# taz.de -- Zum Tod von Louise Bourgeois: Verführung zur Kunst | |
> Sie ließ Brüste hervorschießen wie Pilze und lockte mit der Einladung, | |
> auf intimes Terrain vorzustoßen: die Künstlerin Louise Bourgeois. Am | |
> Montag starb sie im Alter von 98 Jahren. | |
Bild: Louise Bourgeois 1990 in Barcelona | |
Sie in Erinnerung zu behalten, ist einfach: So, wie Robert Mapplethorpe | |
Louise Bourgeois 1982 fotografiert hat, 71 Jahre alt, im Affenfellmantel, | |
wach und lachend, unter den Arm wie ein Baguette ihre phallische Skulptur | |
"Filette" geklemmt. Schon in den taktilen Oberflächen passt da alles | |
zusammen, man glaubt es mit den Augen berühren zu können: die Zotteln des | |
Fells, die Fältchen im Gesicht und auf der erstaunlich großen Hand und die | |
poröse, geäderte Struktur des Riesenschwanzes mit dem weiblichen Namen. | |
Dass die Skulptur aus dem Jahr 1968 auch eine kleine Vagina hat, sieht man | |
nicht; aber nicht zuletzt das Wissen davon, denkt man, lässt die | |
Bildhauerin so vergnügt lachen. | |
Mapplethorpes Porträt von Louise Bourgeois ist selbst zu einer Ikone | |
geworden. Es steht für ein unprätentiöses Verhältnis zum eigenen Werk, für | |
einen verschmitzen Witz und die Kalkulation mit der Überraschung des | |
Betrachters, und es steht für eine Strategie, die die Sexualität als Thema | |
ganz weit in den Vordergrund schiebt, um sich dahinter umso besser auf die | |
Kunst konzentrieren zu können. Das Porträt markiert aber auch einen | |
entscheidenden Punkt in einer ungewöhnlichen Laufbahn: Es entstand, als | |
Bourgeois mit 71 Jahren ihre erste Retrospektive im Museum of Modern Art in | |
New York erhielt. Es war die späte und machtvolle Anerkennung einer | |
Künstlerin, die darauf lange warten musste. | |
Blickt man von heute aus zurück, dann weiß man, dass dies zugleich der | |
Auftakt zu einem außerordentlichen Spätwerk war, in dem sich die | |
Künstlerin, anders als in den Jahrzehnten zuvor, der Aufmerksamkeit eines | |
großen Publikums immer sicher sein konnte. Ob sie das genießen konnte? Man | |
wünscht sich das, man hofft es, und glaubt es bestätigt zu sehen in der | |
Entwicklung einer visuellen Sprache, die in immer größeren Maßstäben | |
dachte. Neben Zeichnungen und Skulpturen wie den berühmten Spinnen, | |
zwischen deren vier, fünf Meter langen Beinen Platz für große Käfige war, | |
entstanden bühnenähnliche Kabinette, die den Betrachter direkt einluden, | |
den dramatischen Schauplatz zu betreten, auf dem die Künstlerin | |
Erinnerungen und Gefühle verhandelte. Und wenn von ihrer Kindheit als | |
Ursprungsort der traumatischen Szenarien die Rede war, so fühlte die | |
Betrachterin sich selbst geschrumpft wie Lewis Carrolls Alice und | |
zurückgedrängt in ein Kindheitsmuster aus Staunen und Entsetzen vor dem | |
Unbekannten. Dafür sorgten die mit vielen überlebensgroßen Symbolen der | |
Sexualität besetzten Szenarien, die einer Interpretation à la Freud großen | |
Vorschub leisteten. | |
Am Montag ist Louise Bourgeois im Alter von 98 Jahren an einer Herzattacke | |
gestorben, in Manhattan, wo sie lebte und noch immer ein Atelier | |
unterhielt. Seit April zeigt die Neue Nationalgalerie Berlin in ihrer | |
Surrealisten-Dependance eine Sonderausstellung, "Double Sexus", mit Werken | |
von Louise Bourgeois und Hans Bellmer. Für eine Reise nach Berlin reichte | |
ihre Kraft zwar nicht mehr, aber von Manhattan aus nahm sie lebhaften | |
Anteil an der Gegenüberstellung, überredete private Leihgeber und | |
entschied, wie sie in den Dialog mit dem Surrealisten einsteigen wollte. | |
Dabei hatte der Vergleich mit den Surrealisten ihre Rezeption lange | |
belastet. Louise Bourgeois kam 1911 in Paris zur Welt, die Eltern betrieben | |
eine Restaurierungswerkstatt für Teppiche. Sie studierte kurze Zeit | |
Mathematik, dann Kunst, unter anderem bei Fernand Léger und zog 1938 mit | |
ihrem Mann, dem amerikanischen Kunsthistoriker Robert Goldwater, nach New | |
