| # taz.de -- Gewalt in Kolumbien: Die Hingerichteten von Soacha | |
| > Elf Einschusslöcher, eines zwischen den Augenbrauen. Víctor Fernandez | |
| > Gómez musste sterben, weil die kolumbianische Armee Erfolge in der | |
| > Guerillabekämpfung brauchte. | |
| Bild: Straßenszene in Cartagena, Kolumbien. | |
| Am 23. August 2008 verschwand Víctor Fernando Gómez aus Soacha, der | |
| trostlosen Vorstadt im Süden Bogotás. Man habe ihm eine gut bezahlte Arbeit | |
| in Nordkolumbien versprochen, berichtet seine Mutter Carmenza. Zwei Tage | |
| später war der 23-Jährige tot, erschossen als angeblicher Guerillero im | |
| Kriegsgebiet bei Ocaña, 600 Kilometer von seiner Heimat entfernt. | |
| "Ich bin zusammengebrochen, als ich es am 2. September erfahren habe", sagt | |
| Carmenza Gómez. In der Gerichtsmedizin zeigte man ihr ein Foto ihres | |
| Lieblingssohnes, er hatte elf Einschusslöcher im Körper, eines davon | |
| zwischen den Augenbrauen. Sie lieh sich Geld, mietete einen Leichenwagen | |
| und holte Víctor ab. "Hier liegen noch mehr Jungs aus Soacha in | |
| Massengräbern, die die Armee umgebracht hat", erfuhr sie. "Wollen Sie mit | |
| der Presse reden?" Carmenza Gómez wollte. "Ich werde diesen verfaulten | |
| Sumpf aufdecken, selbst wenn sie mich umbringen", sagt sie bestimmt. | |
| Zusammen mit fünf anderen Frauen sitzt die 54-Jährige im Büro der | |
| Menschenrechtsgruppe Fedes, die vom Aachener Hilfswerk Misereor unterstützt | |
| wird. Die "Mütter von Soacha", wie sie in Kolumbien heißen, haben | |
| vergrößerte Porträtfotos ihrer Söhne mitgebracht, viele haben noch | |
| kindliche Züge. Ihre Geschichten weisen grausige Parallelen auf. Die | |
| Hingerichteten wurden in neue Uniformen und Stiefel gesteckt, einem | |
| Linkshänder wurde ein Gewehr in die rechte Hand gedrückt. | |
| In den Backsteinhäusern und Wellblechhütten Soachas, die direkt an die | |
| Hauptstadt angrenzen, leben fast eine Million Menschen, und Tag für Tag | |
| werden es mehr. Zehntausende von ihnen sind "Binnenflüchtlinge", Opfer des | |
| bald 50 Jahre währenden Krieges in Kolumbien. In Soacha ist die | |
| Arbeitslosenquote doppelt so hoch wie im Rest des Landes. Der Riesenslum, | |
| der sich in die grünen Hügel hineinfrisst, bleibt Rekrutierungsgebiet für | |
| Guerilleros und Paramilitärs. | |
| Der Armee haben auch die zwei Männer zugearbeitet, die Víctor Fernando | |
| Gómez anwarben und in den Tod lockten - eine Staatsanwältin hat seine | |
| letzten Stunden rekonstruiert. Zusammen mit seinen Häschern und zwei | |
| weiteren jungen Männern blieb er nach einer langen Busfahrt bei Schnaps und | |
| Drogen in einem Haus in der Provinzstadt Ocaña. Am Abend des 24. August | |
| holte ein Heeresoffizier die drei Ahnungslosen in einem roten Auto ab. Am | |
| nächsten Morgen hieß es, sie seien "im Gefecht gefallen". | |
| Wochen nach dem Auftritt von Carmenza Gómez vor den Provinzmedien und dank | |
| des Engagements linker Oppositionspolitiker war der Skandal um die | |
| Hingerichteten aus Soacha nicht mehr zu verheimlichen. | |
| Verteidigungsminister Juan Manuel Santos ging in die Offensive, sprach von | |
| Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Ende Oktober 2008, die | |
| UN-Menschenrechtskommissarin weilte gerade im Lande, wurden drei Generäle | |
| und 24 weitere Soldaten suspendiert. Heereschef Mario Montoya trat wenig | |
| später zurück und bekam einen Botschafterposten. | |
| Als "Spitze des Eisbergs" bezeichnet Philip Alston, | |
| UN-Sonderberichterstatter für außergerichtliche Hinrichtungen, die Fälle | |
| aus Soacha - er geht von mindestens 23 aus. "Falsos positivos", falsche | |
