# taz.de -- Arbeitsgericht kippt Tarifeinheit: Sieg der kleinen Gewerkschaften | |
> Künftig können mehrere Tarifverträge im gleichen Unternehmen gelten. | |
> Arbeitgeber und DGB kritisieren den Richterspruch scharf. Mit dem Urteil | |
> ändert sich auch das Streikrecht. | |
Bild: Wer darf künftig alles für 30 Prozent mehr Lohn streiken? Hier wird der… | |
Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat das jahrzehntelang geltende Prinzip "Ein | |
Betrieb - ein Tarifvertrag" aufgegeben. Künftig können also im gleichen | |
Unternehmen mehrere Tarifverträge mit verschiedenen Gewerkschaften | |
nebeneinander gelten. Dies nützt vor allem kleinen Gewerkschaften wie der | |
Lokführer-Vereinigung GDL. Arbeitgeberverbände und DGB-Gewerkschaften | |
kritisierten das Urteil scharf. | |
Tarifeinheit bedeutet, dass es in einem Betrieb nur einen maßgeblichen | |
Tarifvertrag geben kann. Gelten soll jeweils der Vertrag, der dem Betrieb | |
sein "Gepräge" gibt. Faktisch schauten die Gerichte vor allem, welche | |
Gewerkschaft im Konkurrenzfall die meisten Mitglieder im Betrieb | |
organisiert hatte. Die Tarifeinheit wurde vom Bundesarbeitsgericht 1957 aus | |
praktischen Gründen "erfunden", um das Tarifgeschehen übersichtlich zu | |
halten. | |
Viele Arbeitsrechtler haben das Prinzip der Tarifeinheit schon lange | |
kritisiert. Schließlich garantiert das Grundgesetz jedem Bürger, sich zur | |
Gestaltung der Arbeitsbeziehungen mit anderen in einer Gewerkschaft | |
zusammenzuschließen. Eine Bevorzugung der großen DGB-Gewerkschaften ist | |
dort nicht vorgesehen. | |
Die Änderung der Rechtsprechung war abzusehen. Bereits im Januar hatte der | |
4. BAG-Senat die neue Linie angekündigt. Zuvor musste er jedoch den 10. | |
BAG-Senat um Erlaubnis fragen, weil dieser noch 2006 an der Tarifeinheit | |
festgehalten hatte. Gestern kam nun das grüne Licht vom 10. Senat. Damit | |
hat die Tarifeinheit im Arbeitsrecht vorläufig ausgedient. | |
Die Richter begründen ihren Schritt mit dem Tarifvertragsgesetz. Dort sei | |
die Tarifeinheit nicht vorgeschrieben und es gebe auch keine Lücke, die von | |
der Rechtsprechung zu füllen wäre. Faktisch erklären sie damit ihre eigene | |
über fünfzigjährige Rechtsprechung für falsch. | |
Im konkreten Fall hatte ein Arzt geklagt, der der Ärztegewerkschaft | |
Marburger Bund angehört. Er forderte im Jahr 2005 Urlaubszuschläge ein, die | |
ihm nach einem Tarifvertrag zustanden, den der Marburger Bund mit | |
ausgehandelt hatte. Der Arbeitgeber hielt ihm entgegen, dass es inzwischen | |
einen Tarifvertrag mit der Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di gebe, der den | |
Vertrag des Marburger Bundes verdränge. Nun gilt also für die im Marburger | |
Bund organisierten Ärzte dessen Tarifvertrag weiter, während für die von | |
Ver.di organisierten Krankenschwestern und -pfleger der Ver.di-Tarifvertrag | |
Anwendung findet. Die nichtorganisierten Beschäftigen sind wie bisher auf | |
das Wohlwollen des Arbeitgebers angewiesen. | |
Auswirkungen hat die neue Linie auch auf das Streikrecht. So wurde zum | |
Beispiel der GDL mehrfach von Gerichten das Recht abgesprochen, für einen | |
eigenen Tarifvertrag zu streiken. Weil ein GDL-Tarifvertrag ohnehin vom | |
Tarifvertrag der DGB-Gewerkschaft Transnet verdrängt würde, sei ein | |
GDL-Streik schon im Ansatz rechtswidrig, hieß es. Beim letzten Arbeitskampf | |
der Lokführer 2007 durfte die GDL am Ende dann aber doch für einen eigenen | |
Tarifvertrag streiken, entschied damals das Landesarbeitsgericht Chemnitz. | |
Erst müsse ja mal ein Tarifvertrag vorliegen, um zu sehen, ob er spezieller | |
ist als ein anderer Vertrag. Solche Winkelzüge sind jetzt nicht mehr nötig, | |
wenn das Prinzip der Tarifeinheit nicht mehr gilt. | |
Die DGB-Gewerkschaften fürchten aber, dass sich dann immer mehr besonders | |
streikfähige Gruppen wie Lokführer, Piloten oder Ärzte aus der | |
Tarifsolidarität verabschieden und ihre Streikmacht nur noch für eigene | |
Interessen einsetzen. Und die Arbeitgeber argwöhnen, dass es ohne | |
Tarifeinheit viel mehr Streiks gebe, weil ständig irgendein Tarifvertrag | |
ausläuft und dann jede Kleingruppe für ihren jeweils neuen Vertrag kämpft. | |
Arbeitgeber und Gewerkschaften schlagen deshalb vor, das Prinzip der | |
Tarifeinheit jetzt ausdrücklich im Gesetz festzuschreiben. Damit würde die | |
neue Linie des BAG ausgehebelt. Es ist aber zweifelhaft, ob ein derartiges | |
Gesetz verfassungskonform wäre. Inzwischen sagt sogar das | |
Bundesarbeitsgericht, dass eine staatliche Pflicht zur Tarifeinheit gegen | |
das Grundgesetz verstoße, weil es die Arbeit kleiner Gewerkschaften | |
behindere. | |
24 Jun 2010 | |
## AUTOREN | |
Christian Rath | |
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