York. Der Vergleich mit den Surrealisten belegte sie eine Zeit lang mit dem | |
Makel des Epigonalen, bis ihre Eigenständigkeit erkannt wurde. Gerade auch | |
von Kuratorinnen wie Lucy Lippard, die sich für eine größere Sichtbarkeit | |
von Künstlerinnen einsetzte und Louise Bourgeois 1966 in New York unter dem | |
Titel "Eccentric Abstraction" ausstellte. | |
Schon in ihren frühen Zeichnungen und Skulpturen war immer eine große | |
Körperlichkeit gegenwärtig, die formal - und das macht sie als Bildhauerin | |
so groß - sehr viele und unterschiedliche Ausführungen erfährt. In den | |
Vierziger- und Fünfzigerjahren entstanden schlanke, amorphe Figuren, aus | |
Holz oder Bronze, die mit sehr geringem Materialeinsatz ein erstaunliches | |
Spektrum an Bewegungen und Haltungen aufführten. Im Vergleich mit den | |
späteren Volumen und üppig blühenden, expandierenden Formen aus Gewölbtem | |
und Vorgestülpten, aus Brüsten und Phalli, die wie Pilze hervorschießen und | |
ganze Landschaften bilden, wirkt diese Phase eher knöchern und spartanisch. | |
Hier verströmte sich noch nichts, hier ging es ums Festziehen und Halten, | |
Konzentrieren und Bündelung von Energien. | |
Das Bedürfnis des verletzbaren Körpers nach Schutz einerseits und die | |
Notwendigkeit des Aufbruchs andererseits bringt sie auch in vielen | |
Zeichnungen zusammen. In den Neunzigerjahren zum Beispiel ganz einfach: Sie | |
zeichnet Türen und Fenster in einen Schuh, der somit auch zum Haus wird und | |
so die Wünsche zu gehen und zu bleiben gleichermaßen ausmalt. | |
Gerade dass sich ihr Werk immer wieder veränderte, neue Materialien wie | |
Latex und Marmor dazukamen und sie sowohl einen klassischen Skulpturbegriff | |
bediente als auch Wege weg von jeder definierten Form fand, machte ihre | |
Ästhetik so interessant. Die Ebene der Titel, die oft das Vokabular der | |
Psychoanalyse aufriefen wie "Die Vernichtung des Vaters", kam als ein | |
zusätzliches Instrument hinzu. Seitdem Louise Bourgeois durch ihren Erfolg | |
auch zu einer öffentlichen Figur wurde, betonte sie in Gesprächen gerne die | |
Instrumentalisierung ihrer Kunst als Strategie zur Bewältigung psychischer | |
Krisen und von Kindheitstrauma. Sie sagte zum Beispiel: "Ich fürchte die | |
Macht. Sie macht mich ängstlich. Im realen Leben, da identifiziere ich mich | |
mit dem Opfer. Das ist der Grund, weshalb ich in die Kunst gegangen bin." | |
Solche Statements haben zwar einerseits zur Popularität von Louise | |
Bourgeois beigetragen, legen sie doch nahe, in ihrer Biografie einen | |
Schlüssel für ihre Werke zu finden. Sie funktionieren, besonders in ihrem | |
Spätwerk, als Einladung, auf intimes Terrain zu kommen und mit Geheimnissen | |
belohnt zu werden. Damit sind sie aber andererseits eine geschickte | |
Strategie der Verführung zur Kunst, die dann doch nicht in den | |
Entschlüsselungen aufgehen muss. Bis man das merkt, ist man schon so sehr | |
von ihren anderen Qualitäten, das Sehen zu locken, das Sensorium von | |
körperlichen Empfindungen und Gefühlen aufzurufen, eingenommen, dass die | |
Nichteinlösung des Versprechens keine Rolle mehr spielt. | |
Der feministischen Kunstszene, die in den USA und Europa in den | |
Siebzigerjahren entstand, galt Louise Bourgeois als eine große Patin, die | |
das Aufbrechen des Primats des männlichen Blicks auf den Körper und die | |
Sexualität vorgemacht hatte. 1971 druckte das Arts Magazine von ihr einen | |
Kommentar zur Benachteiligung von Künstlerinnen: "Eine Frau hat als | |
Künstlerin keinen Platz, ehe sie nicht wieder und wieder beweist, dass man | |
sie nicht länger aussondern kann." Mit ihrer großen Produktivität hat sie | |
auch dafür gesorgt, sich ihren Platz zu nehmen und heute in vielen Museen | |
der Welt präsent zu sein. | |
1 Jun 2010 | |
## AUTOREN | |
Katrin B. Müller | |
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Japan | |
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