# taz.de -- Island in der Wirtschaftskrise: Land unter | |
> Als die Krone noch stark war, finanzierten sich Häuslebauer ihr Eigenheim | |
> mit Krediten in Fremdwährung. Ein fataler Fehler. Jetzt sitzen viele auf | |
> einem hohen Schuldenberg. | |
Bild: Banker auf der Flucht? "Heute ist keiner in der Branche mehr besonders st… | |
REYKJAVIK taz | "Die Mikrowelle ist 19 Jahre alt, das Sofa, auf dem du | |
sitzt, von der Oma übernommen, der Fernseher eine alte Röhre", zählt die | |
38-jährige Gudrun Johanna Olafsdottir auf. "Das Gerücht, alle Isländer | |
hätten wie wahnsinnig Geld ausgegeben, stimmt nicht." | |
Olafsdottir wohnt mit ihren drei Kindern, zwei Mädchen und einem Jungen, in | |
Reykjavík 104, einem schönen Bezirk ein paar Kilometer östlich der | |
Innenstadt. Es gibt einen Park und sogar Bäume - recht untypisch für | |
Island. Die Häuser sind mehrgeschossig, sie drücken einen gewissen Stolz | |
aus. | |
Olafsdottirs Wohnung befindet sich im Obergeschoss einer Doppelhaushälfte. | |
Sie ist fast zu 100 Prozent kreditfinanziert. Für ihren Kauf vor drei | |
Jahren hatte Olafsdottir über 17 Millionen Kronen aufgenommen, mit | |
variablem Zinssatz, der sich in Island am Index für Konsumgüter orientiert. | |
Der Kredit war ein Fehler, wie sie heute eingesteht, doch die Bank hatte | |
ihr dazu geraten, und es ist isländische Tradition, ins Eigenheim zu | |
investieren. Miete zahlen, das war etwas für Ausländer und Studenten. | |
"Ich fühle mich in meiner eigenen Wohnung wie im Gefängnis. Ich kann sie | |
einerseits nicht verkaufen und habe andererseits Angst, sie zu verlieren", | |
seufzt Olafsdottir. Die Wohnung hat nur dreieinhalb Zimmer, doch das ist | |
nicht das Problem. "Das Problem sind die absurd hohen Kreditzinsen", sagt | |
Olafsdottir. | |
Nun soll Gudrun Olafsdottir für ihren 17-Millionen-Kronen-Kredit 22 | |
Millionen Kronen zurückzahlen. Sollte das Apartment schließlich | |
zwangsversteigert werden, würden höchstens 10 bis 12 Millionen Kronen | |
erzielt. Die restlichen Zinsschulden würden vollständig bleiben - und | |
weiter steigen. Ihr Auto hat sie schon aufgeben müssen, das habe sie | |
hingenommen, sagt Olafsdottir. Die Schulen von ihren Kindern und die ihre | |
Freunde seien in der Nachbarschaft, auch der Vater wohnt in der Nähe. | |
"Ich bin in Schweden aufgewachsen. Ich habe Logistik studiert. Wenn ich den | |
Kindern nicht ihre Heimat und den Vater nehmen würde, wäre ich schon weg. | |
Aber sie sind noch zu jung." Nachdem ihre Stelle bei Microsoft im Zuge der | |
Finanzkrise verloren hatte, fand sie wieder Arbeit bei einer Firma, die | |
Obst und Gemüse importiert. Dort verdient sie 15 Prozent weniger als im | |
alten Job. Dabei sind die Preise für fast alle Waren des täglichen Bedarfs | |
kräftig gestiegen - Reis um 130 Prozent, Benzin um 45, Jeans um 60, selbst | |
Fisch ist um bis zu 20 Prozent teurer geworden. Die Währung Krone ist sehr | |
schwach. Mit der Inflation steigen die Kreditzinsen. | |
Seit dem 1. Januar 2010 hat die alleinerziehende Mutter die Begleichung | |
ihrer Raten bis auf weiteres eingestellt. "Ich zahle ja nur die Zinsen ab, | |
nichts von dem Kredit an sich", sagt Olafsdottir. So verfahren inzwischen | |
viele Betroffene. | |
Ähnlich fatal wirkt für viele Isländer ein anderes ungewöhnliches | |
Finanzierungsmodell, das die Berater bis zum Crash im Herbst 2008 | |
massenhaft anpriesen. Bankkunden wurden angehalten, Kredite in fremder | |
Währung aufzunehmen, weil die isländische Krone lange überbewertet war. | |
2005 bekam man für einen Euro etwa 70 Kronen. Inzwischen liegt der | |
Wechselkurs bei 1 zu 170. | |
"Die isländische Zentralbank unterstützte die Politik der | |
Fremdwährungskredite", sagt Axel Pétur Axelsson, der sich ehrenamtlich bei | |
der Organisation Heimilin engagiert. Heimilin bedeutet "Heim" oder | |
"Zuhause". Der Verein unterstützt überschuldete Wohnungseigentümer auf der | |
Suche nach Solidarität und juristischem Rat. "Für mich ist das isländische | |
Finanzsystem kriminell. Das Prinzip, Kreditzinsen an den | |
Verbraucherpreisindex oder an den Wechselkurs ausländischer Währungen zu | |
binden, ist kriminell." In letzterem Falle scheint es jetzt einen | |
Hoffnungsschimmer zu geben. Möglicherweise war diese Art von Krediten in | |
Fremdwährung nicht legal. Doch bis die Gerichte Konkretes entschieden | |
