# taz.de -- Verfassungsgerichts-Präsident Voßkuhle: "Plebiszitäre Elemente s… | |
> Der neue Präsident des Bundesverfassungsgerichts Andreas Voßkuhle über | |
> sein Verhältnis zu Bürgerentscheiden, Käuflichkeit bei Volksvertretern | |
> und die Fortentwicklung des Grundgesetzes. | |
Bild: Andreas Voßkuhle, neuer Präsident des Bundesverfassungsgerichts. | |
taz: Herr Voßkuhle, seit man Ministerpräsidenten für Gespräche mieten kann, | |
sorgt sich Deutschland um den Ruf seiner politischen Klasse. Welche | |
Honorare verlangen eigentlich Sie als Präsident des | |
Bundesverfassungsgerichts für einen Vortrag vor Interessenvertretern? | |
Andreas Vosskuhle: Wenn ich Vorträge halte, gehört das zu meiner | |
Amtsausübung als Verfassungsrichter. Deshalb nehme ich dafür keinerlei | |
Honorare. Die Justiz lebt davon, dass sie vollkommen unabhängig ist. Sie | |
muss jeden Anschein der Käuflichkeit vermeiden. | |
Wie halten es die anderen Richter? Gibt es am Verfassungsgericht einen | |
Ethik-Code? | |
Unausgesprochen schon. Von geschriebenen Regeln halte ich in diesem | |
Zusammenhang aber nicht so viel. Sie führen eher zur Beruhigung, wo | |
eigentlich Wachsamkeit angebracht ist. Man kann die Nutzung von | |
Dienstfahrzeugen regeln, aber nicht Ethos, Charakter und Persönlichkeit. | |
In Umfragen sagen 75 Prozent der Deutschen, sie haben großes oder sehr | |
großes Vertrauen zum Bundesverfassungsgericht. Ist Ihnen das wichtig? | |
Ja. Ein gewisses Grundvertrauen der Bevölkerung ist sehr wichtig, damit im | |
Einzelfall auch unpopuläre Urteile akzeptiert werden. | |
Und wie reagieren Sie, wenn die Zustimmungsrate des Gerichts unter 70 | |
Prozent fällt? | |
Wir versuchen weiterhin, durch unsere Rechtsprechung zu überzeugen. An | |
Umfragewerten orientieren wir uns dabei selbstverständlich nicht, schon gar | |
nicht bei einzelnen Urteilen. | |
Das Vertrauen der Bevölkerung in Bundesregierung und Bundestag ist deutlich | |
geringer als die Zustimmung zum Verfassungsgericht. Ist es typisch, dass | |
Deutsche mehr Vertrauen in Richter haben als in Politiker? | |
Der Rechtsstaat war in Deutschland meist populärer als die Demokratie. Aber | |
ich habe den Eindruck, dass Leistungen der Politik in der Bevölkerung | |
durchaus anerkannt werden, zuletzt etwa der relativ erfolgreiche Umgang mit | |
der Finanz- und Wirtschaftskrise. | |
Oft profiliert sich das Verfassungsgericht auf Kosten der Politik, oder? | |
Nein, das ist nicht richtig. Das Bundesverfassungsgericht profiliert sich | |
nicht, sondern unsere Aufgabe ist es, die Verfassung zu interpretieren. | |
Allerdings nur dann, wenn wir vom Bürger, Verfassungsorganen oder auch der | |
Politik angerufen werden. | |
Bei der inneren Sicherheit schicken Sie Gesetze regelmäßig auf eine | |
Ehrenrunde. Die Politiker stehen als Deppen da, die keine | |
verfassungskonformen Gesetze machen können. Am Ende bekommt aber die | |
Polizei mit kleinen Korrekturen doch, was sie wollte. | |
Daran kann man doch auch sehen, dass der Gesetzgeber grundsätzlich gar | |
nicht so schlecht arbeitet. Wir dürfen mit unseren Entscheidungen dem | |
Gesetzgeber nicht den notwendigen politischen Spielraum nehmen. Das | |
entspricht auch der Verfassung, die den schonendsten Ausgleich | |
verschiedener Rechtspositionen verlangt. | |
Ist der große Gewinner in der öffentlichen Wahrnehmung nicht stets | |