| Positivmeldungen, heißen sie im Orwell-Neusprech von Präsident Álvaro | |
| Uribe. Ein ausgeklügeltes Anreizsystem versprach den Uniformierten und | |
| ihren Helfern Belohnungen, Beförderungen oder Sonderurlaub bei Erfolgen im | |
| Antiguerillakampf, die Armeeführung brüstete sich damit. | |
| Ab 2004, zwei Jahre nach dem Amtsantritt Uribes, hätten sich die Fälle mit | |
| "verstörender Häufigkeit in ganz Kolumbien" verbreitet, heißt es in Alstons | |
| Bericht, den die UNO Ende Mai veröffentlicht hat. Genaue Zahlen gibt es | |
| nicht. Die Staatsanwaltschaft ermittelt in über 2.300 solcher Fälle, 125 | |
| der Opfer waren minderjährig. Weitaus höher liegt die Dunkelziffer, | |
| Menschenrechtsgruppen haben mehr als 3.000 Fälle dokumentiert. So knüpfen | |
| die Paramilitärs an die alte, berüchtigte Praxis der "sozialen Säuberungen" | |
| an, die sich vor allem gegen Jugendliche aus Armenvierteln richtet. | |
| Die Leidensgeschichte von Carmenza Gómez ist noch nicht zu Ende. Nach dem | |
| Tod Víctors stellte sein Bruder John Nachforschungen auf eigene Faust an. | |
| "Dann begannen die Anrufe. Er sollte den Mund halten und sich aus der Sache | |
| heraushalten", erinnert die Mutter. Im Oktober stießen zwei Polizisten John | |
| von einer Brücke, er wurde schwer verletzt. | |
| Vier Monate später bestellte man ihn zu einem Laden. "Zwei Typen kamen mit | |
| einem Motorrad. Einer stieg ab, zog eine Pistole mit Schalldämpfer, ging in | |
| den Laden und schoss drei Mal. Ein Schuss traf John in den Mund, er fiel | |
| ins Koma", sagt Carmenza Gómez mit tränenerstickter Stimme. "Am Morgen | |
| darauf starb er im Krankenhaus von Soacha." | |
| Für die kolumbianische Regierung, die sich für ihre Politik der harten Hand | |
| feiern lässt, haben sich die "falsos positivos" zum größten PR-Desaster der | |
| letzten Jahre ausgewachsen. Doch im Präsidentenpalast wiegelt der | |
| Menschenrechtsbeauftragte Carlos Franco ab. Die Opfer von Soacha hätten | |
| sich auf einen illegalen Deal eingelassen, das wisse er von einem | |
| Kronzeugen. | |
| "Man hat ihnen 5.000 Dollar für Drogengeschäfte oder Entführungen | |
| versprochen", poltert Franco. 100 Tonnen Koka würden im Catatumbo, der | |
| Gegend hinter Ocaña, jährlich produziert, Gesamtumsatz: 1,5 Milliarden | |
| Dollar. Korrupte Uniformierte hätten mit "kriminellen Banden" unter einer | |
| Decke gesteckt, und diese Allianz habe auch die "falsos positivos" aus | |
| Soacha auf dem Gewissen. Von Paramilitärs will er nicht reden - "die gibt | |
| es nicht mehr". | |
| Franco zählt 15 Maßnahmen auf, die mit Hilfe der Streitkräfte den | |
| Menschenrechten mehr Achtung verschaffen sollen. "Mein Büro hat die | |
| Soacha-Affäre aufgedeckt", behauptet er. Und was ist mit Juan Manuel | |
| Santos, der von 2006 bis 2009 als Minister amtiert hat und nun diesen | |
| Sonntag zum Nachfolger Uribes gewählt werden dürfte? Den treffe keine | |
| Schuld, beteuert Franco: "Er hat diese Verbrechen beendet." | |
| Auch Christian Salazar-Volkmann, Leiter des UN-Menschenrechtsbüros, | |
| verweist auf die Reformbemühungen der Streitkräfte und sagt: "Santos hat | |
| als erster Minister den Militärs die Stirn geboten." Schon vor dem | |
| öffentlichen Skandal von Soacha seien die Hinrichtungen zurückgegangen, | |
| "auch weil sie militärtechnisch gar keinen Sinn machten". | |
| Tatsächlich sind seit Oktober 2008 fast keine neuen Fälle mehr bekannt. | |
| Zuvor hatten Menschenrechtler bereits jahrelang auf die Hinrichtungen | |
| hingewiesen. Aber die umstrittene Geheimdirektive von Santos' Vorgänger, | |
| die durch Belohnungen die Kriegslogik des "body count" befördert, blieb in | |
| Kraft. Hiernach werden Informationen, die zur Tötung eines "einfachen" | |
