# taz.de -- Gedenken: Totenstille auf Gleis 2 | |
> Im Spandauer Bahnhof besuchen viele Reisende spontan den "Zug der | |
> Erinnerung" an die Nazi-Vergangenheit der Bahn. Die verlangt dafür | |
> kräftig Miete. | |
Bahnhof Spandau, halb elf Uhr morgens. Trollis rattern, aus den Geschäften | |
lärmt Musik, aus den Lautsprechern die Zugdurchsage. Pendler, Schüler, | |
Umsteiger hetzen die Treppen hoch zu den Bahnsteigen. "Wohin fährt denn der | |
Zug hier?" Ein Reisender studiert irritiert die Anzeigentafel. Die kündigt | |
die S75 Richtung Wartenberg an. Doch der Zug an Gleis 2 des Spandauer | |
Bahnhofs fährt heute nirgendwo hin. Inmitten des Bahnhofslärms gedenkt der | |
"Zug der Erinnerung" der Kinder und Jugendlichen, die die Nazis mit der | |
Bahn in Konzentrationslager verschleppt und ermordet haben. | |
"Den Lärm nehmen wir gern in Kauf, wenn wir dafür auf einem lebendigen | |
Bahnhof stehen und nicht auf irgendeinem Abstellgleis", sagte Dietrich | |
Bernd vom evangelischen Kirchenkreis Spandau zur Eröffnung. Bis zuletzt | |
hatte er sich gemeinsam den Initiatoren des Ausstellungsprojekts und | |
Lokalpolitikern dafür stark gemacht, dass der "Zug der Erinnerung" in | |
Spandau einfahren darf. Harte Verhandlungen mit der Deutschen Bahn gingen | |
dem voraus und damit wiederholen sich die Querelen, die den Zug auch vor | |
zwei Jahren bei seiner ersten Fahrt durch Berlin begleitet hatten. | |
Schon 2008 hatte die Deutsche Bahn mit Hinweis auf die betrieblichen | |
Abläufe immer wieder die Einfahrt des Zuges an großen Bahnhöfen Berlins | |
verwehrt oder verzögert. Auch für Spandau gab es in diesem Jahr erst drei | |
Tage zuvor grünes Licht, die nächsten Stationen Schöneweide und | |
Friedrichstraße standen lange nicht fest. Jetzt aber steht der Zug hier, | |
die ersten Ausstellungsbesucher besteigen die schmalen Stufen in die alten | |
Waggons. | |
"Das ist so erdrückend da drin, ich wollte erst gleich wieder raus." | |
Eigentlich war Monica Ulbrich auf dem Weg nach Hause, rechts und links | |
trägt sie Einkaufstasche und Bastkorb. Doch jetzt schiebt sich die | |
60-Jährige mit einigen anderen durch die engen Gänge. Es ist merkwürdig | |
still, als hätte selbst der dröhnende Lärm des Bahnhofs Respekt vor dem | |
Gedenken. In den Abteilen des Zugs hängen große Porträts von lachenden | |
Kindern. "Wir wollten nicht das Grauen der Deportationen zeigen, die | |
Leichen. Sondern die Hoffnung der Kinder auf Leben", sagt Hans-Rüdiger | |
Minow, Vorsitzender des Vereins "Zug der Erinnerung". In knappen Biografien | |
bekommen die Gesichter einen Namen und eine Geschichte. Sie endet immer | |
tödlich: in Auschwitz, Treblinka, Theresienstadt und anderen | |
Konzentrations- und Vernichtungslagern. | |
"Das sind ja alles Kinder, die nie leben durften und die so viel Leid | |
erfahren mussten in ihren kurzen Leben." Renate Frohwein stützt sich auf | |
ihre Tochter, mit Tränen in den Augen. Sie hatte selbst einen jüdischen | |
Bruder, der im Zweiten Weltkrieg starb. Seit Jahrzehnten lässt sie das | |
Thema nicht los, deshalb ist sie auch heute zum "Zug der Erinnerung" | |
gekommen. "Man darf das nie vergessen und muss es von Generation zu | |
Generation weitertragen." Viele Besucher haben Blumen mitgebracht. | |
Getrocknete Rosen erinnern an die, die schon hier waren. | |
Doch die Ausstellung will nicht nur gedenken, sondern auch mahnen. Einer | |
der Waggons ist den Tätern, den Verantwortlichen bei der Reichsbahn und dem | |
Umgang der Bundesbahn (bis 1993) und Deutsche Bahn mit dem Thema gewidmet. | |
Umgerechnet 445 Millionen Euro soll die Reichsbahn bis 1945 mit dem | |
Transport in die Konzentrationslager verdient haben. Geld, das die SS den | |
Deportierten abgenommen und pauschal pro Person und Kilometer an die Bahn | |
weitergereicht habe. Geld, das nie wieder aufgetaucht sei. "Das ist doch | |
unglaublich. Die Deutsche Bahn müsste alles an die noch Lebenden | |
zurückzahlen, mit Zins und Zinseszins", empört sich Renate Frohwein am Ende | |
der Ausstellung. | |
Auch Vereinsvorsitzender Minow hatte lange gehofft, dass sich Vertreter der | |
Deutschen Bahn mit den Überlebenden an einen Tisch setzen würde. Ohne | |
Ergebnis: "Mit diesem Kapitel ihrer Geschichte wird die Bahn nicht gern | |
konfrontiert." Nach 1945 hätten hochrangige Reichsbahnmitarbeiter bei der | |
Deutschen Bundesbahn weitergearbeitet. Auch damals hätte das Unternehmen | |
jede Mitwirkung an den Deportationen von sich gewiesen, so Minow. "Es | |
besteht die Gefahr, dass die Bahn wieder in dieselben Strukturen | |
zurückfällt." Rund 1.000 Euro müsse der Verein für jeden Tag zahlen, den | |
der Zug in einem Bahnhof der Deutschen Bahn steht. "Die Bahn behandelt uns | |
wie ein ,betriebliches Ereignis'. Ob wir nun der Opfern der Deportationen | |
gedenken oder irgendwelche Güter transportieren - das macht für die Bahn | |
keinen Unterschied", sagt Minow. Eine moralische Verantwortung werde, | |
damals wie heute, ausgeblendet. | |
Renate Frohwein steigt mit schweren Schritten aus dem letzten Waggon. | |
"Eigentlich wollte ich noch einkaufen gehen, aber das kann ich nach alldem | |
heute nicht mehr." Auch eine Schulklasse hat das Ende der Ausstellung | |
erreicht. "Der normale Geschichtsunterricht gibt die Informationen zu den | |
Verbrechen der Nazis, aber nachfühlen können die Schüler es nicht", sagt | |
Geschichtslehrer Andreas Rösler. Zwei seiner SchülerInnen werfen klimpernd | |
ein paar Münzen in eine Spendenbox. "Damit der Zug weiterfahren kann." | |
16 May 2010 | |
## AUTOREN | |
Manuela Heim | |
## TAGS | |
Zwangsarbeit | |
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