Karlsruhe? | |
Man sollte Einzelfälle nicht überbewerten. Das Bundesverfassungsgericht hat | |
in 59 Jahren knapp 650 Gesetze und Verordnungen beanstandet, das ist nur | |
ein sehr kleiner Bruchteil aller von der Politik beschlossenen Normen. | |
Außerdem ist es auch ein großes Anliegen des Verfassungsgerichts, die | |
Offenheit und Vielfalt des politischen Prozesses zu wahren. | |
Was heißt das? | |
Das Verfassungsgericht versucht, die Offenheit für neue politische | |
Entwicklungen sicherzustellen. Es sichert die Spielräume des Parlaments | |
gegenüber der Exekutive, der Opposition gegenüber der Mehrheit und der | |
außerparlamentarischen Akteure gegenüber der etablierten Politik. Im | |
Interesse eines offenen politischen Diskurses hat das Gericht die | |
Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit gestärkt und zu Grundrechten | |
erklärt, die für die Demokratie "schlechthin konstituierend" sind. | |
Brauchen wir auch mehr Volksabstimmungen in der Politik? | |
Die parlamentarische Demokratie hat sich im Kern bewährt. Aber eine | |
Ergänzung durch plebiszitäre Elemente halte ich für sinnvoll, vor allem bei | |
Änderungen des Grundgesetzes. | |
Auch das dürfte vor allem dem Bundesverfassungsgericht nutzen. | |
Warum? | |
Wenn eine Grundgesetzänderung nur noch per Volksabstimmung - also eher | |
selten - möglich ist, liegt die Fortentwicklung des Grundgesetzes vor allem | |
in der Hand der Verfassungsrichter. | |
Es ist ja nichts Neues, dass das Bundesverfassungsgericht auch die | |
Zukunftsoffenheit des Grundgesetzes sicherstellt, zum Beispiel indem es | |
neue Grundrechte "erfindet", etwa das Grundrecht auf informationelle | |
Selbstbestimmung. In Anlehnung an die Rhetorik der digitalisierten Welt | |
könnte man sagen, es ist auch eine Aufgabe des Gerichts, den | |
verfassungsrechtlichen Quellcode zu pflegen. Die Verfassung ist eben nicht | |
nur etwas Gegebenes, sondern auch etwas - zur Fortentwicklung - | |
Aufgegebenes. | |
Das heißt, die Richter definieren letztlich den Maßstab selbst, an dem sie | |
das Handeln der anderen Staatsorgane messen? Ist Deutschland ein | |
Richterstaat und das Verfassungsgericht der eigentliche Souverän im Staat? | |
Das Bundesverfassungsgericht ist sicherlich ein einflussreiches | |
Verfassungsorgan, aber kein verdeckter Souverän. Die Richter müssen immer | |
verfassungsrechtlich argumentieren. Sie haben dabei nicht nur den Wortlaut | |
des Grundgesetzes zu beachten, sondern auch die bisherige Rechtsprechung | |
des Verfassungsgerichts, die inzwischen 123 Bände füllt. Außerdem sind | |
Entscheidungen des Straßburger Gerichtshofs für Menschenrechte ebenso zu | |
berücksichtigen wie Urteile des Europäischen Gerichtshofs in Luxemburg. Das | |
Bundesverfassungsgericht ist also nur ein Akteur, der im Zusammenspiel mit | |
anderen Akteuren um verfassungsmäßige Lösungen ringt. | |
Das Vertrauen der Bürger hat eine Kehrseite: Die 16 Verfassungsrichter | |
ertrinken in Arbeit. Wie lange geht das noch gut? | |
Wir haben derzeit rund 6.500 neue Verfahren pro Jahr. Im Augenblick ist die | |
Funktionsfähigkeit noch gewährleistet. Wenn die Eingänge aber weiter | |
ansteigen, ist bald die Grenze des Leistbaren erreicht. Dann muss das | |
Bundesverfassungsgericht zwingend entlastet werden. | |