haben, wird noch viel Zeit vergehen und werden noch viele Häuser geräumt | |
werden. | |
Nach Angaben von Heimilin sind zehntausende Familien so hoch verschuldet, | |
dass sie mit ihrem eigenen Einkommen die finanziellen Ansprüche nicht mehr | |
decken können. Nicht allen droht der unmittelbare Wohnungsverlust, doch für | |
die nicht mal 320.000 Einwohner der Vulkaninsel hat die Finanznot | |
ernsthafte Konsequenzen. | |
Erstmals seit mehr als 100 Jahren wandern mehr Leute ab, als neue Bürger | |
geboren werden. Wie etwa der 32-jährige Halldór Gunnar Halldórsson. Er und | |
seine Familie ziehen bald nach Norwegen. Er hat dort Arbeit gefunden und | |
wird nach Ostern anfangen. Seine Frau und die beiden Kinder kommen im Mai | |
nach, wenn das Schuljahr endet. Halldór ist Handwerker und spezialisiert | |
auf Fußbodenbau. Wohin genau sie in Norwegen ziehen, das will er nicht | |
verraten. Er hat Angst, dass die Banken, Anwälte und Insolvenzverwalter ihn | |
suchen. Halldór berichtet von einem Mann, der sein Haus mit einem Bulldozer | |
zerstörte, als er ausziehen und es an den Gerichtsvollzieher übergeben | |
sollte. | |
"Sie haben versucht, das Wasser zu besitzen - in Island, wo es gigantische | |
Gletscher und Wasser im Überfluss gibt. Sie haben die Fischquoten | |
eingeführt und unter ihren Reedereien aufgeteilt. Und vor nicht einmal zehn | |
Jahren haben sie die Banken privatisiert und uns damit ruiniert", zählt | |
Halldór auf und meint damit das Netzwerk des isländischen Geldadels, das | |
weiterhin intakt sei und von den Isländern seit Jahrzehnten "Kolkrabbi" - | |
Krake - genannt wird. Den Gegenwert seines Hauses habe er längst abbezahlt, | |
trotzdem hat er es aufgeben müssen und wohnt zurzeit mit vier Personen auf | |
70 Quadratmetern zur Miete. Noch immer seien Forderungen in Höhe von 15 | |
Millionen Kronen gegen ihn offen, klagt Halldór. Er wird so bald nicht nach | |
Island zurückkehren können. "Ich werde die Natur und die hellen | |
Sommernächte vermissen", überlegt er, "aber Island wird von einer | |
Finanzmafia regiert." | |
Letztes Wochenende wurde bekannt, dass die neuen Banken die Schuldbriefe | |
der alten Banken für die Hälfte des Wertes übernommen haben. Den Rabatt | |
wollen sie an die Hausbesitzer aber nicht weitergeben. Die reprivatisierte | |
Islandsbanki, im letzten November aus der insolventen und verstaatlichten | |
Bank Glitnir hervorgegangen, reagiert auf keine Interviewanfrage. Die | |
Arion-Bank, ehemals Kaupthing, ist mit einem anderen Skandal beschäftigt. | |
Auf der Internetplattform Wikileaks, auf der Dokumente hochgeladen werden, | |
die eigentlich geheim sein sollen, wurde eine interne 520-seitige Liste | |
veröffentlicht, die detailliert Auskunft über die insgesamt 28.167 | |
Ansprüche von Gläubigern gibt. | |
Tausende Einzelpersonen sind namentlich und mit Art und Höhe ihrer Einlage | |
aufgeführt. Das Papier des Kaupthing-Abwicklungskomitees verrät auch, dass | |
Global Player wie Goldman Sachs, Deutsche Bank, Credit Suisse oder die | |
Commerzbank riesige Summen angelegt hatten, diese wurden mit isländischem | |
Volkseigentum abgesichert, etwa Rentenfonds und Fischquoten. Insgesamt | |
sollen sich die Ansprüche laut Wikileaksdokument auf 40 Milliarden Euro | |
belaufen - mehr als das Dreifache des isländischen Bruttoinlandsproduktes. | |
Ein Mitarbeiter der Sparkasse "Byr" sagt: "Früher waren Banker Popstars, in | |
den isländischen Celebraty-Magazinen abgebildet." Der Banker ist 32 Jahre | |
alt, er will anonym bleiben. "Heute ist keiner in der Branche mehr | |
besonders stolz auf seinen Job." Er ist der Meinung, dass die Banken es | |
sich nicht leisten können, auf die Zahlungen der Hauseigentümer zu | |
verzichten. Eine Mitverantwortung will er nur bedingt einräumen, er schiebt | |
die Schuld auf die Politiker, die die Expansion der Banken unterstützt | |
hättem, die Gesetze seien zu locker gewesen. | |
Die verschuldeten Banken holen es von den verschuldeten Eigenheimbesitzern | |
wieder rein. Vor dem Parlament Alzingi in Reykjavík wird seit Monaten | |
wieder an jedem Wochenende demonstriert. "Beschützt die Häuser, nicht die | |
Banken!", skandieren die Menschen. | |
22 Mar 2010 | |
## AUTOREN | |
Philipp Boerger | |
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