOREN
Sebastian Ingenhoff
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