| Aufständischen führen, mit bis zu 2.000 Dollar bezahlt. | |
| Christian Salazar-Volkmann, der deutsche UN-Diplomat, berichtet außerdem | |
| von "systematischen Versuchen, die Prozesse gegen die Täter und ihre | |
| Hintermänner zu erschweren". Im Alston-Bericht wird die Straflosigkeit mit | |
| 98,5 Prozent beziffert. Wegen der Getöteten in Soacha waren schon 62 | |
| Soldaten in Untersuchungshaft, doch bis auf acht befinden sich alle wegen | |
| abgelaufener Fristen wieder auf freiem Fuß. | |
| "Niemand ist verurteilt, keine Familie entschädigt worden", sagt der | |
| Menschenrechtsanwalt Alberto Yepes. Dass Santos als Präsident ernsthaft | |
| gegen die Straflosigkeit vorgehen werde, hält er für unwahrscheinlich. | |
| Dagegen spräche bereits sein Vorschlag, den Generalstaatsanwalt künftig | |
| direkt vom Staatschef ernennen zu lassen und ihn diesem auch noch zu | |
| unterstellen. Und: "Die meisten dieser Fälle sind ja in Santos' Amtszeit | |
| als Verteidigungsminister passiert, warum sollte er da an Aufklärung | |
| interessiert sein?" | |
| Nicht locker lassen | |
| Auch im Wahlkampf waren die "falsos positivos" immer wieder Thema, doch | |
| Santos konnte das nichts anhaben: In Soacha gewann er bereits im ersten | |
| Wahlgang eine deutliche absolute Mehrheit. "Damit sie Zugang zu Gesundheit | |
| und Bildung haben, sind die Ärmsten auf das System der staatlichen | |
| Subventionen angewiesen", lautet die Erklärung von Alberto Yepes. | |
| "Wir wollen Juan Manuel Santos vor dem Internationalen Strafgerichtshof | |
| sehen", sagt María Sanabria, deren 22-jähriger Sohn ebenfalls im August | |
| 2008 tot aufgefunden wurde, "er trägt die Verantwortung für diese | |
| systematischen Mordfälle." | |
| Ende Mai richteten die 16 "Mütter von Soacha" einen entsprechenden Brief an | |
| den argentinischen Juristen Luis Moreno Ocampo, den Chefankläger des | |
| Strafgerichtshofs in Den Haag. | |
| Carmenza Gómez wird immer wieder bedroht, ebenso eine ihrer Töchter. Aber | |
| sie lässt nicht locker: "Ich will, dass die Mörder bestraft werden. Wenn | |
| mir etwas passiert, ist klar, warum." Als der Präsident die Mütter von | |
| Soacha vor Monaten empfing, blieb Gómez mit vier ihrer Leidensgenossinnen | |
| demonstrativ draußen. Sie sagt: "Uribe und Santos müssen büßen." | |
| 16 Jun 2010 | |
| ## AUTOREN | |
| Gerhard Dilger | |
| ## TAGS | |
| Kolumbien | |
| Kolumbien | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Kolumbiens Sonderjustiz für den Frieden: Die „Falsos Positivos“ klagen an | |
| In Kolumbien steht Ex-Armeechef Mario Montoya jetzt wegen der Ermordung von | |
| Zivilist:innen vor Gericht. Er hatte „Ströme von Blut“ gefordert. | |
| Doku-Serie über Narco-Netzwerk: Auf den Spuren des Unantastbaren | |
| In „Matarife“ möchte Journalist Daniel Mendoza Leal den mächtigsten Mann … | |
| Kolumbien enttarnen. Es ist niemand geringeres als Ex-Präsident Uribe. | |
| Stichwahl in Kolumbien: Kein Mitte-links-Bündnis | |
| Die Grünen schlagen die Unterstützung der Linken für die Stichwahl am 20. | |
| Juni aus und setzen auf eine "Koalition mit den Bürgern". Die | |
| Traditionspolitiker strömen zu dem Rechten Juan Manuel Santos. | |
| Präsidentschaftswahl in Kolumbien: Haushoher Sieg für die Rechte | |
| Bei der ersten Runde der Präsidentschaftswahl lässt Rechts-Kandidat Juan | |
| Manuel Santos seinen grünen Konkurrenten Antanas Mockus unerwartet klar | |
| hinter sich. | |
| Kommentar Wahl Kolumbien: Mockus muss Farbe bekennen | |
| Die Prognosen, die Grünen würden durch ihren originellen Wahlkampf auch | |
| Millionen Erst- und Neuwähler an die Urnen locken, haben sich nicht | |
| bewahrheitet. |