Wollen Sie die Möglichkeit zur Verfassungsbeschwerde beschränken? | |
Nein. Zwar wäre es sinnvoll, wenn sich das Bundesverfassungsgericht auf | |
grundlegende Verfassungsfragen konzentrieren könnte. Allerdings wäre die | |
hohe Akzeptanz des Gerichts gefährdet, wenn Bürger nicht mehr in jedem | |
Einzelfall das Verfassungsgericht anrufen könnten. | |
Sollen die Verfassungsrichter mehr wissenschaftliche Mitarbeiter erhalten? | |
Nein. Ein fünfter Mitarbeiter wäre keine Lösung. Sie können bei der | |
Vorbereitung von Entscheidungen mitwirken. Jede Entscheidung muss aber von | |
den gewählten Verfassungsrichtern selbst verantwortet werden. Die Zuarbeit | |
hat insoweit natürlich Grenzen. | |
Das haben Kritiker vor der Einführung des vierten Mitarbeiters auch gesagt | |
und jetzt funktioniert es trotzdem gut. | |
Mag sein. Aber damit ist der Weg der Personalaufstockung nun wirklich | |
ausgereizt. | |
Wie aber wollen Sie denn dann die Verfassungsrichter entlasten? | |
Es gibt da verschiedene Möglichkeiten, die aber zunächst intern diskutiert | |
und durchdacht werden müssen. | |
Soll der Bundespräsident im Vorfeld die Gesetze intensiver prüfen? | |
Das halte ich für keine gute Idee. Der Bundespräsident hat lediglich ein | |
formales Prüfungsrecht. Nur in ganz offensichtlichen Ausnahmefällen kann er | |
einem Gesetz wegen inhaltlicher Mängel die Unterschrift verweigern. Die | |
inhaltliche Verfassungsprüfung von Gesetzen ist grundsätzlich Aufgabe des | |
Bundesverfassungsgerichts, das hierfür über die entsprechende Organisation | |
und das Know-how verfügt. Der Bundespräsident ist nicht unbedingt selbst | |
Jurist und müsste sich daher auf die Zuarbeit weniger, nicht speziell | |
legitimierter Mitarbeiter und Gutachter verlassen. | |
Herr Voßkuhle, was ist eigentlich Ihre persönliche verfassungspolitische | |
Agenda, die Sie verfolgen? | |
Nach Karlsruhe kommt man nicht mit einer persönlichen Agenda. Das | |
Bundesverfassungsgericht ist kein Ort der individuellen | |
Selbstverwirklichung. Es ist ein Ort der Pflicht und der Aufgabe. | |
Ihr Vorgänger, Hans-Jürgen Papier, hat in seinen Vorträgen oft eine | |
Reduzierung der Staatsaufgaben angemahnt, damit der Sozialstaat auch | |
zukunftsfähig bleiben kann. Was sind denn Ihre Ziele? | |
Mein Ziel ist, das hohe Ansehen des Bundesverfassungsgerichts zu wahren und | |
zu mehren und seine Funktionsfähigkeit und die Qualität seiner | |
Rechtsprechung zu erhalten. | |
Bei Ihrer Wahl vor zwei Jahren sagten Sie noch, Sie stehen den | |
Grundpositionen der Sozialdemokratie nahe. Das muss für Sie doch | |
irgendetwas bedeuten, oder? | |
Sozialdemokratie bedeutet für mich in erster Linie Sympathie und Interesse | |
für die Nichtmächtigen in der Gesellschaft, staatliche Verantwortung für | |
die Gemeinwohlverwirklichung, Solidarität unter den Bürgerinnen und Bürgern | |
sowie den Willen, die gesellschaftlichen Verhältnisse zu verbessern im | |
Sinne einer grundsätzlichen Reformbereitschaft. Allerdings ist auch ohne | |
Eigeninitiative kein Staat zu machen. Im Verhältnis von Staat und Bürger | |
müssen immer beide Pole - Schutz und Freiheit - im Blick bleiben. | |
18 Mar 2010 | |
## AUTOREN | |
Christian Rath | |
Christian Rath | |
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Bundesrat | |
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